Die vegetarische Diät.

Kritik ihrer Anwendung für Gesunde und Kranke.

Von

Dr. med. Albert Albu,

Privatdocent an der Universität Berlin.

Leipzig

Verlag von Georg Thieme

1902.

 


Dies Buch zeigt, wie wir Vegetarier bzw. Veganer manchmal gesehen werden.

Die Kritik des Buches ist meistens falsch, unlogisch, unfair und polemisch.

Zum Teil sind seine Formulierungen und Behauptungen beleidigent. Hiermit disqualifiziert er sich selber.

Ich distanziere mich ausdrücklich von dem Inhalt dieses Buches!

Aus historischen Gründen ist es aber interessant zu lesen. Deshalb ist es auf meiner Seite.

© 2002, Internet-Version, Norbert Moch, Kleiststraße 9, 30163 Hannover, www.NorbertMoch.de, mail@NorbertMoch.de


Inhaltsverzeichnis.

Seite

Einleitung

I. Teil.

1. Zur Geschichte des Vegetarismus
2. Die vegetarische Litteratur
3. Begriff und Definition des Vegetarismus
4. Die Vegetarier
Die Beweismittel des Vegetarismus.
5. Vergleichende Anatomie, Entwicklungsgeschichte, Urgeschichtsforschung und Ethnologie
6. Physiologie
7. Hygiene
8. Ästhetik
9. Ethik
10. Volkswirtschaft
11. Religion

II. Teil.

Der Wert der vegetarischen Diät für die Krankenernährung
Schluss
Litteratur


Einleitung.

„Die Bestrebungen der Vegetarianer sind vielfachen Angriffen ausgesetzt gewesen. Man hat es natürlich auch nicht unterlassen, sie mit Hohn und Spott zu überschütten — zu lachen ist ja leichter, als zu denken! — eine wissenschaftliche "Widerlegung ihrer Lehre ist bisher ebensowenig versucht worden, wie eine wissenschaftliche Begründung derselben."

G. v. Bunge (1901).

Die eine dieser Lücken auszufüllen, ist der Zweck des ersten Teiles dieses Buches: er soll eine wissenschaftliche Widerlegung der Lehre vom Vegetarismus bringen. Die zweite Lücke aber, der Mangel einer wissenschaftlichen Begründung dieser Lehre, ist nur eine vermeintliche. Dass sie von Männern der Wissenschaft empfunden wird, beweist, wie wenig sie die vegetarische Litteratur kennen, wie wenig sie dem Gedankengange der Vegetarianer gefolgt sind und zu folgen sich die Mühe gegeben haben. Ohne Kenntnis und Würdigung der wissenschaftlichen Begründung des Vegetarismus lässt sich aber auch eine wissenschaftliche Widerlegung desselben nicht geben, und darum fehlt sie eben bis auf diesen Tag.

Die Versuche einer wissenschaftlichen Begründung des Vegetarismus sind von gelehrten und halbgelehrten Laien und zuweilen auch von Ärzten gewagt worden, die in ihren Anschauungen abseits von den Wegen der wissenschaftlichen Heilkunde gestanden haben. Die Mediziner täuschen sich vielfach darüber, wieweit die Überzeugungskraft dieser Versuche in die grossen Massen des Volkes gedrungen ist. Ein Teil derselben findet wegen des Ernstes ihrer Durchführung immer den Weg zu den Ohren selbst hochintelligenter und gebildeter Menschen, namentlich wenn diese im Krankheitsfalle nicht schnelle Heilung durch die wissenschaftliche Heilkunde haben finden können. Die ernste und gediegene vegetarische Litteratur, die allein für die wissenschaftliche Begründung des Vegetarismus in Betracht kommen kann, ist ausserordentlich spärlich. Andererseits wird aber auch die Frage des Vegetarismus in der medizinischen Fachlitteratur selten ernsthaft, gewissenhaft und gründlich abgehandelt. Dieser Thatsache hat Bunge in seinem oben angeführten Citat einen lebhaft empfundenen Ausdruck gegeben. Das empfindet jeder, der sich die Mühe giebt, etwas tiefer in das Studium dieser interessanten Frage einzudringen. Nicht angreifen, sondern widerlegen sollen wir die Vegetarianer! Nicht mit geistreichen Redefloskeln, satyrischen Witzen oder gar absprechenden Schimpfworten weist man die Unrichtigkeit einer Lehre nach, sondern durch sachliche Vertiefung, gerechte Würdigung und kritische, sorgfältige Analyse der Behauptungen und Einwendungen der Gegner. Die Oberflächlichkeit des Urteils, das so oft den Vegetariern mit Recht zum Vorwurf gemacht wird, findet sich leider nicht minder in einer grossen Zahl fachmännischer Schriften, die sich mit der Erörterung dieser Frage beschäftigt haben. Vielfach geschieht dies überhaupt nur kurz und flüchtig, weil man eine eingehendere Besprechung dieser Materie für ganz überflüssig erachtet. Auf einen grossen Teil der Beweggründe und Beweismittel des Vegetarismus sind die wissenschaftlichen Gegner überhaupt nicht eingegangen, eine Reihe von anderen Argumenten haben sie nur aus dem Gesichtswinkel ihrer eigenen Weltanschauung betrachtet. Man verurteilt die vegetarische Idee zum grossen Teil nicht, weil sie falsch ist, sondern weil sie nicht unter den Strahlen der Sonne der Wissenschaft gereift ist! „Die Fachleute pflegen nur seltener ein feines Gehör für andere als hergebrachte Schulweisheit sich zu bewahren", sagt Eduard Baltzer nicht ohne Berechtigung.

Gerade von Medizinern hört man oft in Wort und Schrift vom Vegetarismus sprechen, als handle es sich längst um eine Res judicata, die zu erörtern wissenschaftlich gar keine Veranlassung mehr vorläge. Nein, adhuc sub judice lis est! Das beweist ja nicht nur die als beredtes Zeugnis sprechende Thatsache, dass die Erörterung des Vegetarismus selbst unter ihren Gegnern nicht zur Ruhe kommen will — haben doch Männer von solch hervorragender Stellung in der wissenschaftlichen Welt unserer Zeit wie Bunge und Hueppe es noch neuerdings wieder für nötig erachtet, sich zur Sache zu äussern und gerade die letzten Jahre haben noch sehr wertvolles neues wissenschaftliches Material zur Beurteilung der Streitfrage in verschiedener Richtung beigebracht! —, sondern das beweist noch in viel höherem Masse die unleugbare Thatsache, dass der Vegetarismus eine lebendige Bewegung ist, die in breiten Massen des Volkes in Fluss ist.

Beweist nicht das zähe Leben dieser Bewegung, die so alt ist wie die Geschichte der Menschheit, besser als alle akademischen Erörterungen, dass ein Körnchen Wahrheit, ein berechtigter Kern wenigstens in diesen Bestrebungen sein muss? Dass diese Bewegung einen tief liegenden inneren Grund haben muss, über den die wissenschaftliche Forschung nicht hinwegsehen darf, den zu ermitteln vielmehr eine ihrer würdige ernste Aufgabe mir zu sein scheint ? Kann der Wert einer Idee ganz geleugnet werden, welcher sich die Weltweisen aller Zeiten von Pythagoras bis Tolstoi zu eigen gemacht haben?

Die Gegner des Vegetarismus übersehen fast durchgehends, dass diese Lehre ja nicht nur ein Problem von hervorragendem theoretischen Interesse ist, dass sie nicht nur die Bedeutung lediglich einer Ernährungsfrage hat, sondern auch von grosser praktischer Bedeutung für Volkswirtschaft und Sozialhygiene ist und schliesslich auch der Ausdruck einer ethischen Bewegung, welche von den Zeiten der alten Ägypter bis auf unsere Tage immer wieder von neuem sich in den Vordergrund des öffentlichen Lebens gedrängt hat, und zwar als eine nicht unbegründete Reactionserscheinung gegen zeitweilig vorausgegangene sittliche und gesundheitliche Verirrungen und Verfehlungen des Menschengeschlechts.

Die vegetarische Lebensweise ist nicht etwa nur, wie Unwissende oft glauben machen wollen, der Ausfluss der Schrullen einzelner verdrehter Individuen, sondern vielfach die Wirkung geographischer und klimatischer, wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse sowohl einzelner breiter Bevölkerungsschichten, wie ganzer Völker. Eine Würdigung und Kritik des Vegetarismus kann deshalb nicht vom ausschliesslich medizinischen Gesichtspunkte aus geschehen, sondern muss eine viel umfassendere Umschau zur Voraussetzung haben. Der Mediziner, der sich mit der Frage der Volksernährung beschäftigen will, muss auch die Grundsätze der Nationalökonomie und der Gesellschaftsordnung überhaupt mit in den Kreis seiner Erwägungen ziehen. Auf eine solche breitere Basis habe ich meine folgenden Erörterungen zu stellen gesucht, weil ich das für notwendig erkannte, um das in Rede stehende wissenschaftlich-praktische Problem einer gerechten Kritik unterziehen zu können.

Seitdem im Jahre 1889 durch die Inauguraldissertation meines Berliner Studiengenossen Karl Peters mein Interesse für die Frage des Vegetarismus erweckt war, habe ich nicht aufgehört, dieselbe mit regstem Eifer zu verfolgen. Nächst einem gründlichen Studium der vegetarischen Litteratur von den ältesten bis auf die jüngste Zeit und den Schriften ihrer Gegner habe ich es mir angelegen sein lassen, auch in die Psychologie der Vegetarier selbst nach Möglichkeit einzudringen und die praktische Gestaltung ihrer Lebensweise aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen habe ich in den folgenden Blättern niedergelegt. Niemandem zu Lieb und niemandem zu Leide, nur um der Wahrheit zu dienen, sind sie geschrieben! Wenn sie dazu beitragen, bei Freund und Feind des Vegetarismus mehr Kenntnisse über die Thatsachen dieser Lehre zu verbreiten, so wird der Zweck dieses Büchleins erfüllt sein.

„Si quid novisti rectius istis, candidus imperti; si non, his utere mecum." (Horaz, Episteln.)

Der Inhalt des zweiten Teiles dieses Buches ist fast noch vollkommenes Brachfeld für die wissenschaftliche Heilkunde. Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass meine Mitteilungen dazu beitragen werden, diesen Acker besser zu bestellen, damit er die Früchte trage, deren Keime er bisher unverwertet birgt.


I. Teil.

1. Zur Geschichte des Vegetarismus.

Den Vegetarismus zu einer Lehrmeinung und einer besonderen Lebensauffassung gemacht zu haben, ist der geistigen Reife des 19. Jahrhunderts vorbehalten geblieben. Das Problem an sich ist uralt, vielleicht so alt wie die Menschheit. Wie ein roter Faden, der nur hier und da unterbrochen ist, lässt es sich durch die ganze Geschichte des Menschengeschlechts hindurch verfolgen. Die Vegetarier haben mit vielem Eifer und scharfem Spürsinn die Weltlitteratur durchstöbert bis auf die ältesten schriftlichen Aufzeichnungen von Menschenhand, um Belege für ihre Theorie aus dem Leben aller Zeiten und Völker zu sammeln. Wo nur eine Zeile eine entfernte Deutung in ihrem Sinne gestattete, da haben sie den Namen ihres Urhebers zur Staffage ihrer eigenen Litteratur herangezogen. Besonders darin hervorgethan hat sich Gleïzès, dessen „Thalysia" noch heute als ein Standardwerk der Vegetarierlitteratur gilt. Was hat dieser vielbelesene Mann aus der Weltgeschichte alles herausgelesen und in sie hineingeheimnisst! Danach hätte es im Altertum wie in der Neuzeit überhaupt kaum einen Menschen gegeben, dessen Name auf die Nachwelt gekommen ist, den nicht die Vegetarier als einen der ihrigen für sich in Anspruch nehmen könnten: Brahma und Zarathustra, Buddha und Mohamed, Hesiod und Homer, Heraklit und Demokrit, Aristides und Epaminondas, Pythagoras, Sokrates und Plato, Diogenes, Zeno und Epikur, Numa Pompilius, der gestrenge Cato, Plautus der Komödiendichter, Virgil und Ovid, Seneca und Apollonius von Thyana, Plutarch und Porphyrius — dann nach einer langen zeitlichen Pause die grossen Schriftsteller des späten Mittelalters Milton, Bossuet und Fénélon, Leibniz und Montesqieu und auf dem Übergange zur Neuzeit Voltaire und Jean Jacques Rousseau, Benjamin Franklin, Cuvier und Lamartine, Byron und Shelley, I. Newton (den viele Vegetarier mit dem berühmten, im 17. Jahrhundert lebenden Naturforscher Isaac Newton verwechseln) und viele andere — sie alle, alle, der Menschheit höchste Zierden, die Bahnbrecher ihrer geistigen Entwicklung, die Heroen ihrer Kultur!

Ohne Zweifel ist Gleïzès ein Mann von Bildung und Gemüt gewesen, aber seine Methode der Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung erinnert stark an die Logik der Märchen und Fabeln, mit der man an die Glaubensseligkeit der Kinder appelliert. Leider macht es die Mehrzahl der enragierten Vegetarier nicht besser, als Gleïzès. Wenn man jeden berühmten Mann zu den Vegetariern zählen will, der einmal moralische Gewissensbisse über das Tiertöten empfunden, oder das Schlemmen und Prassen in fleischlichen und „geistigen" Genüssen gebrandmarkt, oder selbst einmal kürzere oder längere Zeit aus irgend welchem Grunde der Fleischnahrung entsagt hat oder hat entsagen müssen — dann würde sich die oben aufgeführte stattliche Reihe bei fleissigem Nachsuchen noch erheblich vermehren lassen. Vor der historischen Kritik können aber als Fürsprecher des Vegetarismus nur diejenigen gelten, welche das Prinzip dieser Lehre zielbewusst vertreten haben.

Wenn nicht früher, so fangen die Vegetarier in der Darstellung der historischen Entwicklung ihrer Lehre in der Regel mit — Achilleus an, von anderen Heroen der Mythologie wie Orpheus und Hippolytos ganz zu schweigen!

Ihr Heiliger ist vor allem aber Pythagoras. Da er selbst bekanntlich nichts Schriftliches hinterlassen hat, so berufen sie sich wie bei vielen anderen, so auch bei ihm auf die vielfach recht zweifelhaften, auf mündlicher Überlieferung beruhenden litterarischen Fragmente seiner Schüler und die Mitteilungen späterer Schriftsteller, welche jene Gerüchte zu Papier gebracht haben, vor allem Plutarch und später noch eingehender Porphyrius in seiner Biographie des Weisen von Samos.

Die kritische Analsye der Lehren des Pythagoras hat längst widerlegt, dass der griechische Weise die Grundsätze des Vegetarismus im Sinne einer rein pflanzlichen Ernährungsweise vertreten hätte. Am eingehendsten mit der Widerlegung dieses noch immer weitverbreiteten und von den Vegetariern mit gutem Grund genährten Irrtums hat sich Antonio Cocchi, Professor der Medizin an der Universität Pisa, beschäftigt, aus dessen höchst interessantem, geistvoll geschriebenem Werke (in französischer Übersetzung: Du regime Pythagorien, Genf 1750) ich folgende lehrreiche Stellen wiedergebe:

„Alle Schriftsteller der Alten versichern, dass Pythagoras seihst ass und anderen zu essen riet von Zeit zu Zeit ohne Bedenken Huhn, Ziegen, Spanferkel, junges Kalb, Fisch und ähnliches mehr, und er hatte keinen Widerwillen, wie man allgemein geglaubt hat, weder gegen die Bohnen, noch gegen irgend ein anderes Gemüse. Er verbot das Wildbret und den grössten Teil der Fische und von allen Tieren die inneren Eingeweide und die Drüsen, weil er sie für — ungesund hielt. Wenn man über diese Ansichten des Pythagoras vielfach Widersprüche unter verschiedenen angesehenen Kommentatoren findet, so kann man diese sehr gut miteinander aussöhnen, wenn man annimmt, dass Pythagoras alles verworfen hat, was trocken und hart ist, indem er sich von zarten und frischen Gemüsen und zuweilen noch vom Fleisch junger und gesunder Tiere nährte und gelegentlich dabei selbst einen guten Tropfen Weines nicht verschmähte, wenngleich er davon nur ausnahmsweise Gebrauch machte. Wenn man mit Aufmerksamkeit und Kritik alles prüft, was in einer grossen Zahl von Büchern über diese Lehre des Pythagoras verbreitet ist, so wird man erkennen, dass das einzige Ziel des grossen Philosophen war: die Krankheiten zu verhüten, die Aufschwemmung des Körpers durch Übermass der Nahrung, die Schwerfälligkeit des Geistes und die Abstumpfung der Sinne hintenan zu halten."

Weiterhin weist Cocchi nach, dass das berühmt gewordene Verbot der Bohnen, das sich doch gewiss nicht mit den Grundsätzen einer vegetarischen Lebensweise verträgt, nur allegorische, symbolische Bedeutung gehabt haben kann. Ich möchte dazu ergänzend noch die Vermutung äussern, dass diesem Verbot der Bohnen eine totemistische Vorstellung zu Grunde lag, wie noch heute bei allen Naturvölkern aus einem solchen Ideengange heraus gewisse Pflanzen ihnen heilig sind und darum nicht genossen werden dürfen. Sicherlich war das Bohnenverbot von Pythagoras, wie vieles andere in seinen Lebensvorschriften, nicht rationeller Gründe wegen aufgenommen worden, sondern nur um seinem Regime, das er aus taktischen Gründen für notwendig erachtete, ein bestimmtes, leicht zu erkennendes Gepräge zu geben.

Um dem Verbot, Fleisch zu essen, Nachdruck zu verschaffen, wusste auch dieser kluge und erfahrene Menschenkenner es mit einem gewichtigen Grunde zu rechtfertigen: mit der Seelenwanderung bei den Tieren, eine Lehre, die er mit den Grundsätzen fleischloser Ernährung gleichzeitig aus Ägypten mit herüber gebracht hatte. Aber diese Lehre, sagt Cocchi, war für Pythagoras nur ein Vorwand zum Fleischverbot. Sein wahrer Grund dafür war:

„Pythagoras voulait accoutumer les hommes à se nourrir de choses qu'ils pussent se procurer aisément, qui se trouvassent par tout, et qui n'eussent que peu on point du tout besoin de feu pour leur préparation, ce qui, joint à l'eau pure qui devait faire leur boisson, formait un régime, d'où nait la santé du corps et la vivacité de l'esprit."

Das ist die Resignation, in die jede Religionsphilosophie, jede asketische Ethik ausklingt! Und damit kommen wir auf den Kern des Wesens und der Bedeutung der pythagoräischen Lebensweise.

Alle neueren Philologen und Geschichtsforscher stimmen darin überein, dass Pythagoras nicht nur ein wissenschaftlicher Forscher, Philosoph und Politiker war, sondern vor allem ein religiöser Sektenstifter, wie wir das bei den Weisen des Altertums fast regelmässig sehen. Die Lebensweisheit des Pythagoras gipfelte vor mehr als 2000 Jahren, wie diejenige Tolstoi's in unseren Tagen, in der Lehre, dass der Mensch nach einem einfachen und guten Leben zu streben habe. Der sich in seinen Ansprüchen selbst bescheidende Philosoph glaubt auch für die anderen dieses Ziel erreichbar, wenn sie auch in ihrer Ernährung möglichste Einfachheit zur Geltung kommen lassen. Dazu gehört; aber vor allem die Befreiung von dem Zwange einer verfeinerten oder selbst raffinierten Kochkunst, welche die Menschen allzusehr an die Freuden des Gaumenkitzels und sinnlicher Gelüste überhaupt gewöhnt hat. Wie wenig Pythagoras das Tier an sich heilig und unantastbar galt, wie wenig ihm der Tiermord um jeden Preis als sittlich verboten erschien, das geht doch zur Evidenz aus seinem berühmten Hekatombenopfer hervor, das er den Göttern bei Entdeckung seines bekannten Lehrsatzes brachte, so dass der satyrische Börne nicht mit Unrecht spottete, dass seitdem alle Ochsen bei Entdeckung einer neuen Wahrheit zittern.

Auf ein solch religiös-ethisches Motiv ist ohne Zweifel der Ursprung aller vegetarischen Lebensregeln in den grauen Vorzeiten des Altertums zurückzuführen. Wer mit Kritik die Geschichte des Werdeganges der Kulturmenschheit zu lesen versteht, wird Entstehung und Bedeutung dieser Ernährungsvorschriften allenthalben nur vom religions-philosophischen Standpunkte aus verständlich und hinreichend erklärt finden. All die grossen Weisen früherer Kulturepochen, welche scheinbar das Prinzip des Vegetarismus auf ihre Fahne geschrieben haben, sind Religionsstifter gewesen, Begründer reformatorischer Sekten und Vertreter asketischer Weltanschauung. Jeder neu auftretende Heiland hat als Grundlage zur Erlangung menschlicher Glückseligkeit die Entsagung gepredigt, die Enthaltung von dem Genuss sinnlicher Freuden, die Beschränkung der Bedürfnisse des Lebens auf das geringste Mass des Nötigen, die Rückkehr zur Einfachheit der Natur in allen Verhältnissen des Lebens. Deshalb erstrecken sich die Vorschriften über die Lebensweise bei all diesen Weisen auch auf die Ernährung, und in dieser Hinsicht fordern sie dem Geiste ihrer Lehre entsprechend Bescheidenheit und Einfachheit, Massigkeit in Speise und Trank.

Der Vegetarismus als die einfachste Form menschlicher Ernährungsweise, als eine Form asketischer Abstinenz, wurzelt tief in religiös-ethischen Anschauungen aller Zeiten und Völker.

Die Kulturgeschichte der Menschheit lehrt, dass, je tiefer eine Religion sittlich steht, einen um so grösseren Raum die Askese in ihr einnimmt. Mit der Entwicklung der Religionen ist sie denn auch immer mehr in der Geschichte derselben zurückgetreten, doch sehen wir noch heute zahlreiche Überbleibsel davon, weil die Menschheit sich noch nirgends zu einer so vollkommenen Sittlichkeit aufgeschwungen hat, dass sie einer dogmatischen Religion entraten könnte, dass sie freien Geistes und von der Sinnlichkeit nicht beeinflusst in allen Lagen des Lebens die Herrschaft über sich selbst zu gewinnen imstande wäre. So kann es denn garnicht Wunder nehmen, dass sich z. B. sowohl im Christentum wie im Judentum noch heute auch über Beschränkungen der Ernährung Vorschriften finden, die nicht anders denn als asketischen Zwecken dienend aufgefasst werden können. Die Speisegesetze der Juden tragen, soweit sie nicht bewusst oder unbewusst gesundheitlichen Zwecken dienen, den ausgesprochenen Charakter einer beabsichtigten Mässigung in Essen und Trinken, die zu besonders deutlichem Ausdruck in den Tagen des Passahfestes kommt, wo es den Juden verboten ist, etwas anderes als ausschliesslich ungesäuertes Brot zu essen, und ihren Gipfelpunkt in dem Gebote des Fastens am heiligen Versöhnungsfeste findet. Und das Christentum, obwohl es eigentlich seiner ganzen sittlichen Tendenz nach der Askese widerstrebt, hat oftmals religiöse Vorschriften gezeitigt von ausgesprochen asketischem Charakter, am stärksten in der römisch-katholischen Kirche, die z. B. das Fleischessen am Freitag verbietet; aber selbst in der evangelischen Kirche hat, wo irgend sich reformatorische Sekten aufgethan haben, stets eine strengere asketische Richtung dieselbe gerade besonders ausgezeichnet, die sich denn auch auf Enthaltsamkeit im Essen und Trinken erstreckte. Das krasseste Beispiel einer aus Askese bedingten vegetarischen Ernährung bieten die Trappisten dar, die Brüder jenes berühmten Mönchsordens, die auch in ihrer sonstigen Lebensweisheit das vegetarische Ideal naturgemässer Einfachheit wohl erreicht haben dürften!

Sind die einen auf dem Wege der Religion zur Askese gelangt, so die ändern durch die Philosophie. Allen voran leuchtet hier Diogenes von Sinope, der hervorragendste Vertreter jener Schule der Cyniker, die in Verachtung alles Menschlichen zur absoluten Bedürfnislosigkeit und zur Verzichtleistung auf alle irdischen Güter gelangt war.

Da die Menschheit seit Diogenes noch nicht besser, sondern mit der Entwickelung der Kultur das Raffinement der Lebenskunst eher immer grösser geworden ist, so sind seitdem auch immer wieder neue Sittenprediger erstanden, die auf gleichem oder ähnlichem Gedankenwege zu denselben Forderungen für ein sittliches Leben gelangt sind.

Es ist kennzeichnend und für die hier vertretene Auffassung beweisend, dass die mit dem Vegetarismus sich scheinbar deckenden Bestrebungen nach Vereinfachung der Ernährungsweise im verstärkten Masse wieder hervortraten im Zeitalter des Augustinischen Roms, wo die Menschheit auf der Höhe der errungenen äusseren Macht wieder einmal vom Genuss übersättigt war. Was Wunder, dass ein von so tiefem sittlichen Gefühl beseelter Mann, wie Seneca, von Ekel über diese Ausschweifung in allen Lebensgewohnheiten ergriffen, die Menschen sich kasteien hiess zum Zeichen der Busse und Umkehr. Sein Lob vegetarischer Lebens- und Ernährungsweise ist nichts anderes, denn eine Reaktion gegen die auch auf die Ernährung sich erstreckende allgemeine Sittenverderbnis seiner Zeit.

Das über Rom hereinbrechende reckenhafte Germanentum fegte alle diese Anschauungen einer überfeinerten, morsch gewordenen Kultur wie ein Windstoss die welken Blätter hinweg, und mit ihnen verschwindet auch der Vegetarismus in jeglicher Form von der Bildfläche der Geschichte für länger als ein Jahrtausend!

Die erste Spur dieser Bestrebungen tritt erst wieder hervor, als auf der Kulturhöhe der Renaissance ein neuer Sittenverfall sich geltend zu machen anfing, der seinen Gipfelpunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich erreichte, dem vorgeschrittensten und ältesten Kulturlande des neuen Europa. Von dorther erscholl von neuem gebieterisch der Ruf: Zurück zur Natur! aus dem Munde eines Mannes, der selbst das getreueste Spiegelbild seiner entnervten Zeit war: Jean Jacques Rousseau. Was war dieser Dichterphilosoph anders als ein grösser Socialreformator, der die Verkünstelung und Verkrüppelung aller gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit scharf erkannt hatte und von der Sucht nach einer gänzlichen Umgestaltung des Lebens, nach Verbesserung und Vervollkommnung der Sitten und Anschauungen beseelt, die Menschheit in einen natürlichen Zustand gemeinschaftlichen Lebens zurückführen wollte?! Auch Rousseau's Rückkehr zur Natur, die übrigens nicht als eine Sehnsucht nach den primitiven Lebensverhältnissen unkultivirter Völkerschaften von ihm gedacht war, hatte kein anderes Prinzip, als das Streben nach Vereinfachung der Lebensweise, der gesamten Lebensauffassung, nach Mässigung in allen Lebenslagen und Lebensgewohnheiten. Darum redete er weniger praktisch als theoretisch einer einfachen Pflanzenkost das Wort, welche die Sinne der Menschen weniger erhitze, als die verfeinerte Kochkunst vielgestaltiger Fleischspeisen.

Während in Frankreich die grosse Revolution den überhitzten Gemütern gewaltsam Luft verschaffte, vollzog sich in dem geistigen Antipodenlande jenseits des Kanals die Reaction gegen den herrschenden Dämon sinnlicher Gelüste in allen Lebensverhältnissen in viel ruhigeren Bahnen und in weit beschränkterem Umfang. Dort entstand gerade um die Jahrhundertswende eine Bewegung zu gunsten einer Umänderung der allgemeinen Lebensweise, die vor allem in einer Ernährungsform gipfelte. I. Newton schrieb 1801 seine Schrift „Retourn to the nature", welche den Beginn der neuzeitlichen Periode des Vegetarismus kennzeichnet, in der er sich überhaupt erst zu einer eigenen selbstständigen Lehre ausgewachsen hat.

Seitdem ist diese Bewegung nicht mehr von der Bildfläche des modernen Kulturlebens verschwunden. Ein volles Jahrhundert ist sie jetzt gerade unter fast allen Kulturvölkern der modernen Welt im Schwünge, und heute noch sind ihre treibende Kraft und die charakteristischen Züge ihres innersten Wesens genau dieselben, nicht nur wie vor 100 Jahren, sondern auch wie vor 2000 Jahren und mehr: es ist der ethische Grundgedanke im Vegetarismus, der ihm diese Fähigkeit im Leben der Völker und Zeiten gegeben hat!

Nichts beweist das besser, als die Thatsache, dass in unserer Zeit hochpotenzierter geistiger Energie der Vegetarismus von seinen besten Vertretern genau in derselben Weise begründet wird, wie es einst von Brahma und Zarathustra, Pythagoras und Sokrates, Ovid und Seneca, Apollonius von Thyana, Plutarch und Porphyrius thaten. Als sittliches Grundgesetz postuliert auch Graf Leo Tolstoi den Vegetarismus: ein Mann von seltener Vielseitigkeit, geistiger Fassungs- und Schaffenskraft, Dichter und Philosoph, Politiker und Sozialreformator zu gleicher Zeit, vielleicht der radikalste Denker des 19. Jahrhunderts, den die einen heute noch als einen Halbverrückten verspotten und verhöhnen, die anderen als einen neuen Messias verehren, auf den spätere Generationen, denen seine Persönlichkeit aus dem Auge gerückt ist, wahrscheinlich einmal mit derselben Bewunderung blicken werden, wie wir heute auf Zarathustra und Pythagoras. Dieselbe Genese der Gedanken, wie bei allen Religionsstiftern, finden wir auch bei diesem Sittenprediger unserer Zeit. In einer kleinen, im allgemeinen wenig bekannten Schrift, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die erste Stufe" im Jahre 1892 erschienen ist, giebt Tolstoi seinen Ansichten über diesen Gegenstand mit folgenden Worten Ausdruck: „Ich wollte nur sagen, dass zu einem guten Leben eine bestimmte Reihenfolge guter Handlungen notwendig ist; dass, wenn der Mensch ernstlich nach einem guten Leben trachtet, er unvermeidlich eine bestimmte Ordnung einhalten muss, und dass in dieser Ordnungsreihe die erste Tugend, die er erstreben muss, die Enthaltsamkeit, die Selbstbeherrschung ist. Der Mensch, der nach Enthaltsamkeit trachtet, wird daher unvermeidlich ebenfalls eine bestimmte Ordnung einhalten müssen, und das erste Glied derselben ist Enthaltsamkeit im Essen, ist Fasten. Wenn er aber fastet, und ernstlich und eifrig danach strebt, ein gutes Leben zu führen, so muss er sich vor allem der tierischen Speise enthalten, denn abgesehen von der Erregung der Leidenschaften, die durch diese Speise hervorgerufen wird, ist der Genuss derselben auch entschieden unsittlich, denn sie setzt eine dem sittlichen Gefühl widerstrebende Handlung — die Tötung — voraus und das Verlangen danach wird nur durch Gier und Gaumenkitzel hervorgerufen. Weshalb nun gerade die Entsagung von Fleischspeisen als erste That des Fastens und eines sittlichen Lebens betrachtet werden muss, ist nicht nur von einem Menschen, sondern von der ganzen Menschheit durch ihre besten Repräsentanten, im Laufe der ganzen, bewussten Lebensdauer des Menschengeschlechts, vortrefflich geschildert worden. Weshalb sind aber bisher die Menschen noch immer nicht zur Erkenntnis dieses Gesetzes gekommen, wenn es doch der Menschheit schon solange bekannt ist? werden diejenigen fragen, die gewohnt sind, sich nicht von der eigenen Vernunft leiten zu lassen, sondern die sich mehr nach der allgemeinen Meinung richten. Die Antwort auf diese Frage besteht darin, dass die ganze sittliche Bewegung der Menschheit, die die Grundlage eines jeden Fortschritts bildet, stets langsam vor sich geht; dass aber das Zeichen einer wirklichen, nicht bloss zufälligen Bewegung, deren Kontinuität und fortwährende Beschleunigung ist. Die Bewegung des Vegetarianismus ist aber eine kontinuierliche. Sie ist in allen Gedanken der Schriftsteller ausgedrückt, die darüber geschrieben haben, und auch im Leben selbst, das, unbewusst, je weiter desto mehr, vom Fleischessen zur Pflanzennahrung übergeht; und bewusst, — in der mit ganz besonderer Macht hervortretenden Bewegung des Vegetarismus, der immer grössere Ausdehnung gewinnt. Seit zehn Jahren geht diese Bewegung in stets beschleunigterem Tempo vorwärts, mit jedem Jahr erscheinen mehr Bücher und Zeitschriften, die diesen Gegenstand behandeln; man trifft immer mehr Menschen, die sich von der Fleischspeise lossagen, und im Auslande, besonders in Deutschland, England und Amerika vermehrt sich die Zahl der vegetarischen Gast- und Wirtshäuser alljährlich. Diese Bewegung muss besonders für diejenigen erfreulich sein, die nach Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden trachten; nicht deshalb, weil der Vegetarismus ein wichtiger Schritt nach dieser Richtung ist (alle wirklichen Schritte sind wichtig und nicht wichtig), sondern deshalb, weil diese Bewegung ein Zeichen ist, dass das Streben nach sittlicher Vervollkommnung des Menschen ein ernstes und aufrichtiges Streben ist, denn diese Bewegung hat die ihr gebührende, unumgängliche Ordnung angenommen, die mit der ersten Stufe beginnt."

Nachdem im Vorstehenden der Versuch gemacht worden ist, die geschichtliche Entwicklung des Vegetarismus von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus darzulegen und zu erklären, erübrigt noch eine spezielle Darstellung der Geschichte des Vegetarismus in der Neuzeit, in der er für unsere Betrachtung wenigstens anscheinend eine weit grössere Beachtung und Verbreitung gefunden hat, als im Altertum. Der Eindruck, dass wir es heute mit einer in sich geschlossenen Lehre zu thun haben, wird vielleicht nur dadurch vorgetäuscht, dass diese Lehrmeinung heutzutage der modernen Geistesrichtung entsprechend durch eine ganz andersartige Propaganda vertreten wird, welche in der Zeit der Buchdruckerschwärze ja auch den absurdesten Ideen in uneingeschränktester Breite zu teil werden kann. Überblickt man das Jahrhundert der neuzeitlichen Entwicklung des Vegetarismus, so machen sich zwar hie und da sogar noch bis auf unsere Tage auch religiöse Motive zur Begründung des Vegetarismus geltend, ja, man hat sogar immer wieder versucht, bestimmte kirchliche Konfessionen auf diese Ernährungsform sich einschwören zu lassen. Aber im grossen und ganzen überwiegt diesem religiösen Grundsatze gegenüber in neuerer Zeit doch mehr das Moment der philosophischen Ethik als ursächliche Triebfeder. Die Träger dieser Ethik in der öffentlichen Meinung sind durchwegs Männer, die ihre eigenen sozialen und sittlichen Anschauungen haben, entweder weil sie eine von Natur aus in ihrem Denkvermögen und ihrer Gemütsverfassung von der Allgemeinheit abweichende Auffassung repräsentiren, oder, weil sie von den Stürmen eines schicksalsreichen Lebens geschüttelt, von Weltschmerz angekränkelt, unverbesserliche Pessimisten geworden sind, die allenthalben zu mäkeln und zu bessern haben.

An solchen Männern, die mehr in ihrer eigenen Ideenwelt, als in der Wirklichkeit leben, ist die zerstückelte Geschichte des neuzeitlichen Vegetarismus ausserordentlich reich. Es sind Männer von so sonderbarer Art, wie jener Diogenes, oft geistig hochbefähigte Menschen, aber mit einseitiger Entwicklung ihrer Gedankenwelt, excentrische, ungezügelte Naturen, die sich von allem Hergebrachten lossagen und stets zum Aussergewöhnlichen neigen, die im Vollgefühl ihrer Genialität leicht überschäumen und in der überstürzenden Hast ihrer Gedankenarbeit schnell auf intellektuelle Abwege geraten. Solche Köpfe sind vielfach gerade die Vorkämpfer für die Lehre des Vegetarismus gewesen. Dahin haben wir in erster Linie zwei Männer zu rechnen, welche die Vegetarier stets mit Stolz an die Spitze ihrer Führer zu stellen pflegen, zumal sie die neuzeitliche Entwicklung des Vegetarismus eingeleitet haben: Lord Byron (1788—1824) und sein kongenialer Dichterfreund Shelley (1792—1822).

Es wäre müssig, auch nur ein Wort über die geistige Bedeutung des jugendlichen Lords zu verlieren, der, kaum ein Dreissigjähriger, die ganze zivilisierte Welt mit dem Ruhme seines Dichtergenies erfüllte, des gottbegnadetsten, welches das in dieser Hinsicht so reichgesegnete Albion im 19. Jahrhundert gesehen hat. Aber ist Byron nicht der hervorragendste Dichter des Weltschmerzes, der Weltverachtung, der Interpret enttäuschter Hoffnungen und rasender Verzweiflung? Spielt sich in seinen wunderbaren Versen nicht seine eigene faustische Natur allzu offenkundig wieder? Niemals hat dieser geistige Titane, der sein Lebenlang um Befreiung seiner eigenen Seele mit sich gerungen und darum stets den Anblick innerer Zerrissenheit seinen Bewunderern dargeboten hat, die er an den Empfindungen anderer so scharf versinnbildlichen konnte, — niemals hat sich dieser Mann zu einer einheitlichen, abgeklärten Weltanschauung durcharbeiten können.

Und Shelley! Sein Wissen und seine Bildung, die Wärme des Gefühls und der Adel seiner Sprache, die Leidenschaft seiner Empfindung, sein Gerechtigkeitssinn, seine Begeisterung für alles Gute und Edle — alle diese tugendvollen Eigenschaften werden verdunkelt in seinem Bild durch das, was für ihn charakteristischer war, sein unstetes, schwankendes Wesen, die Unklarheit seiner Gedanken, die trostlose Auffassung von Welt und Menschen.

Es kann nicht wunder nehmen, dass das unerschrockene Eintreten der beiden Dichterfreunde für den Vegetarismus ihm viele Anhänger zuführte. Die Begeisterung der Dichter wirkt immer ansteckend. Es scheint aber, als ob sie damals auf einem bereits vorbereiteten Boden gefallen ist, der sich darum als besonders fruchtbar erwies. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts (1801) wurde in London der erste Vegetarierverein gegründet, dem sehr bald gleiche Vereinigungen in den grösseren Städten des Inselreichs, wie Manchester, Dublin und andere folgten. England ist das klassische Land des Vegetarismus geblieben — eine naturgemässe Reaktion gegen die Überschätzung des Wertes der Fleischnahrung, die nirgends je grösser gewesen ist, als eben im britischen Volke. Es ist menschliche Eigenart, oft von einem Extrem ins andere zu fallen oder den Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen. So einseitig sich die Beef- und Rumsteakverehrung in England auswuchs, wo die Fleischtopfe viel rnehr heimisch sind, als in Ägypten, ebenso einseitig war die krasse Reaktion, die man dagegen durch den Vegetarismus zu schaffen versuchte.

Es ist bemerkenswert, dass der Vegetarismus in der Neuzeit hauptsächlich gerade bei den germanischen Völkern Boden gewonnen hat. Den Briten folgten auf dem Fusse in der Einführung desselben die stammverwandten Einwohner von Nordamerika, während die Bewegung in den romanischen Ländern bis heute nur einen sehr kümmerlichen Fortgang genommen hat.

In den Vereinigten Staaten Nordamerikas ist es angeblich das Beispiel Benjamin Franklins gewesen, des grossen Staatsmannes und Gelehrten, welches den Anstoss zur vegetarischen Bewegung jenseits des Oceans gegeben hat.

Der Pionier des Vegetarismus in Amerika war aber erst Sylvester Graham (1794—1851), von Beruf anfangs Lehrer und Prediger, später Leiter der Pennsylvanischen Temperenzlergesellschaft, ein Mann stets schwächlich und zeitlebens krank, der, wie schon aus seinem Entwicklungsgange ersichtlich, aus ethischen Gründen zum Vegetarismus gekommen ist. Von der sittlichen und geistigen Höhe aus, auf der Graham stand, betrachtete er die vegetarische Lebensweise als ein Gebot der Gesundheitspflege und der sittlichen Reinheit des Menschen. Nachdem er schon jahrelang durch sehr beifällig aufgenommene Vorträge in vielen Städten Nordamerikas seine Anschauungen dargelegt hatte, erschienen 1839 zum erstenmal seine „Lectures of the science of human life", ein Werk, das zahlreiche Auflagen und Übersetzungen in englischer und deutscher Sprache erlebt hat. Die asketische Ethik seiner Grundanschauungen, die durch das ganze Werk hindurchgeht, kommt noch reiner in anderen Schriften G r a h a m s zum Ausdruck, so z. B. diejenige über das Temperenzlertum. So mischt sich denn in seiner Darstellung das ethische Moment ganz eigenartig und geschickt mit der Verwertung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, welche sich Graham in hervorragendem Masse anzueignen verstanden hatte. Dennoch haben ihn die eigenen anatomischen und physiologischen Studien oft zu Missverständnissen und Schlussfolgerungen geführt, wie sie eben einem Laien mit unvollkommener Vorbildung allzuleicht zustossen können. Wenn deshalb auch die wissenschaftliche Kritik seinen Behauptungen und Schlussfolgerungen nicht zu folgen imstande ist, so werden wir doch die Erinnerung an seinen Namen dankbar bewahren als den des Erfinders des Grahambrots, das eine wertvolle Bereicherung des menschlichen Nahrungsmittelschatzes geworden ist.

In Frankreich versuchte ungefähr um dieselbe Zeit Jean Anton Gleïzès (1773—1843) die Saat des Vegetarismus zu streuen, aber sie ist nicht aufgegangen. On n'est jamais trahis que par les siens. Dies Wort seiner Landsleute hat sich an Gleïzès selbst erfüllt. Es ist fast eine Ironie des Schicksals, dass er zu seinen Lebzeiten und auch später nur noch in Deutschland zu Gehör gekommen ist und hier auch gegenwärtig noch von den Vegetarianern als einer der Stammväter der modernen Lehre verehrt wird. Gleïzès war ein Stoiker und Asket von strengster Art, der den Tiermord für das schwerste Vergehen gegen die Grundsätze des Christentums hielt. Er war eine weltverdrossene Natur, die es nicht vergessen konnte, dass die Zeitgenossen ihn nicht als den grossen Reformator seiner Zeit anerkennen wollten. 1840 erschien sein berühmtes Werk „Thalysia" oder „La nouvelle exi-stence" unter dem hübschen Motto Ovids: „Sunt herbae dulces". Über die Bedeutung dieses Werkes wird im folgenden Abschnitte mehr gesagt werden, hier sei nur über Gleïzès selbst noch die charakteristische Mitteilung gemacht, die wir im Leben vegetarischer Propagandisten öfters finden, dass er auch ein Freund eines guten Tropfen Weins war. Er gehörte offenbar zu denen, die Wasser zu predigen und Wein zu trinken pflegen!

Auch ein zweiter Versuch, das Interesse für den Vegetarismus in Frankreich wachzurufen, schlug fehl; er ging von einer Deutsch-Engländerin Miss Kingsford aus, die eine wissenschaftliche Begründung des Vegetarismus in ihrer Promotionsarbeit vor der Pariser Medizinischen Fakultät 1880 verteidigte.

In Deutschland fasste die Idee des Vegetarismus erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Wurzel. Einige Vorkämpfer, wie der badische Revolutionär Gustav v. Struve, W. Zimmermann, Gustav und Emil Weilshäuser fanden nicht die genügende Beachtung in weiteren Kreisen. Interessanter ist die Persönlichkeit des Professor Friedrich Daumer (1810—1875) eine Persönlichkeit, die für ihre Zuneigung zum Vegetarismus ebenso charakteristisch ist, wie diejenige Byron's und Shelley's, mit denen er im geistigen Bilde sehr viel Ähnlichkeit besass. Auch eine hochbegabte, aber sehr excentrische Natur, die ihr ganzes Leben hindurch bei der Unstätigkeit ihres Charakters zwischen den extremsten Gegensätzen des Denkens und Wollens hin und her geworfen wurde, der als Jüngling vom Pietismus zu Schellings Naturphilosophie überging und im reifen Mannesalter sich aus einem der heftigsten Feinde des Christentums zu einem der enragiertesten Vorkämpfer des orthodoxen Katholizismus umwandelte. Als ein Produkt dieser bizarren philosophischen Schwankungen gebar sein Hirn einstmals auch eine heftige Philippika gegen die Fleischkost, er suchte die Schädlichkeit der „kadaverösen" Diät besonders scharf nachzuweisen an dem Beispiele seines berühmten, um nicht zu sagen berüchtigten Schülers, des bekannten Findlings und — Betrügers Caspar Hauser, der, von frühester Kindheit an an eine Kost von Wasser und Brot gewöhnt, verdummt sei, als er Fleischbouillon zu essen bekommen habe. Diese Geschichte ist ebenso romantisch und ebenso unwahr, wie die von Caspar Hauser überhaupt. Aber sie ist charakteristisch für die Wertigkeit der Argumente, mit denen die Vegetarier leider recht oft ernsthaft zu diskutieren versuchen.

Erfolgreicher war schon Theodor Hahn thätig, ein Laie, der sich als Arzt aufthat und eine vegetarische Heilanstalt auf der Waid bei St. Gallen einrichtete.

Aber der eigentliche Spiritus rector des Vegetarismus in Deutschland ist Eduard Baltzer geworden (1814—1887). In seiner Vaterstadt Nordhausen gründete er 1868 den ersten Vegetarierverein Deutschlands unter dem Namen „Verein von Freunden der natürlichen Lebensweise".

Es ist ungemein bezeichnend für die Geschichte und die innere Entwicklung des Vegetarismus, dass diese neue Aera der Lehre wieder von einem Manne ausging, der die Menschen seiner Zeit für krank an Leib und Seele hielt und sich von der Aufgabe durchdrungen fühlte, ihnen einen Weg zum Heil des Körpers und des Geistes zu weisen. Baltzer war ein Mann von scharfem Verstande, hoher Intelligenz, reichem, vielseitigem Wissen und vornehmer Gesinnung. Vor allem muss auch der Gegner seine stets überzeugungstreu vorgetragene Anschauung, die Selbständigkeit seines Denkens und die Folgerichtigkeit seiner Logik anerkennen, weil sie nicht alltägliche Geisteseigenschaften sind. Baltzer war ein Mann, der auch den Mut besass, einer abweichenden Meinung öffentlichen Ausdruck zu geben, unbekümmert um die Folgen. Hat er doch - ein kritischer Theologe, von dem streitbaren Geiste eines David Friedrich Strauss beseelt — seinen religionsphilosophischen Ideen seinen Lebensberuf zum Opfer bringen müssen! Baltzer war Diakonus in Delitzsch, als er zum Pfarrer erst in Halle, später in Nordhausen gewählt, beidemal nicht bestätigt wurde, um seiner unkirchlichen Lehrneuerungen willen, die in das alte Schema des christlichen Dogmas nicht hineinpassen wollten. Vogelfrei geworden, gründete deshalb Baltzer 1877 in Nordhausen eine freireligiöse Gemeinde, deren Sprecher er wurde und bis an sein Lebensende blieb. In diesem Manne erstand dem Vegetarismus der würdigste und einflussreichste Interpret, welcher der von ihm vertretenen Sache ernste Beachtung und Ansehen zu verschaffen verstanden hat. Ihm war der Vegetarismus der Weg zu Gesundheit und sozialem Heil. Er erblickte in der besseren leiblichen Pflege und in der Reform der Ernährung die Vorstufen zu dem Seelenheil der Menschen, welches das Evangelium verheisst. Beim Lesen seiner Schriften habe ich mich oft des Gedankens nicht erwehren können, dass dieser Freidenker seine geistigen Waffen erfolgreicher für eine bessere Sache hätte verwenden können, als in dem fruchtlosen Kampfe für den Vegetarismus, aber ihm ist der Ruhm geblieben, dieser Lehre einige Jahrzehnte hindurch Ziel und Richtung gewiesen und diese Bewegung auf der geistigen Höhe gehalten zu haben, welche einzig und allein die sittliche Auffassung derselben zu geben vermag.

Seitdem hat die vegetarische Bewegung sich nur langsam, zeitweise sogar recht träge, nicht stetig, sondern mehrfach mit kürzeren oder längeren Unterbrechungen über Deutschland und die benachbarten deutschsprechenden Länder ausgebreitet, von denen sie aber nur noch in Österreich, vereinzelt auch in der Schweiz etwas Terrain erobert hat.

Der Anregung Baltzers folgend, haben sich später auch in mehreren anderen grossen deutschen Städten Vegetariervereine aufgethan, die meist recht still unter Ausschluss der grösseren Öffentlichkeit „vegetieren". Gehören ihnen doch selbst nicht einmal alle Vegetarier an! Aus einer unlängst erschienenen statistischen Übersicht (Vegetarische Warte 1901, Nr. 19) entnehme ich folgende interessante Thatsachen, welche ad oculos demonstrieren, wie unbedeutend die ganze Bewegung an Ausdehnung ist, sodass man sich eigentlich gar nicht genug wundern kann, dass dieses winzige Häuflein so viel von sich und ihrer grauen Theorie reden macht. Der deutsche Vegetarierbund zählt auf der Höhe seiner zeitigen Entwicklung an 363 Orten 1011 Mitglieder. Auf eine Million Menschen kommen demnach in Deutschland sage und schreibe 22 Vegetarier! An 247 Orten hat der Bund nur ein einziges Mitglied, 10 in Erfurt, 12 in Bremen, 20 in Halle, 26 in Dresden, 34 in München, 51 in Hamburg, 59 in Leipzig und 151 in Berlin. Also selbst an den beiden letztgenannten Orten, welche

Hochburgen des modernen Vegetarismus sind, findet sich nur eine so kleine Zahl zusammen, die sich noch dazu, wie allenthalben, als ein Konglomerat sehr ungleichartiger gesellschaftlicher und geistiger Elemente darstellt. Nur ein Teil davon ist überhaupt als Vegetarier ernst zu nehmen. Wenn auch von Zeit zu Zeit die Propaganda in etwas lebhafterer Weise betrieben wird, und sich hier und da neue Zweigvereine mit kleiner Mitgliederzahl aufthun, so will doch kein rechter Zug in die ganze Bewegung hineinkommen, zum guten Teil wohl deshalb, weil es zu verschiedenartige Naturen und Motive sind, die sich da vereinigen. Zudem sind Spaltungen und Entzweiungen in den Kreisen und in den Vereinen der Vegetarier ständig an der Tagesordnung, sodass eine friedliche Entwicklung der Sache nur schwer vorwärts kommen kann. Es fehlt das einheitliche Interesse der äusser lieh Zusammengehörigen, es fehlt die Grundlage einer gemeinsamen Weltanschauung!

Seit Baltzer's Tode haben die deutschen Vegetarier auch keinen Führer mehr gehabt, welcher, jenem an Kenntnissen, Intelligenz und philosophischer Bildung gleichkommend, Ansehen genug hätte erlangen können, um sie zusammenzuhalten, ihrem Bunde und dessen Ziele ein gewisses Prestige nach aussen zu geben. Seit Baltzer's Tode haben die Führer meist nur lokale Bedeutung gehabt und auch dort schnell gewechselt. Des Kampfes und des Haders mit ihren eigenen Gesinnungsgenossen müde, haben sie sich meist bald aus ihrer exponierten Stellung zurückgezogen und sind teilweise sogar der ganzen Bewegung später untreu geworden. Von der grossen Zahl der begeisterten Wanderredner, welche die Vegetarier viele Jahre lang ins deutsche Land geschickt haben, um für ihre Sache Propaganda machen zu lassen, ist kaum heute noch einer an seiner Stelle; es verlohnt sich deshalb nicht der Mühe, ihrer Namen Erwähnung zu thun. So bietet denn die gegenwärtige Phase der Entwicklung des Vegetarismus in Deutschland kein recht erfreuliches Bild dar.

In der neuesten Geschichte des Vegetarismus macht sich nun aber noch eine neue Richtung geltend, die im Prinzip zwar nicht neu, dennoch aber bisher noch niemals so energisch betont und als Leitmotiv in den Vordergrund geschoben worden ist: es ist die volkswirtschaftliche Begründung der Bedeutung des Vegetarismus. Die vegetarischen Volkswirtschaftler der Neuzeit beschränken sich nicht, wie seinerzeit Baltzer und manche seiner Nachfolger, auf rein theoretische Erörterungen, sondern sie lehnen sich in ihren praktischen Plänen und Unternehmungen an ein ganz bestimmtes Prinzip modernster Nationalökonomie an, das unter dem Namen der „Bodenreform" in weiten Kreisen bekannt geworden ist. Sein Urheber, Henry George in Nordamerika, hat in Deutschland bereits eine kleine Zahl sehr eifriger und geschickter Interpreten gefunden, wie Theodor Herzka, den Schöpfer des phantastischen Freilandes, Franz Oppenheim, Damaschke u. a. Unter dem Einfluss dieser volkswirtschaftlichen Neulehren haben sich bereits hier und da vegetarische Siedelungsgenossenschaften zur gemeinsamen Ausnutzung gemeinsamen Landterrains gebildet. Über die Bedeutung und den Wert dieser interessanten Kolonisationsversuche werden an späterer Stelle einige kritische Worte gesagt werden. Hier ist es von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, dass diese neueste Richtung des Vegetarismus einen gefährlichen Keil in diese Bewegung zu treiben scheint und die historische Entwicklung derselben zu einem unerwarteten Abschluss führen könnte, wenn sie zum allgemeinen Durchbruch käme. Genauer betrachtet steht die Tendenz dieser neuen Richtung überhaupt nur in sehr losem Zusammenhang mit dem Vegetarismus selbst. Es scheint sich da vielmehr in der Hauptsache nur um eine besondere Erscheinungsform einer der vielen für die inneren Kämpfe unseres Zeitalters so charakteristischen sozialpolitischen Reformen zu handeln.

Wie in früheren Zeiten die Bestrebungen des Vegetarismus von der Mehrheit der Zeitgenossen aufgenommen worden sind, darüber wissen wir wenig. Lebhafteren Widerspruch haben erst die energischen vegetarischen Bestrebungen der Neuzeit hervorgerufen, und in Deutschland hat vor allem die von Baltzer eingeleitete Bewegung zu Gunsten des Vegetarismus die wissenschaftlichen Kreise aus ihrer Gleichmütigkeit gegen diese Lehre etwas aufgerüttelt. Als erster gegen dieselbe trat Virchow (1868) in die Schranken, der, wie in allen Fragen der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens, die den weiten Kreis seiner geistigen Interessen berührten, auch hier sofort die Bedeutung der Bewegung erkannte und ihr in seiner, wie immer sachlichen aber einschneidenden Kritik, gerecht zu werden versucht hat — ganz im Gegensatz zu der Oberflächlichkeit des Urteils vieler seiner neueren Nacheiferer. Die Kritik Virchow's an der Lehre des Vegetarismus kann auch heute nach mehr als 30 Jahren als mustergiltig gelten, insofern sie eine Reihe der wichtigsten Argumente, die man gegen diese Lehre ins Feld führen kann, in prägnanter Kürze scharf beleuchtet. Baltzer hielt deshalb auch bald nach ihrem Erscheinen eine Gegenkritik für notwendig, die, wie anerkannt werden muss, auch ihrerseits zu einem Teil recht geschickt abgefasst ist. Es folgten später die Physiologen Justus v. Liebig, Karl v. Voit, Karl Ludwig, Jakob Moleschott und andere, die mit mehr oder minder Eifer und Geschick gelegentlich dem Vegetarismus die Daseinsberechtigung abzusprechen versuchten. Unter den Widerstreitern sind noch zu nennen die Leipziger Professoren Bock und Reklam und der bekannte populär-medizinische Schriftsteller Klenke. Auf das grosse Publikum, namentlich der gebildeten Klassen, hat vielleicht einen grösseren Eindruck noch als die Darlegungen der Mediziner die Absage eines namhaften Philosophen Eduard v. Hartmann gemacht, der in seinen „Modernen Problemen" auch dieser Frage eine besondere Besprechung gewidmet hat. In neuester Zeit sind noch zwei Gelehrte von Ruf, der Physiologe G. v. Bunge in Basel und der Hygieniker F. Hueppe in Prag, als Rufer im Streit auf dem Kampfplatz erschienen.


2. Die vegetarische Litteratur.

Die vegetarische Litteratur knüpft zum guten Teil eng an die oben skizzierte geschichtliche Entwicklung des Vegetarismus an. Wenn wir von den Mitteilungen in den Schriften der Schüler des Pythagoras über dessen Lebensweise absehen, so findet sich die erste litterarische Vetretung der vegetarischen Lebensgrundsätze in den Werken des schon oben kurz erwähnten neuplatonischen römischen Philosophen Porphyrius (223—304 n. Chr.) in seiner Schrift „De abstinentia ab esu animalium", deren asketische Ethik zur Genüge beweist, dass diesem Autor die ausschliessliche Pflanzenkost nur der Ausfluss einer religiösen Resignation gewesen ist.

Nach dieser Zeit ist es anderthalb Jahrtausend fast still gewesen von einer speziell vegetarischen Litteratur. Die gelegentlichen vegetarischen Gefühlsergüsse einiger theologischer und philosophischer Schriftsteller aus den Zeiten des späteren Mittelalters, deren Namen schon im vorhergehenden Kapitel genannt wurden, können so wenig als eigentliche Verteidigungsschriften vegetarischer Ernährung gelten, wie die Zustimmungsepisteln und Poesien eines Rousseau (in seinem „Emile"), eines Byron und Shelley (in seiner berühmten Dichtung „Queen Mab").

Erst die neuzeitliche Bewegung des Vegetarismus, die mit dem Beginne des 19. Jahrhunderts anhebt, hat eine zielbewusste entsprechende Litteratur zustande gebracht. Die von England ausgehenden Reformbestrebungen zur Vereinfachung der Lebensund Ernährungsweise fanden zuerst einen lebhaften, wirkungsvollen Ausdruck in dem Werke von J. Newton(1811) „Retourn to nature or defence of vegetable regime", dem in den nächsten Jahrzehnten einige ähnliche Werke von Alcott, Ch. Lane, Laroy Sunderland, A. Nicolsen, B. Lundahl, Lees u. a. folgten. England ist seitdem das Land geblieben, in dem die vegetarische Litteratur am stärksten kolportiert wird. Existirt doch dort fast ein Dutzend periodischer vegetarischer Zeitschriften, die fast alle, wenigstens vorübergehend, ihren Leserkreis gefunden haben: The vegetarien, The vegetarien massenger, The vegetarien advocate, The healthian, The new age, The diatetic reformer, Journal of health, The herald of health, The herold of golden age u. a. m. Auch in Amerika giebt es seit Jahren eine sehr umfangreiche vegetarische Zeitschriftenlitteratur, die meist ebenso vorzüglich redigiert wird, wie die englische. Grösstenteils sind diese Journale die Organe von Vereinen und Verbänden, welche den Vegetarismus vertreten.

Aus Amerika kam 1839 das Standardwerk der vegetarischen Litteratur: die bereits oben erwähnten Lectures of the science of human life von Sylvester Graham, welche die vegetarische Bewegung in Amerika in Fluss gebracht und ihren Einfluss auch auf die übrigen Kulturländer Europas in unverkennbarer Weise geltend gemacht haben. Das Werk ist viel gelesen und ausgeschrieben worden, oft sogar recht schlecht. Fast alles, was die neuere und neueste vegetarische Litteratur an Beweisgründen für den Vegetarismus beizubringen pflegt, findet sich schon bei Graham in meist recht gründlicher Darstellung, die wissenschaftlich zu sein sich bemüht.

Recht unvorteilhaft davon sticht das Werk von Gleïzès (1842) ab, der den Mangel an naturwissenschaftlichen medizinischen Kenntnissen, die Graham auszeichneten, durch geistreiche und sentimentale theoretische Deduktionen ersetzt. Die Oberflächlichkeit des Urteils wird oft durch eine lebhafte Phantasie verdeckt, die in schwungvollen Phrasen zum Ausdruck kommt. Ein vielbelesener Mann, schmückte Gleïzès seine Schriften mit reichem historischen und philosophischen Beiwerk, das die Lektüre des in fliessendster Diktion geschriebenen Werkes in der That vielfach zu einem geistigen Genuss macht. Der Hauptkern der recht schwachen Beweisführung liegt im ersten Teil des Buches, in dem Gleïzès den Nachweis zu erbringen versucht, dass der Mensch

kein Raubtier ist und der Tiermord die hauptächlichste Quelle seiner körperlichen und seelischen Leiden und seiner Vergänglichkeit auf Erden ist! Es muss ihm zugestanden werden, dass ein tiefes sittliches Gefühl die Triebfeder seiner Ideen ist und dass er, von idealster Menschenliebe erfüllt, nur das Ziel einer sittlichen Vervollkommnung der Menschheit erstrebt. Dafür findet er oft schöne Worte, die ihren Weg zum Herzen, aber nicht zum Verstande eines kritischen Lesers finden.

In der vegetarischen Litteratur Deutschlands wirkten zuerst auf das grosse Publikum die Schriften des Laienarztes Theodor Hahn, eines ausserordentlich streitbaren Geistes mit scharf geschliffener Feder und spitzer Zunge.

Seine energische Verteidigung des Vegetarismus findet sich in einer ganzen Reihe von Schriften, von denen die hauptsächlichsten in ihrem Titel hier kurz angeführt sein sollen: 1. Die naturgemässe Diät, die Diät der Zukunft (Köthen); 2. Praktisches Handhuch der naturgemässen Heilweise (Berlin 1870); 3. Der Vegetarismus, seine wissenschaftliche Begründung und seine Bedeutung für das leibliche, geistige und sittliche Wohl des Einzelnen, wie der gesamten Menschheit. Ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage (Berlin 1869); 4. Die Ritter vom Fleische (Berlin 1869). Die letztgenannte sehr polemische Schrift ist eine Erwiderung auf eine Anzahl von Pressangriffen auf die „Ritter der Genüsse", die damals unter dem Einfluss der Hahnschen Schriften begannen, in Deutschland die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Hahn, schüttet in dieser Brochüre die Fülle seines Zornes über die Wissenschaft und ihre Vertreter aus, die persönlich zu verunglimpfen er sich nicht scheut. Er verknüpfte sein Eintreten für den Vegetarismus aufs engste mit der Feindschaft gegen die medizinische Kunst und Wissenschaft, deren besseres Gegenstück er in dem von ihm befürworteten System der „naturgemässen Heilweise" sah. Seine medizinischen Anschauungen bewegen sich auf dem gewöhnlichen Niveau halbverdauter Kenntnisse kurpfuschender Laien, und auch seine Begründung des Vegetarismus lässt tieferes Verständnis für biologische Fragen vollkommen vermissen.

Hahn's Schriften sind die ersten Typen der später so reich angewachsenen dilettantenhaften vegetarischen Litteratur, die statt sachlicher Erörterungen zumeist nur hohle Phrasen und wüste Schimpfereien auf die Ärzte und die Wissenschaft bringen.

Hahn's Propaganda wäre wenig geeignet gewesen, die vegetarische Bewegung in Deutschland in Fluss zu bringen, wenn nicht die bald darauf erscheinenden Schriften Eduard Baltzer's die ganze Lehre auf ein höheres Niveau zu bringen gewusst hätten. Schon die ruhige vornehme Schreibart Baltzers zeichnet sich vorteilhaft vor derjenigen Hahns aus. Seine Darstellung ist allenthalben nüchtern, sachlich und auch kritisch, wenngleich hier und da seine Kenntnisse und sein Urteil etwas oberflächlich erscheinen.

Die hauptsächlichsten vegetarischen Schriften Baltzers seien hier kurz skizziert:

1. Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und sozialem Heil, 4 Bände, 1867—72; 2. Porphyrius, 4 Bücher von der Enthaltsamkeit. Ein Sittengemälde aus der römischen Kaiserzeit, aus dem Griechischen übersetzt mit Einleitung und Bemerkungen; 3. Pythagoras, der Weise von Samos, 1868; 4. Vereinsblatt für Freunde der natürlichen Lebensweise, 1868; 5. Vegetarisches Kochbuch, 1870.

Der „rocher de bronche" der vegetarischen Litteratur ist das erstgenannte Werk Baltzers gewesen und geblieben; tiefer durchdacht, als der erste Teil desselben, dessen Darstellung einen feuilletonistischen Anstrich hat, ist der zweite Teil, welcher unter dem Titel erschienen ist: „Die Reform der Volkswirtschaft vom Standpunkt der natürlichen Lebensweise." Teilweise recht schlagfertig und geschickt ist die den dritten Teil des Werkes bildende Erwiderung auf Virchows Schrift über „Nahrungs- und Genussmittel". Der vierte Teil schliesslich: „Der Vegetarismus in der Bibel", ist eine Polemik gegen Baltzers geistliche Brüder, die in des Freigemeindlers Verteidigung des Vegetarismus einen Ausfluss seiner heidnischen Philosophie erblickten.

Was nach Graham und Baltzer in der vegetarischen Litteratur noch erschienen ist, hat im allgemeinen nur wenig neue Gesichtspunkte beigebracht. Immerhin haben sich spätere Autoren die Mühe gegeben, ihn noch eingehender zu begründen, vor allem mit dem Aufgebot des ganzen wissenschaftlichen Materials, das ihnen die leicht zugängliche Fachlitteratur der Neuzeit zur Verfügung stellte. Die Belesenheit dieser Laienautoren und ihr Streben, wissenschaftliche Kenntnisse zur Grundlage ihrer Doktrin zu gewinnen, verdient Anerkennung. Dadurch gerade gewinnt ein Teil dieser Litteratur den Eindruck ernster Arbeit, die ihres Wertes nur wieder dadurch verloren geht, dass die Autoren mit vorgefassten Meinungen an die Verwertung des wissenschaftlichen Thatsachenmaterials herangetreten sind. So kommen sie zumeist zu schiefen Darstellungen und falschen Schlussfolgerungen, welche die Lektüre dieser Schriften für den Fachmann oft schwer verdaulich oder ganz ungeniessbar machen.

Das beste von allen Büchern dieser Art ist doch immer noch das von Dr. P. Andries: „Der Vegetarismus und die Einwände seiner Gegner", obwohl ihm die oben gerügten Fehler in nicht geringem Masse anhaften. Seine Darstellung zeugt von guter allgemeiner Bildung, logischem Denkvermögen und konsequenter Schlussfolgerung, wenigstens seinen eigenen Ideen gegenüber. Aber er ist ein grauer Theoretiker und rennt mit seinem voreingenommenen Urteil blindlings immer tiefer in seine Irrtümer hinein. Wo er sich zu eigenen wissenschaftlichen Theorien aufschwingt, da leistet er, wie alle medizinischen Dilettanten, wahrhaft blühenden Unsinn. Als Beispiel dafür gebe ich nur folgende ganz unerhörte Behauptung wieder: „Jeder ältere Mann, der während seines Lebens viel Fleisch genossen, ohne schwere physische Arbeit zu verrichten, ist ohne weiteres als nierenkrank zu betrachten."

Weit schlimmer steht es aber mit der Produktion solcher eigenen Phantasiegebilde in einem anderen gleichfalls sehr viel gelesenen und als eine Perle der vegetarischen Litteratur gepriesenen Buche: „Obst und Brot". Die wissenschaftliche Diätetik des Menschen von Gustav Schlickeysen. Der Mann, seines Zeichens Photograph, der sich befähigt und berufen fühlt, der Wissenschaft, die seit 2000 Jahren auf Irrwegen gegangen sei, neue Bahnen zu weisen, hat so seine eigene Wissenschaft, die nicht auf der Basis der Forschung beruht, sondern auf der des Gefühls! Wie er von der Wissenschaft denkt, das hat er in dem schön geprägten Epigramm ausgedrückt: „Die schönste Errungenschaft der Wissenschaft wird immer die bleiben, sich selbst überflüssig zu machen". Die Wissenschaft der Diätetik des Menschen, die Herr Schlickeysen selbst entdeckt hat, begründet er deshalb durch das, was ihm sein Instinkt sagt. Einige Proben der Leistungsfähigkeit dieses Instinktes mögen doch zur Beurteilung des Wertes solchen Machwerkes hier wiedergegeben sein.

„Wenn von der Bedeutung der Spannkraft bei einem Nahrungsmittel die Rede ist, so ist darunter durchaus nicht der Nährwert desselben zu verstehen, überhaupt nicht die Aufnahme irgend welcher materieller Stoffe, sondern vielmehr die Übertragung eines Fluidums, welches der eigenen Lebens- und Spannkraft verwandt ist und zugute kommt. Man hat nicht mit Unrecht die organische Lebenskraft das Fragezeichen der Physiologie genannt und die Physiologen und Chemiker der alten Schule, welche jetzt eben im Absterben begriffen ist, glauben irrtümlicherweise eine Erhöhung derselben durch Zufuhr von Albuminaten erreichen zu können. Der Thatbestand ist jedoch der umgekehrte. Letztere verlangen vielmehr einen hohen Aufwand von Spannkraft zu ihrer Auflösung und Verdauung. Wir wissen jetzt mit grosser Gewissheit, besonders auf Grund praktischer Versuche, dass die organische Lebensfähigkeit des Menschen erhalten und erhöht wird durch den Genuss frischer Luft, frischen Wassers und frischer Früchte, dass jedoch diese drei Lebensmittel durch Erwärmung oder eine sonstige derartige Veränderung, welche ihre natürliche Spannkraft aufhebt, im günstigsten Falle zu einfachen Nahrungsmitteln herabsinken. Diesen Unterschied zu machen, hatte die bisherige Physiologie nicht verstanden, sich dagegen nur einseitig mit der chemisch notwendigen oder eingebildeten Zusammensetzung der Nahrungsmittel beschäftigt und es hierin zu einer ganz einseitigen und wirklich lächerlichen Vollendung gebracht, in welcher alle zum Aufbau der Organe nötigen oder auch nur angeblich notwendigen Substanzen bis auf fünf Dezimalstellen berechnet sind."

Daraufhin begründet denn Herr Schlickeysen das erste physiologische diätetische Grundgesetz: „Die Nahrung des Menschen, die Frucht, wirkt gleichartig durch ihren Nährwert und ihre Erfrischung, durch Eiweissprodukte und ihre Spannkraft, durch Säure und Öle, durch Wasser und Ballast, durch ihre physiologische Reinheit, ihren natürlichen Reiz und ihre lösende Kraft." Es ist hundert gegen eins zu wetten, dass jeder Arzt, der einen derartigen Mischmasch von Gedanken produzieren würde, von seinen eigenen Kollegen als geistesschwach betrachtet werden würde. Herr Schlickeysen aber verlangt ernst genommen zu werden und ist in der That von seinen „Instinktgenossen" ernsthaft genommen worden. Auch nicht den geringsten Versuch hat Schlickeysen unternommen, um die einzige Idee, welche in seinem diätetischen Grundgesetz enthalten ist, zu beweisen, dass nämlich in den frischen vegetabilischen Nahrungsmitteln eine gewisse Spannkraft enthalten sei, welche bei der Aufnahme in den Körper diesem zugute komme. Er hat sich damit begnügt, eine phantastische absurde Idee, ein Gespinst seines eigenen Gehirns, auszusprechen und drucken zu lassen. Dabei vernachlässigt er die durch tausendfältige Erfahrung der Wissenschaft festgestellten Thatsachen mit einem bewunderswert traurigen Mute! Es gehört ein nicht geringes Mass von Selbstüberschätzung dazu, um etwas als Wissenschaft zu bezeichnen, was, nur aus dem eigenen Gehirn stammend, im Widerspruch zu allen in der Welt bekannten Thatsachen steht. Was Gutes und Richtiges in dem Buche Schlickeysens enthalten ist, steht in dem ersten Teil desselben, der sich auch durch einen vornehmeren Ton der Darstellung vorteilhaft auszeichnet. Hier aber lehnt er sich ganz und gar an die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung an, indem er Häckel sehr ausführlich ausgeschrieben hat und dessen vielumstrittene phantastischen Erweiterungen der Darwinschen Lehre noch wesentlich übertrumpft. Hier schliesst sich Schlickeysen nur deshalb an den Wissenschaftler Häckel an, weil ihm dessen Theorie von der Affenähnlichkeit des Menschen und der Entwicklungs- und Stammesgeschichte desselben ausserordentlich gut in seinen eigenen Kram hineinpasst als Beweis für die Behauptung, dass der Mensch ursprünglich als Stammverwandter des Affen, aus dem er sich entwickelt, auch die Fruchtnahrung desselben genossen, so dass diese dementsprechend als die einzig naturgemässe Kost des Menschen zu erachten sei. Es soll gar nicht geleugnet werden, dass die Anschauungen und Schlussfolgerungen Schlickeysens in diesem Teile seiner Ausführungen zum guten Teil logisch und konsequent sind. Wie wenig damit für den Nachweis der Berechtigung des Vegetarismus gewonnen ist, das wird in einem späteren Abschnitt dieses Buches auseinander gesetzt werden.

Die Unzahl kleinerer Schriften, zumeist Brochüren, welche die Hauptmasse der modernen vegetarischen Litteratur ausmachen, zeugen meist von einer unglaublichen Oberflächlichkeit des Wissens und des Urteils und von einer staunenswerten Kunst falscher Auffassung und Verdrehung wissenschaftlicher Lehren. Sie tischen ihren Lesern oft Erzählungen auf, die zu glauben dieselbe Naivität erfordert, wie sie vorzutragen. Auch die Flugschriften, mit denen der deutsche Vegetarierbund seit Jahren die breiten Volksmassen zu überschwemmen versucht, sind durchgehends sehr minderwertige Produkte, die nichts als Phrasen und unverbürgte Erzählungen bringen und der Logik zu Gunsten der vorausgesetzten Theorie oft Gewalt anthun.

Auch der wohlwollendste Kritiker kann sich beim Durchblättern vegetarischer Schriften dieses oder jenes Autors zum mindesten nicht des Eindrucks erwehren: „Ganz anders wohl als sonst in Menschenköpfen, malt sich in diesem Kopf die Welt." Dafür ein Beispiel statt vieler. In Übereinstimmung mit manchen seiner Gesinnungsgenossen schilt Leiner das Feuer als die „Zerstörerin aller Lebenskraft", weil sie -- das ist sein stiller Ingrimm — den Menschen das Kochen gelehrt hat, die ja sonst alle Früchte der Erde so verzehren würden, wie die Natur sie ihnen darbietet, während alle Durchschnittsmenschen doch zu der Wahrheit des Dichterwortes sich bekennen: „Wohlthätig ist des Feuers Macht". Und man kann nicht behaupten, dass der Mensch sie nicht bewacht am Kochherde! Noch schiefer ist die Weltauffassung, die sich in der Behauptung Schlickeysen's kund giebt, dass der Gebrauch der Seife dem Menschen nachteilig sei, während man sonst allgemein seit Justus v. Liebig der berechtigten Ansicht huldigt, dass das Mass von Seife, welches ein Volk verbraucht, ein Gradmesser für die Kultur desselben sei. Man höre einmal die Begründung Schlickeysen's: „Erstens, sagt er, ist der Hauptbestandteil der Seife ein tierisches Fett, dessen Gebrauch den Körper weit eher verschleimt, als ihn zu reinigen imstande ist. Dann enthalten alle Seifen ätherische Öle, scharfe ätzende Laugen, welche die Haut nicht nur reizen, sondern sie direkt zerfressen, schliesslich ist ein grosser Teil rheumatischer Gesichts- und Zahnschmerzen, wie auch schwache Augen auf den Gebrauch der Seife zurückzuführen!" Solche Behauptungen lassen sich halt nicht widerlegen, weil ihr Unsinn jedem geradezu entgegenstarrt.

Einen viel vernünftigeren Eindruck macht die nicht kleine Litteratur der vegetarischen Kochbücher, deren erstes schon von Baltzer geschrieben ist, deren bestes aber wohl von Carlotto Schulz herrührt. Hier wird wenigstens praktische Weisheit gelehrt in reicher Fülle, aus der auch fleisehessende und -kochende Hausfrauen noch vieles lernen können.

Im vegetarischen Fahrwasser segelt auch eine ganze Anzahl der in Deutschland zahlreich vorhandenen Blätter und Blättchen für naturgemässe Heilweise u. dgl., in denen die Kurpfuscher der verschiedensten Gruppen ihre Geschäfte besorgen.

Eine besondere Färbung noch haben einige neuere vegetarische Zeitschriften, die den Standpunkt der „Jüngsten" vertreten, d. h. dem Vegetarismus eine sozialwirtschaftliche Bedeutung geben wollen. Hier ist der vegetarische „Vorwärts" zu nennen, der zeitweise auch unter dem vielsagenden Titel „Der Mensch" erschien, sich eine Wochenschrift für allseitige Reform auf naturgemässer Grundlage nennt und eines der modernsten sozialistischen Schlagwörter „Die Kritik von Konsum und Produktion" auf seine Fahne geschrieben hat.


3. Begriff und Definition des Vegetarismus.

Vegetarismus sagen die einen, Vegetarianismus die anderen! Die Vertreter und Anhänger der Lehre scheinen die erstere Bezeichnung vorzuziehen. Welche von beiden die richtigere ist, ist schwer zu entscheiden, für die Sache auch ganz ohne Belang. Die Etymologie beider Worte ist dunkel, es sind moderne Wortbildungen, die selbst dem nachklassischen Latein noch fremd sind. Existiert doch selbst der Ausdruck „Vegetabilien" nicht einmal im Sprachschatz der alten Römer! Die Vegetarier freilich leiten stolz den Namen ihrer Lehre von dem gut klassischen Worte „Vegetare" ab, das etwa bedeutet „anregen, beleben, ermuntern". Lassen wir ihnen diese kindliche Freude, Name ist Schall und Rauch, auf die Sache kommt es an! Es ist möglich, dass jemand die pflanzlichen Lebewesen „Vegetabilien" getauft hat, weil sie belebt sind. Mit mindestens eben dem gleichen Rechte käme von diesem Gesichtspunkt aus der Name aber auch den Tieren zu. Man weiss zur Genüge, auf welch grosse Zufälligkeiten und Missverständnisse oft die Wortbildung im Volksmunde zurückzuführen ist. Als Beispiel dafür brauche ich ja nur die ergötzende Thatsache anzuführen, dass der Volkssprachgebrauch heute gerade mit dem Worte „vegetieren" einen ganz anderen Begriff verbindet, als die Römer mit dem Worte „vegetare". Hier hat sich der Begriff eines Wortes fast gerade in sein Gegenteil gewandelt. „Vegetieren" heisst kümmerlich leben, ohne rechte Frische und Kraft, stumm und still wie eine Pflanze. Es ist deshalb nichts anderes als Wortklauberei, wenn einmal einer der bekanntesten neueren Schriftsteller Virchow vorgeworfen hat, dass er vegetarisch und vegetabilisch verwechsle. Denn — so wird ungefähr immer definiert - Vegetarismus sei nicht oder nicht nur eine Pflanzenesserei, sondern ein System der sittlichen Erziehung der Menschheit. Diese oft wiederkehrende Silbenstecherei ist aber, wie Hueppe treffend bemerkt hat, nicht einmal historisch berechtigt. Newton, der Schöpfer des modernen Vegetarismus, verband mit diesem Worte, wie schon aus dem Titel seines Werkes hervorgeht, nichts anderes, als den Begriff der Pflanzennahrung. Doch betrachte ich alle diese Streitigkeiten über die Bedeutung des Wortes selbst als sehr müssig. Man kann den Vegetariern die neuere Deutung des Wortes getrost zugestehen, ohne dieser Lehre dadurch eine sicherere Grundlage zu geben. Zunächst muss man doch aber daran festhalten, dass die Vegetarier von der Anschauung ausgehen, dass die Pflanzenkost allein die Voraussetzung für die sittliche Lebensführung bilden könne, welche sie erstreben. Das ist der Kernpunkt der ganzen Lehre, mit dem sie steht und fällt. Die Herren beschweren sich oft darüber, dass man das Wesen der vegetarischen Ernährung gar nicht verstehe, wenn man sie „Pflanzenesser" oder gar „Grasfresser" nenne. Ja, diese Herren verstehen aber auch zu wenig Scherz und Spott, wenn sie der Zielpunkt desselben sind. Das sind ja nicht mehr als Schlagworte des Volkswitzes, der für die Vegetarier auch noch die hübsche Bezeichnung „Kohlrabiapostel" gefunden hat. Dass dieser harmlose Scherz nicht ganz unberechtigt ist, geht daraus hervor, dass noch neuerdings in St. Louis in den Vereinigten Staaten ein Vegetarierklub sich begründet hat, dessen Abzeichen ein hellgrüner Kohlrabi im milchweissen Felde ist! Übrigens haben sich die Vegetarier mit den Schimpfworten „Ritter vom Fleische", „Bauchdenker" u. dgl. genügend revanchiert. Wir wissen recht wohl, dass die Vegetarier nicht von den eigentlichen Pflanzenteilen, wie Wurzeln, Stengeln und Blättern leben, sondern sich instinktiv an die verdaulicheren Früchte halten.

Betrachten wir zunächst einmal, was für Pflanzennahrung denn überhaupt dem Menschen zu Gebote steht:

1. Getreidekörner, wie Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hirse, Mais und Reis;

2. Hülsenfrüchte, wie Erbsen, Bohnen, Linsen;

3. Wurzelgewächse: Kartoffeln, Möhren, Kohlrüben, Kohlrabi, Blumenkohl u. dgl.

4. Wurzelgemüse: Rettich, Radieschen, Meerrettich, Sellerie;

5. Krauter: Weisskraut, Wirsingkohl, Rosenkohl, Rotkohl, Spinat, Spargel, Zwiebel u. dgl.;

6. Salate;

7. Obstfrüchte: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Weintrauben, Johannis-, Stachel-, Preisseibeeren u. dgl., Citronen und Gurken;

8. Samenfrüchte: Mandeln, Haselnuss, Walnuss, Kastanien;

9. Pilze und Schwämme: Morcheln, Lorcheln, Steinpilze, Pfefferlinge, Champignon, Trüffeln.

Das alles ist Pflanzenkost, die in mannigfach wechselnder Auswahl und Menge von allen genossen wird, welche von gemischter Kost leben. Die überwiegende Mehrheit davon wird auch von den Vegetariern genossen, während nur einzelne Gruppen derselben, wie z. B. die Wurzelgemüse, streng verpönt werden. Ein Teil der Vegetarier beschränkt sich allerdings auf den ausschliesslichen Gebrauch der Cerealien und ihre verschiedenartigsten Zubereitungsarten und der Obstfrüchte, oder sogar auf die letzteren allein.

Die Wissenschaft erkennt als vegetarische Ernährung nur diejenige an, die sich ausschliesslich aus pflanzlichen Nahrungsmitteln gleichviel welcher Art zusammensetzt. Diese wissenschaftliche Umgrenzung des Begriffes „vegetarische Diät" erkennen leider die Vegetarier selbst nur zum kleinsten Teile an: nur diejenigen nämlich, welche theoretisch und praktisch die einzig logische Konsequenz aus ihren Anschauungen ziehen, die Vollblutvegetarier, die sog. „Rohkostler". Sie haben ihre beste litterarische Vertretung in Andries gefunden, der sich als klardenkender Kopf gerade dadurch erwiesen hat, dass er aus den Lehren des Vegetarismus unumwunden zu der Forderung gelangte, dass der Mensch ausschliesslich von in rohem Zustande geniessbaren Früchten leben müsse. Diese Radikalen sind in der Folgerichtigkeit ihres Denkens weitaus die sympathischsten unter den verschiedenen Variationen des Vegetariertypus. Sie allein werden der beliebten Devise „Treu der Natur" gerecht, weil sie alle künstlich zubereiteten Nahrungsmittel verschmähen. Sie schrecken indes meist vor der weiteren Konsequenz zurück, die Nahrung auch wie das liebe Vieh auf der Wiese oder sonstwo in der freien Natur zu suchen. Diese „Wüstlinge" unterscheiden sich ja vom Tier nur dadurch, dass sie statt Gras und Krauter Obst und Samenfrüchte wählen, aber sie pflücken sie nicht von Sträuchern und Bäumen, wie angeblich die ersten Menschen im Paradies, sondern sie kaufen sie wie alle anderen Sterblichen. Ein Teil der Rohkostler geniesst auch noch Salate, etwas Öl, namentlich Leinöl, und weniger Rigorose sträuben sich auch nicht dagegen, das verbackene Korn zu sich zu nehmen. Andere machen die Konzession den Kartoffeln, von denen sie täglich 2 Pfund und mehr verzehren. Da sie das aber nicht gut im rohen Zustande thun können, so begehen sie damit schon die erste Inkonsequenz am Prinzipe ihrer Nahrung. Die beliebtesten Nahrungsmittel der Rohkostler sind: Äpfel, Pflaumen, Birnen, Apfelsinen, Weintrauben, Rosinen, Feigen, Datteln, Erdnüsse, Hasel- und Walnüsse, alle naturgemäss in grossen Mengen, z. B. täglich l—1 1/2 Pfund Äpfel und Pflaumen und darüber, l Pfund Weintrauben, 1/2 Pfund Nüsse u. dgl. m. Dazu pflegen sie im allgemeinen nur wenig zu trinken. Das Bedürfnis nach Flüssigkeit ist nämlich so gering, weil die pflanzlichen Nahrungsmittel an sich ausserordentlich wasserreich sind und auch an sich wenig den Durst erregende Substanzen enthalten. Dennoch decken einzelne ihren Flüssigkeitsbedarf noch besonders durch Malzoder Gerstenkaffee, Lavendelthee u. dgl. Fast das einzig Nahrhafte in der Gesamtheit dieser Nahrung sind die Nüsse, ihres hohen Fettgehaltes wegen, dessen Nährwert sich manche Vegetarier auch instinktiv durch den erwähnten Ölgenuss verschaffen. Übrigens führen manche auch durch Zucker ihrem Körper eine sehr ergiebige Nahrungsquelle zu. Diejenigen, welche sich darüber hinweggesetzt haben, dass Kochen Sünde sei, geniessen auch zuweilen, ohne gegen das Prinzip zu verstossen, Mehl- und Reisgerichte, Spinat und andere gekochte Gemüse, Kompott u. dgl. m. Dadurch lässt sich schon eine beträchtliche Mannigfaltigkeit in die Nahrung bringen, während der reinen Rohkost eine für den Durchschnittsmenschen schnell widerlich werdende Eintönigkeit anhaftet. Ob gekochte oder ungekochte Pflanzenkost, Körner-, Obst- oder Samenfrüchte in dieser oder jener Kombination — das alles sind Variationen von untergeordneter Bedeutung, welche das hohe wissenschaftliche Interesse, das sich an eine ausschliessliche Pflanzennahrung knüpft, nicht zu schwächen vermögen. Es ist ganz verkehrt, wie es zuweilen von ärztlicher Seite geschehen ist, diese Ernährung als eine diätetische „Seiltänzerei" zu bezeichnen. Sie ist vielmehr durchaus eine in sich geschlossene, einheitliche und systematische Ernährungsform, aber man darf nicht behaupten, dass sie die dem Menschen „naturgemässe" sei. Denn eine gekochte Nahrung ist dies von vornherein niemals, und deshalb können eben als waschechte Vegetarier nur die wirklichen Rohkostler angesehen werden.

Diese Rohkostler sind die abnormsten unter den vielen abnormen Menschen, die man in den Reihen der Vegetarier findet. Sie sind „Naturmenschen" um jeden Preis, die auch in ihren sonstigen Lebensgewohnheiten, Kleidung, Wohnung, Schlaf u. dgl. den Standpunkt des paradiesischen Menschen krampfhaft oder vielleicht richtiger gesagt krankhaft innehalten. Zu derartigen Konsequenzen, mögen sie auch streng logisch sein, gelangt gewöhnlich kein Mensch, der die Welt so ansieht, wie sie wirklich ist, der die Dinge in ihrer Wirklichkeit aufzufassen und zu beurteilen gewöhnt ist und die gesitteten Verhältnisse der bestehenden Gesellschaftsordnung zu würdigen weiss. Zu solchen Extravaganzen neigen vielmehr immer nur Utopisten, die sich über alle Wirklichkeit hinwegsetzen, einer grauen Theorie zuliebe diese rücksichtslos in die That umsetzen wollen. Eine so unerbittlich strenge Logik führt allemal zur Absurdität, und darin liegt bereits der Begriff des Pathologischen.

So ergiebt sich uns denn die interessante Thatsache, dass die konsequenteste Durchführung des vegetarischen Ernährungsprinzips zu einer Utopie, zu einem Phantom führt, dessen Verwirklichung unter den Vegetariern selbst meisthin als ein unlösbares Problem für die Allgemeinheit betrachtet wird. In der Erkenntnis, dass die einzig richtige Ernährungsweise mittels roher Pflanzenkost schon für den einzelnen Menschen, geschweige denn für die grossen Volksmassen in weiten Distrikten der Erde undurchführbar ist, gelangte denn auch der einsichtig und logisch denkende Andries zu der ihm in ihrer weittragenden Bedeutung vollbewussten Forderung, dass die Menschen aus den nördlichen Klimaten in die tropischen und subtropischen Länder der Erde zurückkehren müssten, wo sie allezeit die Nahrung im Naturzustande so finden, wie sie vom Menschen genossen werden kann, d. h. frische, vollkommen reife und von der Sonne durchglühte Früchte, die dem Menschen als naturgemässe Nahrung gleichsam in den Mund hineinhängen. Das ist der Vegetarismus in seiner konsequentesten, logischsten und vollkommensten Gestalt! — eine Utopie aber in dem Geiste jedes vernünftigen Menschen, dessen Urteil nicht durch eine vorgefasste Lehrmeinung, durch eine phantastische Theorie voreingenommen ist. Das erkennen übrigens die Vegetarier selbst, denn sie haben nie daran gedacht, dem Beispiele Andries, nach den Tropen auszuwandern, zu folgen. Nur hin und wieder findet sich unter ihnen auch heute noch ein abenteuerlustiger Junggeselle, der den Staub der heimatlichen Scholle von den Füssen schüttelt und jene glücklicheren Gegenden durchstreift, welche den Menschen noch die Möglichkeit eines Naturlebens entfernt erhoffen lassen. Aber die Berichte, die man darüber zuweilen in den vegetarischen Schriften selber liest, sind wenig hoffnungsfreudig, sie klingen meist in eine ernste Warnung und Abmahnung aus. Sucht man also dem Vegetarismus, wie ihn die Logik und das Ideal erfordert, in der Praxis zu verwirklichen, so erweist er sich schnell als ein Phantasma unpraktischer Menschenkinder — eine ungesund geborene Idee, die aus sich selbst heraus sich ihr Urteil spricht.

Im instinktiven Gefühl der eben auseinandergesetzten Thatsachen — der Instinkt spielt bei den Vegetariern eine weit grössere Rolle, als bei anderen Menschen, ja er spielt bei ihnen sogar oft die Rolle eines Beweismittels! — hat denn die grosse Mehrheit der Vegetarier von jeher ihre Zuflucht zu animalischer Kost genommen, indem sie nicht nur Honig, Butter und Käse, sondern auch Milch und Eier, d. h. vom lebenden Thier stammende Produkte sich erlauben. Welche Inkonsequenz dieser Halbvegetarier, die sich noch immer brüsten, wirkliche Vegetarier zu sein! Sie perhoreszieren die frische Auster, aber sie essen die Eier von allem Federvieh! Sie argumentieren freilich, dass der Genuss dieser tierischen Nahrungsmittel erlaubt sei, weil sie nicht vom toten, sondern vom lebenden Tier genommen werden. Damit wird das ganze vegetarische Prinzip über den Haufen geworfen! Es kommt ein ganz neuer Gesichtspunkt in die Sache hinein, der mit dem Vegetarismus an sich, mit der physiologischen Bedeutung einer Pflanzenkost nicht das Geringste zu thun hat. Es wird ein physiologisch-hygienisches Motiv mit einem ethischen in ganz unberechtigter Weise verknüpft. Was hat die angebliche Sündhaftigkeit des Tiermordes mit den gesundheitlichen Vorteilen oder der naturgemässen Bestimmung der Pflanzennahrung für den Menschen zu thun? Der Wert des ethischen Momentes wird an anderer Stelle eingehend gewürdigt werden. Hier sei nur auf den Widerspruch hingewiesen, den die Vegetarier in ihre eigene Lehre hineinbringen, dadurch, dass sie theoretischden Menschen als frugivor infolge geschichtlicher Entwicklung und natürlicher Anlage betrachten, in praxi aber Nahrungsmittel geniessen, die nicht nur nicht Früchte, sondern nicht einmal pflanzlichen Ursprungs überhaupt sind. Auch hier führt also uns eine kritische Betrachtung des eigenen Entwicklungsganges des vegetarischen Prinzipes zu der Erkenntnis ihrer ganzen Absurdität. Worte, nichts als Worte, graue Theorie bilden die Grundlage des vegetarischen Ernährungsprinzips.

Zumeist fühlen diese Halbvegetarier die Schwäche ihrer Position selbst, wenn sie in die Lage versetzt werden, eine wissenschaftliche oder auch nur logische Begründung dieses ihres Kompromisstandpunktes geben zu sollen. Dann machen sie in ihrer Beweisführung regelmässig von der anatomisch-physiologischen Argumentation, welche die Rohkostler vollkommen zu rechtfertigen vermag, einen kühnen Gedankensprung zur Ethik hinüber, deren sie zur Hilfe dringend bedürfen.

Alle Welt versteht unter Vegetarismus die Ernährung durch Pflanzenkost. Der beste Beweis dafür scheint mir die Thatsache zu sein, dass die Führer der modernen Vegetarierbewegung sich selbst dessen voll bewusst sind, dass die ganze Bewegung bald im Sande verlaufen würde, wenn diese Auffassung des Begriffes dem Volke nicht mehr mundgerecht wäre. Die Ernährungsfrage ist das notwendige Aushängeschild, um die Massen zu interessieren! Für die ethische Begründung des Vegetarismus hat der gewöhnliche Mann gemeinhin kein Verständnis. Doch darf die Lehre beanspruchen, von der Wissenschaft und überhaupt von jedem denkenden Menschen auch in ihren sittlichen Motiven ernst geprüft zu werden. Das wird später Gegenstand einer besonderen Betrachtung sein; hier ist nur der Ort, darauf hinzuweisen, dass von den Vegetariern der Vegetarismus häufig als die ethische Lehre zur Erlangung eines höheren sittlichen Lebens, reinerer Lebensfreude, zur Erreichung des höchsten menschlichen Glückes, Freiheit und Zufriedenheit ausgegeben wird. Über diese anspruchsvolle Definition des Begriffes verlohnt es sich doch, einige Worte noch zu sagen. Vegetarismus ist „die bewusste Erfüllung aller Lebensbedingungen", so erläuterte der kluge Baltzer, und dieser Satz ist vielfach zu einem Schlagwort, zu einer Phrase im Munde der Vegetarier geworden. Man erinnert sich dieses goldenen Ausspruches des Meisters immer wieder, wenn die rohe materialistische Auffassung des Vegetarismus die Überhand zu gewinnen droht. Der Vegetarismus führt zu einer besseren Lebensgestaltung, so wird argumentiert, weil er dem Menschen die naturgemässe Nahrung giebt, die ihn in den Stand setzt, allen Anforderungen so zu genügen, wie er dazu von Natur befähigt sei. Die Pflanzennahrung ist nun ein Teil des naturgemässen Lebens überhaupt, indem alle äusseren Schädlichkeiten nach Möglichkeit ferngehalten werden sollen. Der Vegetarier befleissigt sich deshalb im allgemeinen möglichst einfacher Verhältnisse in allen Lebenslagen, im Wohnen, Schlafen, Kleiden, er führt einen geregelten Lebenswandel, sucht Arbeit und Erholung, Bewegung und Ruhe in zweckmässiger Weise miteinander abwechseln zu lassen; er vermeidet alle Exzesse und Extravaganzen, die sich ihm namentlich im modernen Leben der Grosstadt überreichlich darbieten. Vor allem vermeidet er den Genuss alkoholischer Getränke, meist auch des Kaffees, und verabscheut das Rauchen. Er sucht den Anforderungen der Hygiene im praktischen Leben möglichst gerecht zu werden und alle sittlich depravierenden Lebensbräuche auszuschalten.

Welcher sittlich denkende und fühlende Mensch möchte diese Anschauung nicht für durchaus gesund und vernünftig, für beachtens- und nachahmenswert halten!

Es soll gar nicht geleugnet werden, dass eine nicht zu unterschätzende Bedeutung des Vegetarismus für die öffentliche Hygiene und das allgemeine gesellschaftliche Wohl darin liegt — was von den Gegnern dieser Lehre fast ausnahmslos verkannt oder missachtet wird —, dass der Vegetarismus in dieser Auffassung als ein praktisch wertvolles Mittel zur Hebung der allgemeinen Moral, zur Steigerung der Zufriedenheit und zur Ausgleichung der sozialen Unterschiede dienen könnte. Der Zweck könnte dies Mittel heiligen, wenn es gut wäre! Ohne Zweifel steht mancher Vegetarier vom Standpunkt der Moralphilosophie aus betrachtet in seiner sittlichen Lebensführung auf höherer Stufe, als der Durchschnitt der modernen Kulturmenschen mit der Unzahl ihrer lasterhaften Sitten und Gewohnheiten, andererseits beweisen zahlreiche Beispiele, dass auch vegetarische Ernährung mit einem sehr unsittlichen Lebenswandel vereinbar ist - - ein Beweis, wie wenig die Ernährungsform mit einem ethischen Motive im Grunde genommen gemeinsam hat. Es ermangelt auch historisch jeglichen Beweises dafür, dass die vegetarischen Bestrebungen, die ja fast so alt wie die Menschheit selbst sind, je einmal zu einer Zeit einen veredelnden Einfluss auf die Menschheit ausgeübt hätten. Wenn die Vegetarier dagegen einwenden sollten, dass der Erfolg ausgeblieben wäre, weil diese Ernährungsform nicht Allgemeingut des Volkes geworden ist, so liefern sie damit nur einen Beweis für die Unbrauchbarkeit dieses Mittels zur Erreichung höherer sittlicher Zwecke. Die Vegetarier bilden sich in der Regel ein, allein im Besitz des Steins der Weisen zu sein, der die Menschen glücklich machen könnte. Auf wie unendlich viel verschiedenen Wegen ist das Ziel der Erreichung menschlicher Glückseligkeit von Philosophen und Politikern aller Zeiten und Völker angestrebt worden! Wie es gar viele Wege giebt, die nach Rom führen, so auch viele Mittel und Wege, welche zu Glück und Zufriedenheit führen. Die Philosophie, die in der vegetarischen Lebensanschauung gelegen ist, erscheint aber gerade als besonders ungeeignet, um den Menschen diesem Ziel näher zu rücken, weil es mit einer Beschränkung der Ernährung untrennbar verknüpft ist, welche nun einmal für alle sündigen Menschen die hauptsächlichste Quelle ihrer Kraft ist. Für die grosse Menge ist gerade dieser Weg am schwersten gangbar, weil sich kein Sterblicher gern gerade in dieser Beziehung etwas versagt oder verkürzen lässt. Das ist nun einmal eines der ureigensten Motive des menschlichen Lebens, mit welchem die Zufriedenheit im Dasein steht und fällt. Nichts verträgt selbst der Bescheidenste schwerer, als eine Beschränkung in der Nahrung, die für all und jeden die erste Lebensbedingung bildet. Mit dem Vegetarismus ist aber stets eine Beschränkung der Nahrung verbunden, wie umfangreich und mannigfaltig man auch die Ernährung gestalten mag. Deshalb kann keine Lebensphilosophie, die mit derartigen Ernährungsgrundsätzen verquickt ist, je Aussicht machen, Gemeingut grösserer Volksmengen zu werden! Nur der einzelne, der auf hoher ethischer Stufe steht, und ein beträchtliches Mass philosophischer Selbsterkenntnis und Resignation den materiellen Freuden dieses Lebens gegenüber errungen hat, wird geneigt und imstande sein, für seine Überzeugung und sein innerliches Leben ein solches Opfer zu bringen. Tolstoi ist ein weithin leuchtendes Beispiel dafür.

Auf der anderen Seite kommt der Ernährung im menschlichen Leben nicht die Bedeutung zu, welche ihr vom Vegetarismus zugeschrieben wird. Lediglich die Philosophen und Politiker des Vegetarismus haben den Versuch gewagt, die Ernährung des Menschen zum Mittel- und Angelpunkt des ganzen Lebens zu mache n. Die soziale Frage gipfelt aber nicht in der Ernährungsfrage. Die letztere bildet zwar einen nicht unwichtigen, aber durchaus nicht den ersten oder hauptsächlichsten Teil der Organisation der menschlichen Gesellschaft Wenn auch einst der Philosoph auf Preussens Königsthrone das klassische Wort geprägt hat, dass „alle Kultur vom Magen ausgeht", und wenn auch der Schöpfer der „Kritik der reinen Vernunft" einmal den später viel missbrauchten Satz ausgesprochen hat, dass „der Mensch ist, was er isst", so weiss doch jeder denkende Mensch, dass solche Schlagworte nicht wörtlich zu nehmen sind, sondern nicht mehr als geistreiche Thesen sind, die mehr blenden, als überzeugen sollen. Denn wenn je die Moralphilosophie sich zu solchen Anschauungen bekennen sollte, welche die Ernährung als den Hauptzweck des Lebens ansehen, dann würde sie auf nichts anderes als auf die rohe materialistische Weltanschauung hinauskommen, welche um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts eine Zeit lang nicht gerade die schlechtesten Geister Deutschlands fasziniert hatte. Alle Werte des Lebens sinken, wenn die Ernährung zum Hauptzweck desselben wird. Wie für den einzelnen, so giebt es aber auch für die grossen Volksmassen noch eine ganze Reihe anderer Lebensbedingungen, welche zur Unterhaltung des Lebens und zur Erreichung möglichster Glückseligkeit und Zufriedenheit notwendig sind. Es ist nicht nur die Sorge ums liebe Brot, die in den sozialpolitischen Kämpfen aller Zeiten das Leitmotiv gewesen ist, sondern der Drang nach Freiheit, nach Unabhängigkeit, nach Selbständigkeit des Individuums, nach Erreichung der möglichst besten äusseren Lebensverhältnisse, nach Erwerbung äusserer Güter u. dgl. in. Die Ernährungsfrage ist nur einer der vielen Faktoren in der Reihe sozialpolitischer Momente, welche im Leben aller Völker sich ununterbrochen geltend machen.

Wenn die Bedeutung der Ernährung für die soziale und politische Existenz der Menschen als ein Motiv zur Begründung vegetarischer Lebensanschauung hervorgehoben wird, dann widerspricht der Vegetarismus sich selbst, soweit er sich als der Ausfluss einer höheren Sittlichkeitsidee auszugeben versucht. Denn jene Betonung des materialistischen Grundzuges im Vegetarismus steht im schroffen Gegensatz zu der idealen Auffassung des Vegetarismus als einer geläuterten Lebensauffassung, in der die geistigen und sittlichen Interessen hinter den materiellen zurücktreten sollen.

Also auch diese Definition des Begriffs „Vegetarismus" führt, bis zur letzten Konsequenz ihrer Idee verfolgt, zu einer Absurdität, zu einer Contradictio in adjecto.

In seiner ethischen Definition verliert der Vegetarismus überhaupt die Grenzen eines exakten Begriffes; die Philosophie, die ihm zu Grunde liegen soll, verliert sich ins Uferlose, weil sie bestimmter Normen entbehrt. Für eine naturwissenschaftliche Betrachtung ist und bleibt deshalb der Vegetarismus nichts anderes, als eine der vielen Formen der Ernährung, die dem Menschen zu Gebote stehen, wie es ja auf allen Gebieten des physischen und geistigen Lebens mannigfache Erscheinungsformen desselben giebt, die bei der intellektuellen Vielseitigkeit des Genus „homo sapiens" nebeneinander bestehen können.

Zeugen auch die unausgesetzten Bemühungen der Vegetarier, die besondere Art ihrer Ernährung auf einer breiteren, das ganze Menschsein umfassenden Grundlage zu begründen, von einem hohen, anerkennenswerten Streben nach sittlicher Vervollkommnung, so kann indes die kritische Naturforschung eine solche Erweiterung des Begriffes des Vegetarismus nicht gelten lassen. Der Vegetarismus muss auf die eigentlichen Grenzen seines Gebietes beschränkt bleiben, wenn anders er nicht zur nichtssagenden philosophischen Phrase werden soll.


4. Die Vegetarier.

Die Vegetarier zählen ihre Scharen in Deutschland auf rund 2000. Dies Häuflein ist verschwindend klein, in einer Seelenzahl von fast 50 Millionen, aber es weiss stets von sich reden zu machen und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das wäre nicht möglich, wenn der Bewegung nicht ein Körnchen Wahrheit zu Grunde läge, wenn sie nicht wenigstens eine berechtigte Ursache hätte. Und die ist in der That da: Der Vegetarismus stellt sich, vom Standpunkt einer historischen Entwicklung der Volksernährung betrachtet, dar als die Reaktion gegen die Auswüchse einer übertrieben verfeinerten und komplizierten Ernährung, insbesondere des übermässigen Gebrauches von Fleisch und im Zusammenhang damit vieler anderer schädlicher Lebensgenüsse und Lebensgewohnheiten. Von jenen 2000 Vegetariern gehören etwa 1300 zur Zeit dem deutschen Vegetarierbund an, der seine Mitglieder wie eine politische Partei oder eine religiöse Sekte in bewundernswerter Zucht zusammenhält. So sehr die intelligentesten unter den Vegetariern sich auch immer dagegen zu sträuben pflegen, so lässt sich doch die Thatsache unzweideutig erkennen, dass sie wie eine in sich abgeschlossene Glaubensgemeinde dastehen, die wenig Beziehungen nach aussen hat und sucht. Sie haben ihre eigenen Ansichten von Menschen und Welt und machen oft für ihre Überzeugung Propoganda mit einem Feuereifer in Wort und Schrift, der einer besseren Sache würdig wäre. Die Inzucht ihrer Ideen in den Kreisen ihrer Anhänger, welche die Kritik Aussenstehender weit abweisen, ist die Ursache der auffälligen Erscheinung, dass selbst hochbefähigte Männer in diesem Bannkreise oft Logik und kritischen Sinn verlieren und sich in ihre vorgefassten Meinungen so verrennen, dass sie alle Dinge der Welt von dem einseitigen Standpunkte vegetarischer Weltanschauung betrachten. Nur so erklärt sich die Häufigkeit von Persönlichkeiten unter den Vegetariern, wie man sie gemeinhin als „Sonderlinge" zu bezeichnen pflegt. Es ist ein ganz eigenartiges Gemisch von Menschen, aus denen sich die vegetarische Gemeinde zusammensetzt, aber die Haupttypen aus demselben findet man überall wieder.

Da sind zunächst die Kranken. Mindestens 80—90 Proz. aller Vegetarier sind solche geworden in den Tagen der Krankheit, in denen sie ihre letzte Hoffnung auf die Änderung ihrer Ernährungsweise gesetzt haben, und mindestens 50 Proz. der Vegetarier sind noch Kranke, wenn sie dieses Regime auf Jahre lang fortsetzen,

oft freilich ohne den Mangel voller Gesundheit eingestehen zu wollen. Denn nicht immer äussert sich bei ihnen das Kranksein in manifesten Symptomen, welche sie aufs Bett werfen oder sie arbeitsunfähig machen, wenigstens eine Zeit lang nicht, sondern häufig nur in latenten Erscheinungen, welche nur der kundige Blick des erfahrenen Arztes zu erkennen vermag. Da sieht man diese hageren und mageren Gestalten mit schlaffer, welker Haut und bleichem Angesicht, kraft- und saftlos ausschauend, nichts von dem Bilde strotzender Gesundheit, das man doch sonst unter einer beliebig ausgewählten Zahl von Menschen ziemlich zahlreich findet. Beim Anblick der grossen Mehrheit der Vegetarier wird der erfahrene Arzt seine Diagnose in das charakteristische Wort „Unterernährung" zusammenfassen. Selbst die Bestgenährten unter ihnen überschreiten niemals den normalen Durchschnitt, der schlechte Ernäherungszustand der grossen Mehrheit ist aber nicht durch die vegetarische Ernährung selbst verschuldet, sondern durch die unzureichende Nahrungszufuhr, die leider oft damit verknüpft ist. Beim Übergang von der gemischten Kost zur vegetarischen pflegt meist eine nicht unerhebliche Gewichtsabnahme ziemlich rapid einzutreten und dann konstant zu bleiben. Die Vegetarier betrachten das freilich als ein Zeichen der Gesundung des Organismus, als den Ausdruck der Reinigung des Körpers von den Schlacken der Fleischnahrung.

„Das Körpergewicht der meisten Menschen", sagt August Leiner, „in Kulturländern ist mit wenig Ausnahmen ein abnormes, viel zu hohes. Solange gekochte Nahrung, gleichviel ob gemischte Fleischkost oder Pflanzendiät, eingenommen werden, muss notwendigerweise durch die tägliche unnatürliche Reizung der Geschmacksnerven ein Zustand der Überfütterung eintreten, welcher sämtliche Organe in ihrer natürlichen Funktion stört — nicht das Maximum, sondern das Minimum des Körpergewichts bedeutet Gesundheit, Ausdauer und Kraft."

Von dem Weisheitsstandpunkte dieses kompetenten „Physiologen" bedeuten also Abzehrung und Schwindsucht keine Krankheiten, sondern sie sind Symptome der Erstarkung des Körpers. Diese Anschauung ist wieder einmal ein Beispiel so krassen Unsinns, wie ihn nur jemand aussprechen kann, der von den biologischen Grundgesetzen auch nicht die leiseste Ahnung hat. Wahr ist einzig und allein, dass ein Übermass an Nahrung schädlich sein kann, und die ärztliche Wissenschaft hat seit den Zeiten des Hippokrates immer gelehrt, dass das Maximum in der Nahrungszufuhr ebenso zu widerraten ist, wie das Minimum. Der wirklich Gesunde bewegt sich aber bei jeglicher Ernährungsform auf der Mittellinie. Auch hier hat also die vegetarische Argumentation etwas Erkünsteltes und Unlogisches an sich.

Ebenso scharf wie die körperlichen Stigmata sind dem Durchschnitt der Vegetarier auch die geistigen auf die Stirn gedrückt. Schon ihr äusseres Gebahren kennzeichnet sie oft als Sonderlinge. Sie tragen lange, nicht geschorene Haare auf dem Kopf, weil der Mensch alles so wachsen lassen soll, wie es die Natur geschaffen hat. Da alles, was vom Tier stammt, ihnen in der Seele zuwider ist, so tragen sie keine Lederhandschuhe und Lederstiefel, keine Pelze und keine wollenen Kleidungsstücke; sie bergen ihre leider oft spärlichen Barschätze nie in einem ledernen Portemonnaie, und der waschechte Vegetarier schläft unter keiner Federdecke, sondern lässt sich seine Lagerstätte aus Heu, Moos und Farrenkraut bereiten.1)

1) Die Anschauungen, die sie vertreten, hat Rudolf Baumbach in einem niedlichen Gedicht prächtig persifliert:

Liebchen heut in Gesellschaft geht,
Zeigt sieh in raschelnder Seide,
Fragt mich, wie ihr das Hütchen steht
Und die Schleppe am Kleide.

Wie ich die schlanke Jugendgestalt
Mustre mit prüfenden Blicken,
Rieselt ein Schauer mir eisigkalt
Plötzlich hinunter den Rücken.

Alles vom Stiefelchen Ms zum Hut
Sitzt dir wie angegossen,
Aber wieviel unschuldig Blut
Ist um dich, Teure, geflossen!

Seidenwürmer wohl tausend und mehr,
Mussten ihr Leben lassen
Für den Stoff, den du hinter dir her
Schleppst durch die staubigen Gassen.

Für dein zierliches Stiefelpaar
Musste ein Kälbchen verenden,
Und Hermeline, ein Dutzend gar,
Mussten die Fellchen dir spenden.

Deine Handschuh glatt und weich,
Gab dir ein blühendes Lämmlein,
Und die Schildkröt im kühlen Teich
Lieferte dir das Kämmlein.

Walfisch schwamm im riesigen Meer
Fröhlich hin und wieder —
Stirb und gieb dein Fischbein her!
Liebchen braucht's fürs Mieder.

Pfeilgeschossen ein Elefant,
Musste im Urwald erblassen,
Hat für den Fächer in deiner Hand
Leben und Zähne gelassen.

Sterbend gab dir der Wüstenstrauss
Wallende Federn als Steuer.
Trinke auch mir die Seele aus,
Reizendes Ungeheuer!

Doch gelangt nur ein kleiner Teil der Vegetarier in unerbittlicher Konsequenz ihrer Logik zu solch kuriosen Absurditäten. Es ist jene schon früher einmal gekennzeichnete Gruppe, deren Denkfähigkeit hart an der Grenze des Normalen steht, wenn sie nicht gar schon pathologisch geworden ist. Der Hass gegen alles Tierische ist bei ihnen zur fixen Idee geworden, sie sind in ihren Ideen meist um so mehr versessen, jemehr sie sehen, dass sie von anderen perhorresziert werden oder unbeachtet bleiben. Sie selbst sind unzugängig für jede andere Art des Denkens und Empfindens und halten sich selbst für die besten, geistig reifsten Menschen, ihre Weltanschauung für die abgeklärteste und sittlich höchst stehende.

Diesen geistig „Verbohrten" reiht sich eine andere Gruppe mit ausgesprochen pathologischem Charakter an, diejenigen mit dem physiologischen Schwachsinn, mit der angebornen geistigen Minderwertigkeit: die Imbezillen, bei denen nicht der Verstand, sondern das Gemüt das Übergewicht im allgemeinen hat und bei ihnen auch die Triebfeder des Vegetarismus ist. Ihr Motiv ist das Mitleid mit dem lieben Vieh, das hier Hand in Hand mit dem tiefen Hass gegen die Vivisektion geht. Die Humanitätsphrase und die Gefühlsduselei sind hier die Triebfedern, meist unbewusste Empfindungen, die sich vor dem Verstand nicht zu rechtfertigen wissen. Das sind die Menschen, die über jeden Tropfen Blut, den sie fliessen sehen, einen Schauer empfinden und sich gruselnd von dem Schlächterladen abwenden, in dem ein ausgenommenes Kalb hängt. Bei aller Achtung für die tiefe Gefühlsempfindung dieser Menschen kann man mit ihnen über geistige Interessen kaum rechten, sie liegen über dem Niveau der Hirnproduktionen dieser Menschen. Unter den Vegetariern, welche mit dem Gefühls- und Humanitätsmotiv ihre Anschauung zu begründen versuchen, rangiert die Mehrzahl der weiblichen Anhänger.

Geistig unreif ist auch zumeist das grosse Kontingent von Anhängern, welches den Vegetarismus ständig aus den Reihen jugendlicher, noch nicht erwachsener Personen zuströmt. Es ist eine Seltenheit, dass sich ein älterer, schon auf der Höhe seines Lebens befindlicher Mann noch dem Vegetarismus anschliesst. Die meisten begeistern sich dafür am Ende des zweiten oder höchstens dritten Lebensjahrzehnt, nicht aus tieferer Erkenntnis der Beweggründe, die den Vegetarismus stützen sollen, sondern infolge unklarer Vorstellungen, die. in ihnen durch halbverdaute Lektüre vegetarischer Schriften oder die werbende Kraft der überzeugenden Redegewandtheit irgend eines älteren Gesinnungsgenossen geweckt werden. Das Gemüt der Jugend ist leicht empfänglich und leicht zu Thaten bereit, wo der Verstand noch nicht fertig ist. Bei seinen ersten schüchternen Denkversuchen wird ein junger Mensch durch eine zufällige Einwirkung von aussen sehr leicht in eine einseitige Gedankenrichtung abgelenkt. Es fehlt ihm noch an Lebenserfahrungen, Kenntnis und Umsicht, vor allem aber noch an Urteil, um das Vorgetragene voll würdigen zu können, vor allem, um den Gedanken fassen zu können, dass die Dinge auch anders liegen könnten, als in der ihm gegebenen! Darstellung. Die Kritik erwächst allemal nur auf dem Boden der Erfahrung und scharfer Denkfähigkeit, was beides noch nicht vollentwickelten Individuen nur selten zu eigen ist. Einmal verführt, pflegen diese jungen Menschen in ihrem Ideenkreise oft jahrelang sich einzuschliessen, ja sie werden oft die eifrigsten Apostel der neuen Anschauung, bevor sie selbst sich über dieselbe ganz klar geworden sind. Daher die grosse Zahl der Proselyten unter diesen jugendlichen Schwärmern.

Einen nicht geringen Teil dieser eben geschilderten Gruppe treiben aber gar nicht geistige Anteilnahme, sondern rein materielle Interessen in die Arme des Vegetarismus: die wirtschaftliche Not, Zur Bestreitung des Lebensunterhaltes oft auf die spärlichen Unterstützungsmittel von Hause oder auf den kärglichen Verdienst aus dem eigenen Berufe angewiesen, reichen diesen jungen Leuten oft nicht die Mittel zu einer gewöhnlichen Mittagsmahlzeit oder überhaupt nicht zu der landesüblichen gemischten Kost, in der die teuren Fleischspeisen einen nicht geringen Raum einnehmen, und so nehmen sie denn in der Bedrängnis ihres Geldbeutels ihre Zuflucht zum vegetarischen Speisehaus, dem sie treu bleiben, bis reichlichere Subsistenzmittel ihnen die Fleischtöpfe wieder erschliessen. Aus eben diesem rein ökonomischen Grunde hat auch mancher mehr mit Kindern als Vermögen gesegnete Familienvater, in dessen Hause Schmalhans Küchenmeister sein muss, die vegetarische Kost eingeführt und so zuweilen fast wider Willen die Kinder zu dieser Lebensanschauung erzogen, nicht immer für die Dauer.

Aus der gegebenen Übersicht der verschiedenen Gruppen von Vegetariern ist bereits ersichtlich, dass sehr verschiedene Motive die bunt zusammengewürfelte Schar zueinander führt, in der sich alle Alterklassen, alle Erwerbs- und Berufsstände vertreten finden, wenngleich die kleineren Gewerbetreibenden und Handwerker im jugendlichen Alter die Mehrheit bilden. Bemerkenswert ist nur noch eine grössere Zahl von Volksschullehrern, Schriftstellern, Privatgelehrten u. dgl. mit wissenschaftlicher Halbbildung. Doch einige Typen der Vegetarier verdienen noch besondere Besprechung. Da ist zunächst die Gruppe der vegetarischen Speisewirte, die, meist oder oft Männer von grosser Aufopferungsfähigkeit und Uneigennützigkeit, grosse Verdienste um die Propaganda für den Vegetarismus haben. So ein vegetarisches Speisehaus ist meist kein Geschäft, um dabei reich zu werden. Die Wirte dienen meist mehr der von ihnen vertretenen Sache, als sich selbst. Denn die echten Vegetarier essen ja überhaupt nicht in Speisewirtschaften, sondern bereiten ihre mehr als „frugale" Kost sich auf eigenem — Herde, wollte sagen auf eigener Schüssel; denn ihre Rohkost scheut Feuer und Kochtopf. Die weniger rabiaten, die man immer noch als echte Vegetarier anerkennen kann, weil sie tierische Produkte jeder Art grundsätzlich verschmähen, kochen sich wenigstens öfters Kartoffeln, Grützen, Mehlspeisen u. dgl. und bereiten sich auch Obst und Früchte gelegentlich schmackhaft zu. Doch auch sie geben den vegetarischen Speisewirten selten und wenig zu verdienen, und so sehen sich denn diese häufig genötigt, um auf ihre Rechnung zu kommen oder auch wohl den Nachfragen ihrer Gäste Genüge zu thun, nicht nur Milch, Butter, Eier und Käse und daraus bereitete Speisen verschiedenster Art, sondern selbst Bier und Wein abzugeben. Wie die Vegetarier, so unterscheiden sich auch ihre Speisehäuser sehr voneinander. Die Gäste in diesen Wirtschaften setzen sich beileibe nicht ausschliesslich aus Vegetariern zusammen, sondern neben vielen Neugierigen giebt es da zahlreiche arme Schlucker, die kein Fleisch bezahlen können. Auch wechselt das Publikum dort überraschend oft, zum Teil deshalb, weil die Probekandidaten keinen dauernden Geschmack an dieser Kost finden. Gerade aber in den besten Speisehäusern dieser Art kann man sich davon überzeugen, dass die vegetarische Kost durchaus nicht, wie Unwissende immer behaupten, geschmacklos sei; die schmackhaften Speisen pflegen freilich gerade die teuersten zu sein, z. B. die vegetarischen „Cotelettes", sodass bei starkem Appetit eine Mittagsmahlzeit in einem vegetarischen Speisehause kaum billiger wird, als in irgend einem anderen Restaurant! In der Hausmannsküche lässt sich die vegetarische Kost sogar noch schmackhafter gestalten. Weit mehr berechtigt scheint mir der Vorwurf gewisser Eintönigkeit in der vegetarischen Kost, da es namentlich unter den billigen Gerichten keine grosse Auswahl giebt. Als ein Muster eines Speisewirtes galt lange Jahre in Berliner Studentenkreisen Carlotto Schulz, der seine Gäste nicht nur leiblich, sondern auch geistig stärkte. Dass es unter diesen Wirtsleuten auch manche giebt, die rein geschäftliche Interessen verfolgen, ist selbstverständlich.

Die eigentlichen Geschäftsvegetarier sind aber ganz anderwärts zu suchen, nämlich in jener Gruppe, die in Vegetarismus als Heilmethode „machen." Das sind meist Leute, die im Leben Schiffbruch gelitten haben und die Heilkunst, die in Deutschland bekanntlich vogelfrei ist, für das leichteste Gewerbe halten, um sich mittels desselben einen Unterhalt zu verschaffen. Da sie auf diesem Gebiete nur Erfolge haben können, wenn sie sich in möglichst schroffen Gegensatz zur wissenschaftlichen Heilkunde stellen, so wählen sie, wie in ändern therapeutischen Fragen, so auch in der Diätetik, gerade denjenigen Standpunkt, der von den Aerzten nicht allgemein anerkannt ist. So machen sie denn den Vegetarismus zur Panacee und werden oft die lebhaftesten Fürsprecher desselben nicht aus Interesse für die Sache, sondern für ihre Taschen; denn diese Leute glauben und thun oft selbst nicht dasjenige, was die ändern mit einem anscheinend überzeugungsgetreuen Wortschwall empfehlen. Leider spielen diese Kurpfuscher vielfach eine führende Rolle in der vegetarischen Bewegung. Auch sonst giebt es unter den Vegetariern vielfach solche, die es mehr dem Worte als der That nach sind, welche die Grundsätze theoretisch vertreten, für ihre Person aber sehr lässig oder garnicht innehalten. All den geschilderten verschiedenen Typen der Vegetarier gegenüber, deren Erscheinung auf den unbefangenen Beobachter im allgemeinen einen wenig angenehmen Eindruck macht, giebt es doch eine nicht kleine Zahl unter ihnen, denen wir als Menschen und Männern unsere Achtung nicht versagen dürfen. Es sind Männer, die, wenn auch in ihrem Urteil durch den einseitigen beschränkten Gesichtskreis ihrer Anschauungen befangen, doch mit ehrlicher Überzeugung an der Sache hängen, selbstlos denken und handeln und nur das Beste für ihre Mitmenschen erstreben. Mag man sie auch als verirrte und verblendete Schwärmer, Idealisten, Utopisten u. dgl. betrachten, ihre Motive sind rein und edel, ihr Wollen ernst, ihr Thun gewissenhaft. Es sind darunter auch Männer von reicher Bildung und hoher Intelligenz. Man darf sie, wenn man gerecht sein will und kann, ebensowenig wie einen politischen Gegner mit Spott und Hohn überschütten, oder achselzuckend und mitleidig missachten. Ihnen die Hinfälligkeit ihrer Behauptungen und Beweisführungen vor Augen führen, das ist auch diesen anders Gesinnten gegenüber die einzig richtige und würdige Taktik, die auch der Wissenschaft geziemt in einer Frage, der ohne Zweifel ein hervorragendes wissenschaftliches Interesse zukommt. Dies zu unternehmen, ist der Zweck der folgenden Abschnitte dieses Buches.


Die Beweismittel des Vegetarismus.

5. Vergleichende Anatomie, Entwicklungsgeschichte, Urgeschichtsforschnng und Ethnologie.

Die Vegetarier sind ernsthaft bestrebt gewesen, mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft, die ihnen, die zumeist Laien sind, zu Gebote stehen, Beweise für die Berechtigung und Notwendigkeit einer vegetarischen Ernährung zu bringen. Sie haben naturwissenschaftliche und medizinische Werke fleissig durchstöbert und aus ihnen herausgelesen, was nur irgend als Stütze für ihre Theorie verwertet werden könnte. Sie haben dabei sogar teilweise eine bemerkenswerte Verstandesschärfe gezeigt und aus den Thatsachen oft richtige und bindende Schlussfolgerungen abgeleitet, die zu Gunsten ihrer Lehre zu sprechen scheinen.

In der kritischen Würdigung dieser wissenschaftlichen Beweisgründe wollen wir, wohl ganz im Sinne der Vegetarier selbst, die anatomischen voranstellen. Hier sind sie am glücklichsten und erfolgreichsten gewesen. Das Genus „homo sapiens" ist durch seine körperliche Organisation auf die Pfanzennahrung hingewiesen! Das ist das Dogma der wissenschaftlichen Vegetarier, für dessen Beweis sie die Beläge aus den Thatsachen der vergleichenden Anatomie geholt haben. Der Mensch hat, sagt Schlickeysen, einen natürlichen diätetischen Charakter, wie jedes Tier ihn für sich hat. Der des Menschen sei die Fruchtesserei. Das dokumentiere sich in der anatomischen Disposition des Menschen, die sich nicht nur in der Einrichtung des ganzen ihm eigenen Verdauungsapparates von den Zähnen bis zum Enddarm offenbare, sondern auch noch in vielen anderen spezifischen Eigentümlichkeiten seiner körperlichen Organisation.

Körperbau, Entwicklung und Gestalt seiner äusseren und inneren Organe bestimmen den Menschen zum Pflanzenesser — so behaupten die Vegetarier. Sie unterscheiden die Tierwelt mit Vorliebe nach ihrer Nahrung in folgenden Gruppen:

1. Omnivoren: das Schwein.

2. Zoophagen oder Karnivoren (Fleischfresser): die Raubtiere (Carnaria), wie Tiger, Löwe, Bär, Hund und Katze und die Insektenfresser: Igel, Maulwurf, Fledermaus.

3. Phytophagen: a) Wurzelfresser, zu denen gewisse Beuteltiere gehören; b) Grasfresser: Kind, Pferd, Wiederkäuer, Elefant und c) Fruchtfresser-Frugivore: die plattnasigen und geschwänzten Affen und Anthropoiden wie Orang, Gorilla, Hylobates (Gibbon).

Ein solches diätetisches Einteilungsprinzip lässt die wissenschaftliche Zoologie nicht gelten, weil die Ernährung der einzelnen Tierarten keine feststehende oder unabänderliche ist. Wenn auch, wie nicht geleugnet werden soll, die Einrichtung des Verdauungskanals, insbesondere das Gebiss, eine gewisse Disposition für eine bestimmte Nahrung abgiebt, so beweisen doch zahllose Beispiele aus allen Klassen des Tierreiches, und insbesondere der Säugetiere, dass fast alle tierischen Lebewesen unter veränderten Lebensverhältnissen auch andere Nahrung zu geniessen und verdauen lernen. So hat z. B. die paläontologische Forschung mit Sicherheit nachgewiesen, dass im Tertiär und Diluvium pflanzenfressende Säugetiere vorgeherrscht haben, während im Quartär die fleischfressenden immer mehr an Zahl zugenommen haben, offenbar, weil sie andere Lebensbedingungen auf der Erde vorgefunden haben.

Wenn eine jede Tierart wirklich einen unabänderlichen anatomisch begründeten diätetischen Charakter hätte, dann müsste sie aussterben, sobald dieser natürlichen Disposition nicht Genüge geleistet werden könnte. Aber das Gegenteil davon gerade sehen wir alle Tage. Die Tiere wissen sich ebensogut wie die Menschen den gegebenen Verhältnissen der Aussenwelt auch in der Nahrung anzupassen. Je genauer wir die Lebensweise der verschiedenen Tierarten kennen gelernt haben, desto mehr hat sich die Mannigfaltigkeit der Ernährungsweisen herausgestellt. In einem physiologischen Laboratorium kann man täglich die Beobachtung machen, dass so exquisite Pflanzenfresser, wie Meerschweinchen und Kaninchen, mit Wonne Fleisch anknabern, wenn es zufällig ihnen vor die Nase kommt. Für unsere Frage bedeutungsvoller aber sind die Beobachtungen, welche sich in Bezug anf die Affen in den berühmten „Tierleben" Brehms wiedergegeben finden:

„Aus zahlreichen Reiseberichten geht hervor, dass alle diejenigen Affenarten, deren Lebensweise im freien Zustande genau beobachtet worden, sich als vollendete Omnivoren herausgestellt haben. Sie verzehren nicht blos Vegetabilien, sondern auch Insekten, Spinnen, Krebse, Wärmer, Schnecken, Reptilien, mit besonderer Vorliebe aber Vogeleier und leidenschaftlich gern junge Nestvögel.

Einige Affen stellen auch ausgewachsenen Vögeln nach, insbesonbere einige südamerikanische Arten erhäschen die Vögel im Sprunge wie die Katzen und nähren sich vorherrschend von Fleisch."

Man ersieht daraus, dass selbst nicht einmal die menschenähnlichsten Tiere, denen von den Vegetarien der diätetische Grundcharakter als Frugivore unveräusserlich zugeschrieben wird, auf vegetabilische Nahrung eingeschworen sind. Was liegt näher, als die Annahme, dass die Anthropoiden nur deshalb vegetarisch leben, weil sie in der strotzenden Vegetation der heissen Tropenländer, in denen sie seit undenklichen Zeiten bis auf den heutigen Tag einzig und allein heimisch sind, die Früchte als die bequemste nächstliegende Nahrung auf den Bäumen finden, auf denen sie ihr ganzes Leben lang nisten?! Den Satz, dass die anatomische Disposition einer Tierart die Nahrung derselben bestimme, bin ich daher geneigt, fast in sein Gegenteil umzukehren: die Nahrung, die ein Tier findet, da, wo es sich entwickelt, bildet seinen Verdauungsapparat zu bestimmter Form aus und erhält ihn in der zweckmässig erworbenen Form.

Wenn also auch für alle Tierklassen, insbesondere für die Affen, nachgewiesen ist. dass sie unter veränderten Existenzbedingungen mit jedweder Nahrung auszukommen sich gewöhnen, so bleibt doch die Thatsache unerschütterlich, dass die Mehrzahl der Affen und speziell die Anthropoiden im Naturzustand ausschliessliche Fruchtesser sind, also von Natur auf diese Nahrungsquelle hingewiesen sind.

Da nun die Menschen, so argumentieren die Vegetarier weiter, sich einerseits laut Stammesgeschichte nach Darwin und Häckel aus dem Affen entwickelt haben, andererseits der Mensch noch heute in seinem anatomischen Bau, insbesondere des Gebisses und des übrigen Verdauungsapparates, grosse prinzipielle Übereinstimmung mit dem Affen zeigt, so ist er von Natur Frugivor gewesen und besitzt noch heute eine natürliche Anlage für Fruchtnahrung.

Die Voraussetzungen als richtig zugegeben, müsste man diese Schlussfolgerungen als durchaus zwingend anerkennen!

Wie steht es aber mit diesen beiden Voraussetzungen? 1. Was zunächst die Abstammung der Menschen vom Affen anlangt, so ist ja über diese populär gewordene Theorie noch lange nicht das letzte Wort gesprochen, und es kann nicht an dieser Stelle die Absicht sein, die unleidige Streitfrage wieder aufzurollen. Die Vegetarier haben jedenfalls mit Scharfblick erkannt, von welchem Wert die Darwin-Häckelsche Theorie für ihre Lehre ist; sie sind deshalb mit grossem Eifer in das Studium dieses Gebietes moderner Naturforschung eingedrungen und sind zumal unbedingte Anhänger des Häckelschen Dogmas geworden, während sie doch sonst von der Wissenschaft nicht viel zu halten pflegen, selbst von Thatsachen, die sicherer und unbestrittener sind, als die Häckelsche Hypothese. Den Vegetariern freilich gilt sie schon als Thatsache, weil sie ihre eigene Theorie so vorzüglich deckt. Wir wollen das einmal gelten lassen und dementsprechend bedingungsweise anerkennen, dass die affenähnlichen Vorfahren des Menschen Fruchtesser oder vielleicht richtiger gesagt Fruchtfresser waren. Aber für den Menschen, für den gewordenen Menschen hat dies die Phylogenie weder zu beweisen noch zu behaupten gewagt! Die Berechtigung obiger Schlussfolgerungen hört an dem Punkte auf, wo das Genus homo fertig in die Erscheinung tritt, das weder in seiner anatomischen Organisation, noch in seinen Lebensgewohnheiten, noch in seiner individuellen Entwicklung etwas mit dem Affen Identisches hat. Die Kluft, welche zwischen Affen und Mensch besteht, verbietet es, die für die eine Tierart giltige Schlussfolgerung auf die andere zu übertragen.

Soweit die Urgeschichtsforschung bisher in das Dunkel der Vorzeit eingedrungen ist, hat sich bisher noch nicht ein einziger Beweis dafür gefunden, dass der Urmensch sich nach Affenart genährt hätte. Die Ernährungsweise der Vorzeitmenschen ist jetzt mit Bestimmtheit wenigstens bis in die Eiszeit zurückverfolgt worden. Nicht nur bei der genauesten Durchforschung der Überreste der jüngeren Steinzeit (neolitische Periode), sowohl der Schweizer Pfahlbauten wie der dänischen Kjökkenmöddinger, hat sich auch nicht ein einziges Getreidekorn oder irgend ein anderer Zeuge des Ackerbaues gefunden. Ja, auch der Diluvialmensch sowohl in den Flussthälern der Picardie, bei Taubach und bei Schussenried, wie in den Höhlen des schwäbischen Achthals, bei Amiens, Périgord und anderwärts, überall tritt er uns als Fleischesser entgegen. Die Speisekammer dieser Troglodyten weist nicht nur Mammut und Nashorn, Hase und Schermaus, sondern auch Singschwan und Ente, Gimpel und Dohle, Barsch und Karpfen auf. Überall bringen die Abfallhaufen der vernichteten Wohnstätten dieser Urzeitmenschen den Beweis dafür, dass sie nur von Jagd und Fischzucht, die ihre Thätigkeit ausmachten, gelebt haben! Und der Tertiärmensch ? Seine Existenz ist noch heiss umstritten. Wenn aber auch der berühmte Neanderthalschädel, die Skelette von Spy oder der Pithecanthropus erectus Dubois beweisen sollten, dass der Mensch noch vor der Eiszeit schon Erdenbewohner war, so wird doch kein ernsthafter Forscher im entferntesten die Idee hegen, dass dieser Urmensch auf einer höheren Stufe der Kultur gestanden haben sollte, als der Mensch, der Jahrtausende nach ihm gekommen ist.1)

1) Ganz undenkbar ist die Annahme, dass die Vereisung der Erdrinde alle Spuren einer früheren menschlichen Thätigkeit vernichtet haben sollte, da sich aus der letzten Interglacialperiode, die der letzten Vergletscherung vorausging, noch sichere Reste von Tier- und Menschenwelt erhalten haben.

Denn überall sehen wir den Ackerbau als ein Zeichen des Fortschritts in der menschlichen Entwicklung. Nomadenvölker treiben keinen Ackerbau, sondern immer nur sesshaft gewordene Menschen, d. h. Gemeinschaften, denen grössere Flächen Landes dauernd zur Verfügung stehen. Die Pflanzennahrung, wie man sie gewöhnlich versteht, d. h. hauptsächlich aus Körnerfrüchten und deren Zubereitung bestehend, gehört ganz unzweifelhaft erst einer späteren Zeit der Entwicklung des Menschengeschlechts an. Der Nachweis, dass unsere frühesten Vorfahren, soweit sie schon Menschen waren, Fleischesser waren, schliesst auch die Annahme in sich, die übrigens auch durch zahlreiche andere Funde erwiesen ist, dass die Troglodyten auch bereits im Besitz der Kochkunst waren. Die Kunst, die Nahrung aus der Form, wie sie die Natur bietet, in andere, schmackhaftere und vor allem leichter verdaulichere Formen zu bringen, bedeutet bereits den ersten Fortschritt in der Entwicklung des Menschengeschlechts vom Wege des Vegetarismus abseits, selbst wenn er dem Urmenschen zu eigen gewesen sein sollte. „Der Mensch ist das einzig kochende Tier", sagt Graves. Dadurch aber hat sich der Mensch von der Pflanzenkost unabhängig gemacht.

So bliebe denn schliesslich keine andere Annahme übrig, als dass der Urmensch sich von wild wachsenden Früchten genährt habe, d. h. jener Urmensch, der noch halb Affe war und mit ihm Bau und Lebensgewohnheiten teilte. Diese Hypothese kann nicht widerlegt, aber auch nicht bewiesen werden, sie ist ein reines Phantasiegebilde. Nehmen wir an, dass sie der Wahrheit nahe käme, so würde damit nicht mehr bewiesen sein, als dass ein in der Entwicklung vom Affen zum Menschen begriffenes tierisches Lebewesen noch nicht die Eigenheiten des ersteren abgestreift hat. Dieser „Pithecanthropus" muss sich dann noch ganz nach Affenart in der Wildnis tropischer Wälder von den Früchten der Bäume genährt haben, auf denen er zusammen mit seinen Stammverwandten hauste.

Eine derartige Hypothese könnte eine gewisse Stütze in der weitverbreiteten Annahme finden, die aber auch von der Wissenschaft als unbewiesene Theorie betrachtet wird, dass die Wiege des Menschengeschlechts einmal in der heissen Zone der Tropenländer gestanden habe, in der eine üppige Vegetation in verschwenderischer, aber einseitiger Fülle den akklimatisierten Tieren zur Verfügung steht. Dort waren auch vielleicht einmal die Stammformen des Menschengeschlechtes Fruchtesser, so gut als sie dort auch nackt herumlaufen konnten mit dem Bruder Affen um die Wette. Aber — mit dem Verlassen dieses „Paradieses" musste auch diese Lebens- und Ernährungsweise „naturgemäss" aufhören! Der Kreis der logischen Schlussfolgerungen zu Gunsten einer natürlichen Disposition des Menschengeschlechtes für die Fruchtnahrung ist also nur dann geschlossen, wenn man von der Thatsache ausgeht, dass der Urmensch sich einmal aus dem Affen entwickelt hat. Fruchtnahrung ist aber durchaus noch nicht Pflanzennahrung. Die ganze Beweisführung können sich also überhaupt nur diejenigen Vegetarier zu Nutze machen, welche noch heute ausschliesslich von roher frischer Fruchtnahrung leben. Der grosse Haufe der Vegetarier schliesst sich nur ganz gedankenlos einer solchen Beweisführung an, indem er übersieht, dass für ihre Lebensweise damit gar keine Rechtfertigung geliefert wird. Doch lassen wir den Rohkostlern die Freude des Zugeständnisses, dass die affenähnlichen Stammväter des Menschengeschlechtes sich vielleicht einmal in der Unwirtsamkeit tropischer Waldungen von Früchten genährt haben!

Der gewordene Mensch, das zoologische Genus „homo sapiens" Linné, hat es nie gethan! Das beweisen die oben angeführten Zeugen aus der frühesten Periode seiner Entwicklung auf der Erde. Der Mensch hat sich zum Menschen erhoben, weil er eben durch seine körperliche und geistige Organisation der umgebenden Tierwelt, auch dem Affen, sich überlegen zeigte. Ihn haben die ihm natürlichen Lebensbedürfnisse zum Fleischesser gemacht. Nachdem aus dem Affen sich der Mensch entwickelt, hatte dieser „naturgemäss" auch nicht mehr die Lebens- und Ernährungsweise seiner Stammväter notwendig. Ihm stand jetzt die tierische Nahrung zu Gebote, die er sich vermöge seiner grösseren Geschicklichkeit verschaffen konnte. Das hat er denn auch reichlich ausgenutzt. Wenn der Mensch trotz seiner noch heute wenigstens entfernt affenähnlichen Körperkonstitution sich an die tierische Nahrung gewöhnen konnte, so kann die frühere Fruchtnahrung unmöglich die für ihn allein angemessene und naturgemässe gewesen sein. Das tierische Lebewesen, das Mensch geworden ist, muss von Natur befähigt gewesen sein, tierische wie pflanzliche Nahrung zu geniessen.

Bei der Verwertung der Lehren Darwin's und Haeckel's haben die Vegetarier eben zwei wichtige Thatsachen, welche sich aus demselben ergeben, vollkommen übersehen: einmal, dass die ganze lebende Welt eine Entwickelung hat, dass also der Mensch durch seine Menschwerdung eine höhere Stufe körperlicher Organisation erlangt hat, die einem Vergleich oder gar eine Gleichstellung mit dem Affen hinsichtlich seiner natürlichen Fähigkeiten nicht mehr berechtigt; zweitens ergiebt sich aus der naturwissenschaftlichen Auffassung der Entwickelungsgeschichte der lebenden Welt allenthalben die bedeutsame Thatsache, dass alle Tiere und Pflanzen mit der Fähigkeit der Anpassung an gegebene Verhältnisse ihrer Umgebung ausgestattet sind, sodass nichts verständlicher erscheint, als dass der gewordene Mensch trotz seiner vielfachen Affenähnlichkeit und trotz seiner ursprünglichen frugivoren anatomischen Organisation es gelernt hat, auch andere Nahrung zu kauen und zu verdauen.

Für den gewordenen Menschen war die Nahrung des „Paradieses" nicht mehr ausreichend; deshalb hat sich der Mensch in jenen Gegenden nicht halten können und ist nach kälteren Zonen ausgewandert, wo er seiner körperlichen Organisation günstigere, d. h. für ihn natürlichere Lebensbedingungen fand. In den Tropen haben sich die Wege des Affen und Menschen geschieden, sobald sie sich von einander differenziert hatten. Der Affe ist Affe geblieben und klettert noch immer, Stumpfsinn brütend, Früchte fressend, ungestraft unter Palmen herum. Der Mensch ist nach dem kühleren Norden gezogen, ist Fleischesser geworden, hat geistige Fähigkeiten entfaltet und Kulturwerte geschaffen. Er ist aus einem instinktmässig lebenden und handelnden Tier zu einem vernunftbegabten Lebewesen geworden. Was erscheint wohl als das begehrenswertere Schicksal?

2. Wie steht es mit der zweiten Voraussetzung der vegetarischen Schlussfolgerung, dass der Mensch durch die affenähnliche Organisation, durch den anatomischen Bau seines Körpers noch heute auf die frugivore Ernährung hingewiesen sei?

„In der That", sagt Häckel, „man mag einen Körperteil hernehmen, welchen man wolle, stets wird man bei der genauesten Vergleichung finden, dass der Mensch den höchsten Affen näher steht, als diese den niedrigsten Affen. Es würde daher vollkommen gezwungen und unnatürlich erscheinen, wollte man in dem zoologischen Systeme den Menschen als eine besondere Ordnung von den echten Affen trennen. Vielmehr ist die wissenschaftliche Zoologie genötigt, sie mag wollen oder nicht, dem Menschen einen Platz innerhalb der Ordnung der echten Affen anzuweisen."

In diesem Sinne haben auch die Vegetarier aus der vergleichenden Anatomie zahlreiche Beläge herangezogen, um den affenähnlichen Bau des menschlichen Körpers zu beweisen. Sie stützen sich dabei auf die gewichtigen Stimmen hervorragender Naturforscher wie Cuvier, Flourens, Owen, auch Linné, Bell, Blumenbach u. a. Da es sich darum handelt, zu beweisen, dass für den Menschen die Nahrung der Anthropoiden die einzig entsprechende und angemessene ist, so muss in erster Reihe die Gleichheit der Organisation des Verdauungskanals nachgewiesen werden. Dieselbe soll sich von Anfang bis zum Ende desselben in unzweifelhafter Weise kund thun. In erster Reihe beim Gebiss! Gerade auf den Nachweis der Indentität in dieser Hinsicht haben die Vegetarier seit Graham und Baltzer sämtlich grossen Wert gelegt. Hören wir, was sie da behaupten.

„Seine am meisten in die Augen fallende Eigentümlichkeit ist die absolut geschlossene Zahnreihe, derart, dass bei geschlossenen Kiefern die entsprechenden gegenüberstehenden Zähne gerade aufeinander zu stehen kommen, ohne im geringsten, wie dies noch bei den Anthropoiden der Fall ist, den Eckzähnen gegenüber im anderen Kiefer einen kleinen Zwischenraum zu lassen. Die gesamte Anzahl der Zähne beträgt zweiunddreissig, es kommen demnach auf jede Kieferhälfte acht. Es sind dies zwei Schneidezähne von ziemlich regelmässiger viereckiger Gestalt, ein Eckzahn, zwei falsche Backzähne mit je zwei höckerigen Kronen und drei grosse Back- oder Mahlzähne mit je vier höckerigen Kronen. Wenn wir nun diesen menschlichen Zahnapparat mit dem der Hauptrepräsentanten aller verschiedenen diätetischen Arten vergleichen, so werden wir wegen aller hervorgehobenen Eigentümlichkeiten, als Art und Grosse der Zähne, ihre relative Länge und Stärke, Lücken u.s.w., nicht nur die meiste Ähnlichkeit, sondern sogar — wenigstens in Beziehung auf Zahl und Art — eine vollständige Übereinstimmung zwischen diesem und dem der Anthropoiden gewahren. Der vollständig mangelnde Zwischenraum zwischen den Zähnen des Menschen — Diastema genannt — charakterisiert ihn als die reinste und höchste frugivore Potenz. Man hat vielfach geglaubt, den Eckzahn des Gorilla als einen Beweis dafür anführen zu können, dass der Gorilla selbst nicht als Typus einer frugivoren Diät hingestellt werden könne; aber Beobachtung und Erfahrung haben die eigentlich rein theoretische — genetische — Spekulation bestätigt und zur Genüge bewiesen, dass sowohl der Gorilla, wie auch der Orang und Schimpanse in der Freiheit nur Früchte geniessen, wenn nicht vielleicht einer einmal gelegentlich, sei es in Not oder in Affenunart, sich an etwas anderem vergreift. Aber die Eckzähne der Anthropoiden sind auch ganz anderer Beschaffenheit, als die der Carnivoren. Ihr Querschnitt ist mehr dreiseitig, der der letzteren hingegen rund, jene gedrungen und klein, diese schlank. Sehr bemerkenswert ist der Umstand, dass der anthropoide Eckzahn an der Stelle, wo die Wurzel aus dem Zahnfleisch tritt, faltig und knorpelig ist, hingegen der carnivore Eckzahn glatt und scharf ist. Aus allem geht deutlich hervor und wird durch die Erfahrung bestätigt: der Eckzahn der Anthropoiden dient dem Zerdrücken, etwa dem Zerknacken von Nüssen und ähnlichen Dingen, hingegen der Eckzahn der Carnivoren ganz ausschliesslich dem Festhalten und Zerreissen saftiger Fleischteile.'' (Schlickeysen.)

Mit wenig anderen Worten findet sich dieselbe Beweisführung in allen vegetarischen Schriften. Es sei deshalb hier nur noch das Schlussurteil eines zweiten Autors, des in seinen Ausführungen meist ebenso sachlichen, wie kritischen Dr. Andries angeführt:

„Gerade diese Anpassung (nämlich der Zähne an die Nahrung) ermöglicht es, aus der Zahnbildung auf die Lebensweise, Ernährungsart und den allgemeinen Bau eines Tieres zu schliessen: schneidende, zusammengedrückte Backenzähne deuten auf Fleichnahrung, spitzhöckerige auf Insektennahrung, stumpfhöckerige auf Fleisch- und zugleich Pflanzennahrung, auf der Kaufläche abgeplattete und unebene auf Pflanzennahrung. Wenn man also berücksichtigt, dass beim Menschen die letztere Art der Backenzähne entschieden vorhanden, daneben seine Eck- oder Hundezähne verkümmert, also als Reisswerkzeuge zum Zerreisen des Fleisches ungeeignet sind, wenn man ferner beachtet, dass die seitliche Bewegung des Unterkiefers beim Kauen ein zermalmendes und malendes Übereinandergleiten der etwas unebenen Flächen der Mahlzähne des Ober- und Unterkiefers ermöglicht, was bei den Pflanzenfressern nötig, bei den Fleischfressern aber unnötig und daher auch nicht möglich ist, so muss man daraus mit geradezu mathematischer Sicherheit schliessen, dass der Mensch weder ein Carnivore noch ein Omnivore ist."

Man hat gegen diese Schlussfolgerungen der Vegetarier aus der Form des menschlichen Gebisses mancherlei Einwendungen vorgebracht, an erster Stelle Virchow:

„Auch das Schwein und der Bär zeigen in der Einrichtung ihrer Kau- und Verdauungswerkzeuge manche Ähnlichkeit mit dem Affen und dem Menschen. Nichtsdestoweniger sind sie in ihrer Nahrung an keine bestimmte Gruppe von Stoffen gebunden. Sie machen alle Übergänge von reiner Pflanzenkost zur tierischen Nahrung. Keines dieser Tiere, auch kein einziger Affe stimmt in seiner Bezahnung ganz mit dem Menschen überein, sie haben unter sich und gegenüber dem Menschen Eigentümlichkeiten, welche bis jetzt wenigstens aus der blossen Vergleichung der Nahrung keineswegs vollkommen erklärlich sind. Selbst bei den höchstentwickelten Affen, den sogenannten menschenähnlichen, sind die Schneide-, besonders die Eckzähne überaus abweichend von denen des Menschen, und das Urteil Cuviers wäre wahrscheinlich anders ausgefallen, wenn zu seiner Zeit schon vollkommen ausgewachsene Tiere dieser Art in Europa bekannt gewesen wären. Er kannte nur die Schädel jüngerer Affen, welche freilich dem Menschen, aber auch der Zeit der Milchnahrung näher stehen. John Hunter, einer der treuesten Beobachter der Natur, bemerkte schon, die Zähne der Tiere entsprächen keineswegs immer genau der Nahrung, welche sie geniessen, oder dem Bau ihres Magens, er betonte dagegen, dass die Bildung des Mundes im Verhältnis zu der Stellung der Zähne eine bestimmte Beziehung zu der Art, wie die Nahrung ergriffen oder festgehalten wird, erkennen lasse. Die fleischfressenden Tiere hätten das kürzeste Maul und ihre Zähne seien regelmässig angeordnet, und die Greifzähne ständen entfernt von den Mahlzähnen. Diese Betrachtung ist von grosser Wichtigkeit, denn gerade in dieser Richtung hat das menschliche Gebiss etwas so Eigentümliches und Abweichendes, dass die Besonderheit der menschlichen Physiognomie durch nichts mehr ausgedrückt wird, als durch die geringe Entwicklung der Kiefer. Je edler das Gesicht des Menschen wird, um so mehr tritt das Gebiss in den Hintergrund; stark vorspringende Kiefer geben immer den Ausdruck einer gewissen Bestialität, der auch den am meisten menschenähnlichen Affen nicht fehlt."

Virchow schliesst sich deshalb der Ansicht des amerikanischen Zahnarztes Mac Quillen an, dass der Mensch seinen Zähnen nach eine Zwischenstufe zwischen Pflanzen- und Fleischfressern einnimmt.

Die ehrliche wissenschaftliche Kritik erfordert indess meines Erachtens das Eingeständnis, dass diese Einwendungen schwächer sind, als die Behauptungen der Vegetarier, gegen die sie gerichtet sind, oder diese wenigstens nicht haltlos zu machen vermögen. Wir können dieses Anerkenntnis machen, ohne dadurch dem Vegetarismus eine wissenschaftliche Grundlage, wie es scheinen könnte, gegeben zu haben; denn wir werden später sehen, wie wenig, selbst bei der zugestandenen Richtigkeit der supponierten Thatsache für die Behauptung gewonnen ist, dass die Pflanzenkost die der Organisation des menschlichen Verdauungskanals einzig und allein naturgemässe sei.

Doch zuvor sei noch auf eine Reihe weiterer Momente in der anatomischen Disposition des menschlichen Körperbaus hingewiesen, welche nach Ansicht der Vegetarier die Zweckmässigkeit der Fruchtnahrung ad oculos demonstrieren sollen. So wird zunächst weiterhin von der Zunge behauptet, dass sie bei den Fleischfressern rauh und mit wulstartigen Erhöhungen und dadurch imstande sei, das Fleisch rein vom Knochen zu nagen, während die Zunge bei Frucht-und Pflanzenfressern ganz glatt und mit zarten Wärzchen versehen ist. Wichtiger aber ist die angebliche Differenz in dem Bau des Magen- und Darmkanals bei Fleisch- und Fruchtfressern. Denn hier muss ja der Unterschied in der Resorptionsfähigkeit der Nahrung zum manifesten Ausdruck kommen. Am ausführlichsten begründet diese angebliche grundsätzliche Verschiedenheit wiederum Schlickeysen, der sich ja Mühe gegeben hat, die frugivore Diätetik des Menschen wissenschaftlich zu rechtfertigen. Er sagt:

„Da der Zellstoff der Früchte und besonders der Pflanzen einer längeren Bearbeitung durch Magen- und Darmdrüsensaft erfordert, als das Fleisch, so ist der Magen- und Darmkanal bei frucht- und pflanzenfressenden Tieren bedeutend grosser und länger, als bei den fleischfressenden, und zur besseren Verarbeitung des Zellstoffes ist der Grimmdarm der ersteren mit ringförmigen Zellen ausgebuchtet, während der der fleischfressenden Tiere glatt ist. Auch in der Grosse des Magens und der Länge des Darmkanals herrscht ein grosser Unterschied. Derselbe zeigt sich bereits in der Querstellung des Magens, dessen Kurvatur je nach der Nährweise bedeutende Verschiedenheiten darbietet und vom einfachsten Magen bis zu einer grossen Reihe von Blindsackbildungen differiert. Ferner hat der Darm des Löwen die dreifache Länge seines Rumpfes, der des Menschen und Orang ist annähernd das Zwölffache desselben, während er beim Schaf das 25 fache beträgt, weil die Gräser, deren sich dasselbe als Nahrung bedient, einer viel längeren Bearbeitung bedürfen."

Diese Unterschiede sind aber von weit weniger ausschlaggebender Bedeutung und viel weniger zwingender Beweiskraft, als die Schlussfolgerungen aus dem Bau des Gebisses. Denn die Länge des tierischen Darmes, auch des menschlichen, ist durchaus keine konstante Grosse, sondern unterliegt ausserordentlich grossen Schwankungen, die noch am ehesten eine feste Beziehung zur Körpergrösse des tierischen Individuums erkennen lassen. Der Vergleich der Länge der Därme bei verschiedenen Tierarten hat überhaupt keinen Wert, weil hier ganz inkommensurable Grossen nebeneinander gestellt werden, nämlich Därme mit Falten und Zotten mit solchen ohne derartige Duplikaturen der Darmwand verglichen werden. Für die Grosse der Resorption der Nahrung kommt es viel weniger auf die äussere Länge des Darmes an, als vielmehr auf die Grösse der inneren resorbierenden Darmfläche. Aus diesem Grunde kommt auch den von Bunge wiedergegebenen Zahlen über das Verhältnis der Darmlänge zum Körpergewicht bei den verschiedenen Tierklassen gar kein Wert zu. Gerade diese Nebeneinanderstellung zeigt den Widersinn von Schlussfolgerungen, die aus einer derartig bunt zusammengewürfelten Zahlenreihe gezogen werden. Bunge macht auch mit Recht darauf aufmerksam, dass der anatomische Bau und die Funktion des Verdauungskanals gerade der anthropoiden Affen noch fast gar nicht bekannt sind, sodass die vergleichenden Schlussfolgerungen der Vegetarier mehr eine theoretische Abstraktion zu Liebe ihrer Doktrin sind, als auf wissenschaftlich festgestellten Thatsachen beruhen.

Es bleibt noch zu erwähnen übrig, dass die Vegetarier unter zahlreichen anderen Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Affe (zahlreiche Schweissporen, Fehlen der echten Schwanzbildung, vorwärts blickende Augen und anderes mehr) besonders die Handbildung betonen, welche den Menschen wie den Affen zum Greifen der Nahrung befähige. Die Hände (mit den flachen Nägeln!) Scheinen „besser geeignet, das lockende Obst abzupflücken und das wuchernde Korn einzusammeln, als lebendes Fleisch zu zerreissen", wozu das Raubtier durch den Besitz von Krallen statt der Hände befähigt ist. Mag richtig sein, aber wie naiv ist doch eine solche Auffassung, welche der Entwickelung des Menschengeschlechts in der harten Schule des Lebens, im Kampfe mit der Natur und mit den Tieren nicht das geringste Verständnis entgegenbringt! Als ob der Mensch nie aus dem vermeintlichen Paradies herausgekommen wäre! Die Geschichte der menschlichen Hand zeigt auf den ersten Blick, dass sie heute zu allem mehr notwendig ist, als zum Essen. Hat man sie doch selbst für das Fruchtessen teilweise durch Messer und Gabel als Vermittler ohne zwingende Not ersetzt! Ebenso wertlos ist für eine vernünftige Auffassung der Stellung des Menschen in der Natur die Betonung des aufrechten Ganges des Menschen. Damit soll seine Affenähnlichkeit und seine Fruchtessernatur bewiesen sein, weil er nicht wie ein Raubtier auf allen Vieren kriecht und nicht wie eine Bestie immer zum Sprunge auf das arme Opfer bereit ist, das ihm zur Nahrung dient. Als ob es denn gar keine Mittelstufen zwischen Affen und Raubtieren gäbe!

Ziehen wir aus all diesen Betrachtungen pro et contra das Résumé, so gelangen wir zu der Einsicht, dass die Natur in der körperlichen Organisation der Tierwelt nicht so schematisch verfahren ist, als die Theorie der Vegetarier. Sie bildet einerseits die gleichen anatomischen Formen bei den verschiedensten Tiergattungen in bunter Reihe aus, anscheinend dabei oft recht willkürlich springend, andererseits wiederum häufig auffallend differente Formen, die den gleichen physiologischen Zwecken dienen, bei sehr nahe verwandten Gattungen. Das Dogma Cuvier's von der Konstanz der Arten ist es ja gerade, das durch Lamarck und Darwin erschüttert wurde, und es ist eine der feststehendsten Thatsachen der Entwicklungsgeschichte, dass die natürliche Anlage eines Tieres immer nur in allen wesentlichen anatomischen Merkmalen unverändert bleibt, während in tausend kleinen Eigentümlichkeiten des Körperbaues im Laufe der Entwicklung einer Tierart zahlreiche Mutationen eintreten, die für seine Existenz zweckmässig erscheinen, die sich unter dem Zwang der gegebenen Verhältnisse ausbilden und gelegentlich sogar zu einer neuen Artbildung führen. Eine unabänderliche Anlage hat der Fisch in seinen Kiemen, die ihn zwingen, im Wasser zu leben, um den Sauerstoff dadurch zu absorbieren, aber die Lage und Gestalt der Kiemen hat sich in der Reihe der Fischarten in mannigfachster Art geändert, ohne dadurch seinen Zweck zu verfehlen. Ebenso braucht der

Mensch nur einen Verdauungskanal von einheitlicher Grundanlage, er hat aber die Fähigkeit erworben, in demselben die verschiedenartigste Nahrung zu bewältigen! Augenscheinlich ist hier, wie so oft, eine Anpassung der anatomischen Formen an die vorhandene Nahrung eingetreten, sodass wir also hier speziell zu dem Schluss gelangen, dass mehr die Ernährungsweise den organischen Bau des Körpers bedingt hat, als umgekehrt.

Wenn also auch die anatomische Organisation des menschlichen Körpers ursprünglich für eine Fruchtnahrung (nicht Pflanzennahrung!) prädisponiert haben sollte, so hat die Anpassung des Menschen an veränderte Lebens- und Ernährungsverhältnisse sein Gebiss und seinen Magendarmkanal auch zur Verdauung fleischlicher Nahrung tauglich gemacht. Der Alltagserfahrung gegenüber, dass Gebiss und Verdauungskanal des Menschen auch Fleischkost mühelos zu bewältigen und für die Ernährung in ausreichender Weise auszunutzen vermögen, — dieser Thatsache gegenüber werden die ganzen theoretischen Deduktionen über die anatomische Disposition des Menschen zur Pflanzennahrung hinfällig!

Ethnologie.

Wenn die Behauptung der Vegetarier wahr wäre, dass der Mensch im Urzustand, der noch nicht von der Kultur beleckt ist, sich von Früchten oder Pflanzen überhaupt nährt, so wie sie die Natur diesen Naturmenschen darbietet, dann müsste sich nachweisen lassen, dass alle jene Völker, welche niemals in die Kultur eingetreten sind, oder welche heute noch unzivilisiert in den primitivsten Lebensverhältnissen stecken, von Pflanzennahrung gelebt haben bezw. leben, und des weiteren müssten Belege dafür gefunden werden können, dass auch unsere heutigen Kulturvölker in der Kindheit ihrer Entwicklung einmal sich vegetarisch genährt haben.

Durchforscht man nach diesen Richtungen hin das Weltall und die Kulturgeschichte, so finden sich nur sehr wenig Thatsachen, welche die theoretischen Annahmen der Vegetarier anscheinend zu stützen vermögen. Diese wenigen Thatsachen erhalten aber vollends in einer schärferen Beleuchtung, als sie zumeist im Lichte der nie vorurteilsfreien vegetarischen Forschung erfahren — wenn von einer solchen überhaupt ernsthaft die Rede sein kann —, eine ganz andere Deutung, als ihnen von jener Seite zu teil wird. Soweit die prähistorische Forschung die Geschichte der heutigen Kulturvölker hat zurückverfolgen können, ist sie niemals auf einen Zeitpunkt gestossen, wo diese Völker nachweislich von ausschliesslicher Pflanzenkost gelebt hätten. Für die in Europa und Asien am weitesten verbreitete und dominirende indogermanische Rasse hat sich im Gegenteil herausgestellt, dass, je weiter man in ihrer Entwicklungsgeschichte zurückgeht, desto mehr die Ernährung mit Fleisch und animalischen Produkten vorherrscht! In das Licht der beglaubigten Geschichte treten alle indogermanischen Völker als Fleischesser ein. Eine einzige Ausnahme davon scheinen die Inder zu machen, bei denen seit ältester Zeit Pflanzennahrung üblich ist, aber durchaus nicht alleingiltig. Denn zumeist wird damit auch der Milchgenuss ganz regelmässig verbunden. Übrigens haben aber auch neuere Forscher, wie Köppen, Duncker, Kern, Bohlen u. a. nachgewiesen, dass auch in Indien der Fleischgenuss erst durch die religiösen Vorschriften der Brahmanen verboten worden ist, somit also auch dort früher üblich gewesen sein muss. Der Grund für das Verbot, Tiere zu töten und zu essen, war bei den Brahmanen in dem Glauben an die Seelenwanderung begründet — eine Taktik, die, wie erinnerlich, auch Pythagoras den alten Egyptern abgelauscht hatte. Mit dem siegreichen Eindringen des Buddhismus in Indien ist später auch das Fleischverbot dort wieder aufgehoben worden.

Dass die Pflanzennahrung allgemein erst später zu der Fleischkost hinzugetreten ist, wird ja sehr leicht plausibel in Anbetracht der Thatsache, dass, wie schon oben erwähnt, der Ackerbau allenthalben eine höhere Stufe menschlicher Kulturentwicklung darstellt, als Jagd und Fischerei, welche von der Geschichtsforschung allgemein als die primitivsten Zweige menschlicher Erwerbsthätigkeit ermittelt worden sind.

Für die Präexistenz der Fleischnahrung aller gesellschaftlich lebenden Völker oder Menschen überhaupt, giebt es nun noch ein weiteres charakteristisches Zeugnis: das sind die in allen Volksreligionen des Altertums und unkultivierter Völker noch heute üblichen Opfer an die Gottheit. Sie finden sich im Leben der Völker um so zahlreicher, je tiefer die Kulturstufe eines Volkes ist. Ihr ausgesprochener Zweck war ehedem und ist es zumeist noch heute, den Neid der Götter abzuwenden oder ihre Gunst zu erringen, und deshalb spendete man ihnen stets vom Besten, was man besass, weil nur das Beste für die Götter gerade gut genug erscheint. Erst später ist auch die Modifikation der Dankopfer aufgekommen, in denen aber ebensowenig mit dem Besten gekargt wurde. Nun haben die Nachforschungen ergeben, dass schon bei den primitivsten Kulturvölkern, wie z. B. Persern und Skyten, blutige Opfer üblich waren, und zwar aus dem Grunde, weil der Ackerbau viel zu wenig gepflegt wurde, um von demselben wertvolle Opfergaben gewinnen zu können. Auch von den alten Germanen berichtet uns Tacitus, dass den Tieropfern bei ihnen die grösste Heiligkeit zukam. O. Schrader, der hervorragendste Autor der Neuzeit auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachforschung, fügt der Mitteilung dieser Thatsachen noch hinzu, dass die weitverbreitete Anschauung, die Erstlinge des Feldes wären die ersten Opfer überhaupt gewesen, mehr der theoretischen Hypothese entsprungen sei, als sie den wirklich nachgewiesenen Lebensverhältnissen der frühesten Kulturvölker entspreche.

Giebt es nun in der Gegenwart vielleicht unter den unzivilisierten Rassen irgendwo auf der Erde noch solche, die ausschliesslich von der „naturgemässen" Pflanzennahrung leben? Dass es ausschliesslich „frugivore" Völker gegeben hätte oder giebt, das ist meines Wissens nicht einmal von Vegetariern selbst behauptet worden. Hier haben sie dem Dogma von der naturgemässen Begründung des Vegetarismus bereits eine Konzession gemacht, wenn sie immer nur ganz allgemein von pflanzenessenden Völkern sprechen. Als Beispiele solcher gelten ihnen die Hindus, die Chinesen, die Kulis des ganzen asiatischen Ostens, die Araber der Halbinsel Sinai, die nur von getrockneten Datteln und ungesäuertem Brot leben sollen, die Japaner und einige Negerstämme Afrikas und Amerikas. Seitdem aber die ethnologische Forschung der Neuzeit die Lebensweise dieser Völker viel genauer kennen gelehrt hat, als sie von den Vegetariern nach dem Hörensagen immer in Bausch und Bogen geschildert wird, hat sich herausgestellt, dass diese Völker in der That zwar in ihrer Mehrheit und hauptsächlich von Pflanzennahrung leben, aber durchaus nicht ausschliesslich. So verwerten alle diese Rassen und Völker neben den Früchten ganz instinktiv die viel nahrhafteren Cerealien, die sie in der Form zweckmässiger Zubereitung verwerten, unter anderem auch die sehr eiweissreichen Leguminosen. Zu letzteren gehört z. B. die in Japan sehr beliebte und in kolossalen Mengen genossene Sojabohne. Gerade die Japaner sind ein lehrreiches Beispiel dafür, wie und in welchem Umfange eine Pflanzennahrung zu der vorherrschenden Volkskost werden kann. Wir sind darüber besonders gut unterrichtet, weil dieses Volk von all den genannten das einzige ist, das uns in der Neuzeit einen genaueren Einblick in seine Lebensverhältnisse gestattet hat. Da hat sich denn herausgestellt, dass die an der Küste lebenden Menschen der gelben Rasse fast durchweg Fische geniessen, die für sie eine leicht zu beschaffende und billige Nahrung sind. Auch im Innern des Landes werden sie mit grossem Behagen verzehrt, wenn man ihrer habhaft werden kann, von den Wohlhabenderen sogar ganz regelmässig. Den Reis, ihre Hauptspeise, verkochen die Japaner und auch die Chinesen diese „vegetarischen" Naturvölker geniessen nichts Rohes! — fast stets mit Milch. Schliesslich lehrt das Beispiel der Japaner in überzeugender Weise, dass jedes sich entwickelnde Volk mit der Verbesserung seiner Lebensbedingungen auch von der Einseitigkeit der landesüblichen Kost allmählich loszukommen sucht. Die Reisnahrung nimmt in Japan ständig ab und hat längst aufgehört, auch im Volke die vorherrschende zu sein, seitdem dort in der Armee nach europäischem Muster zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Soldaten die Fleischkost allgemein eingeführt worden ist.

Und was nun die kulturell noch weit tiefer stehenden Volksstämme Asiens, Afrikas und Australiens anlangt, deren Lebensweise man bei uns meistens nur bei Gelegenheit von Schaustellungen dieser Barbaren kennen zu lernen Gelegenheit hat, so citiere ich als Beispiele für die Art der Ernährungsweise dieser Völker nur die folgenden Mitteilungen:

„Diese Kerls", sagt Hauchecorne, „fressen doch eigentlich alles Essbare. Ihrem Fleischhunger ist alles Tierische recht. Ich verweise nur auf den Trepang, diese getrockneten und geräucherten Holothurien, welche im indochinesischen Archipel einen Welthandelsartikel bilden. Und die ,vegetarischen' Wilden? Sie lehen von Insekten, verspeisen Termiten, Ameisen, Käferlarven, Schnecken u. s. w."

Hueppe erzählt von diesen Volksstämmen:

„Sie suchen alle oft geradezu mit Leidenschaft nach Ergänzungen aus dem Tierreiche und geniessen als Leckerbissen Dinge, die uns als ekelerregend scheinen; Raupen, Engerlinge, Termiten werden nicht verschmäht, Skorpione und Schlangen müssen herhalten, Ratten gelten als Leckerbissen. Wo das Meer Aushilfe bietet, werden als Frutti di mare alle möglichen Geschöpfe gegessen, bis zu den Holothurien herab. Und wenn die Heuschreckenschwärme einfallen, so führt sich der Araber trotz seiner Datteln diesen unberufenen Braten zu Gemüte."

Ähnliches berichtet Bunge auf Grund der Berichte neuerer Reisender:

„Selbst die paradiesischen Völker der Südsee, denen die schönsten Früchte in den Mund hängen, während ihre Inseln arm sind au wohlschmeckender animalischer Nahrung, haben ein so mächtiges Verlangen nach Fleisch, dass sie Katzen, Hunde, Vampyre, Spinnen, Holzlarven, rohe Fische, ja sogar Ratten bei lebendigem Leibe verzehren."

Die Durchforschung des bewohnten Erdenrunds hat ergeben, dass, ebensowenig als es noch heute irgendwo im Weltall eine Rasse giebt, die auf einer niederen Entwicklungsstufe körperlicher Organisation stehen geblieben ist, es nirgendswo noch ein Volk giebt, welches ausschliesslich von Pflanzenkost lebt. Der Vegetarier Leiner freilich schlussfolgert aus dieser Thatsache, da er sie nicht widerlegen kann:

„dass unverdorbene Naturvölker mir zu gerne dazu geneigt sind, die geraden Wege der Natur zu verlassen und die bösen Beispiele und schlechten Gewohnheiten ihrer Bezwinger, der entarteten Kulturvölker, anzunehmen." Mit Leuten solcher Logik lässt sich halt nicht rechten. Für diejenigen, welche die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, ist die Deutung der Thatsachen gerade eine umgekehrte.

Allenthalben hat die Beobachtung des Volkslebens ergeben, dass die früher und noch heute bei allen Naturvölkern bestehende Gewohnheit vorherrschender Pflanzennahrung weder durch eine etwa volkstümlich gewordene Überzeugung von der naturgemässen Anpassung dieser Nahrung an die körperliche Organisation des Menschen, noch durch den traditionell vererbten Instinkt der Volksmassen bedingt ist, sondern einzig und allein durch die geographischen, klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes und des Volkes, das darauf wohnt. Wie der einzelne, so werden auch oft ganze Volksklassen und Völkerschaften durch die sozialen Bedingungen ihrer Existenz zum Vegetarismus gedrängt, von dem sich zu befreien sie ihr — Instinkt meist mächtig treibt! Nur die soziale Not gebiert den Vegetarismus der Völker und einzelner Bevölkerungsschichten!

Wie sehr die Nahrung der Völker von ihren äusseren Lebensbedingungen abhängig ist, das beweisen ja auch die Beispiele vom Gegenstück der angeblichen vegetarischen Völker: nämlich die fleischessenden Völker wie die Kalmücken, Tartaren, Kirgisen und die in dieser Richtung vor allem berühmten Eskimo. Sie leben fast ausschliesslich von der erbeuteten Fleisch- und Fischnahrung, aber nur deshalb, weil sie in ihren Ländern wenig Ackerbau haben oder ihn überhaupt nicht kennen. Sie verschmähen die Pflanzennahrung, wenn sie sich ihnen gelegentlich bietet, ebensowenig als die Rothäute, Feuerländer, Buschmänner und die Kannibalen der karibischen Inseln, die in Ermangelung einer besseren Nahrung gelegentlich auch das Fleisch vom Homo sapiens nicht verabscheuen. Auch die Ernährung der fleischessenden Völker ist nichts anderes, als ein Produkt der Not, durch die Misere ihrer heimatlichen Scholle ihnen aufgedrungen.

Es ergiebt sich also, dass die ethnologischen Thatsachen von den Vegetariern unrichtig gedeutet worden sind. Bei etwas kritischerer Betrachtung dieser Verhältnisse hätte es ihnen nicht entgehen dürfen, dass gerade die ethnologischen Verhältnisse zur Evidenz darthun, wie sehr die Nahrung des Menschen das Produkt seiner Lebensverhältnisse ist. Die richtige Schlussfolgerung ist also gerade die entgegengesetzte, als sie die Vegetarier aus der Entwicklungsgeschichte abgeleitet haben. Der Darwinismus giebt uns das Verständnis für diese Gestaltung der Ernährungsverhältnisse bei den verschiedenen Völkern: überall nur die Folgen einer entwicklungsgeschichtlichen Anpassung an die natürlichen Lebensbedingungen. Wie die körperliche Organisation des Menschen, so sind auch alle seine Funktionen nur das naturgemässe Produkt der Aussenbedingungen. Nirgends kann da von einer Zweckmässigkeit im teleologischen Sinne die Rede sein.

Vom Standpunkt des Vegetariers kann es begreiflich erscheinen, wenn er diejenigen Völker für glücklicher hält, welche bei der Pflanzenkost geblieben sind, weil er diese eben für die naturgemässe Lebensweise hält. Dass diese Völker aber wirklich glücklicher sind, dafür liefert weder ihre Geschichte noch ihr jeweiliger Kulturzustand auch nur den geringsten Anhaltspunkt. Vielmehr ist das Gegenteil viel wahrscheinlicher, denn das unverkennbare Streben jedes einzelnen Menschen wie ganzer Völkerscharen nach einer reicheren und mannigfaltigeren Gestaltung ihrer Ernährung weist doch unzweideutig darauf hin, dass die Einfachheit und Einseitigkeit der Nahrung nun einmal nicht nach dem Geschmacke der Mehrzahl aller Menschen ist. Schon ein flüchtiger Blick auf die Weltgeschichte lehrt jeden unbefangenen Beurteiler, dass alle Kulturfortschritte, die ja auf die Verbesserung der äusseren Lebensbedingungen, auf die Gewährung eines stärkeren Gefühls von Glück und Zufriedenheit hinauszielen, nicht von den Völkern ausgegangen sind, welche auf eine einseitige Kost durch die Not ihres Landes angewiesen waren, sondern durchgängig v o n denjenigen Volksstämmen, bei denen wir eine gemischte Kost als Wahrzeichen gesünderer, gedeihlicherer wirtschaftlicher Verhältnisse sehen! An dieser bemerkenswerten Thatsache können auch gewaltsame Verdrehungen derselben, wie wir sie in der vegetarischen Litteratur (Schlickeysen u. a.) öfters finden, für die objektive historische Kritik nichts ändern. Es spottet auch geradezu jeder geschichtlichen Wahrheit, wenn sich jemand zu der Behauptung aufschwingt: „In der ganzen Geschichte sehen wir das Beispiel, wie die fleischessenden und jagdtreibenden Völker den mehr frugivor lebenden weichen müssen." Wäre dem wirklich so, dann befände sich die Weltherrschaft heute nicht in den Händen der indogermanischen Rasse, sondern der Kuli und Hindu, der mongolischen und malayischen Völkergruppe. Der Glücksbegriff ist ja ein relativer, auch die auf niederster Kulturstufe stehenden pflanzenessenden Volksstämme mögen ihn kennen; aber für die Begriffe eines modernen Menschen, eines von der Kultur beleckten Europäers sind die Lebensbedingungen der fleischessenden Nationen, mögen sie auch noch so verbesserungsbedürftig sein, um tausendmal begehrenswertere, als das anspruchslose und zwecklose, Stumpfsinn brütende Dasein eines Datteln knabbernden Arabers oder eines Bananen kauenden Südseeinsulaners.


6. Physiologie.

Hic Rhodus, hic salta! Hier ist der Kern der ganzen Frage, wenigstens für diejenigen, welche den Vegetarismus als ein ausschliesslich wissenschaftliches Problem betrachten. Die Fragestellung lautet dann: Ist bei vegetarischer Kost, d. h. ausschliesslicher Pflanzennahrung, die dauernde Erhaltung des Lebens und der Gesundheit möglich? Wir wollen die Beantwortung dieser Frage in mehrere Unterabteilungen trennen:

1. Die Ergebnisse der physiologischen Untersuchungen des Stoffwechsels von vegetarisch lebenden Menschen.

2. Die Ergebnisse der praktischen Erfahrungen a) in Bezug auf den Ernährungs- und Kräftezustand, b) in Bezug auf den Bestand der Gesundheit und das körperliche Befinden im allgemeinen, c) in Hinsicht auf die Dauer des Lebensalters und d) bezüglich der körperlichen Leistungsfähigkeit der Vegetarier.

Anno 1869 war es, als Theodor Hahn, einer der heftigsten Widersacher medizinischer Wissenschaft, über die er, wie später so oft seine vegetarischen Waffenbrüder, die Fülle seines Hohns und Spottes auszuschütten pflegte, in seiner Schrift über den Vegetarismus ein Kapitel mit den Worten begann:

„In der Naturforschung lassen die Gelehrten für gewöhnlich nichts gelten als den Versuch, das Experiment, d. h. die durch eine grössere Reihe von Versuchen dargelegte Thatsache. Nur sie berechtigt zu denkrichtigen Folgerungen. Kommt man diesen Herren Gelehrten aber mit der vegetarischen Frage, da fallen sie ganz aus der Rolle, da urteilen und schliessen sie rein a priori, rein theoretisch."

Dieser Vorwurf ist zu jener Zeit durchaus berechtigt gewesen.

Die aprioristische Aburteilung über ein überhaupt noch nicht geprüftes Problem war in der That nicht wissenschaftlich. In der Zwischenzeit hat die Wissenschaft diese Lücke aber auszufüllen Gelegenheit genommen. Zwar besitzen wir auch gegenwärtig nur eine kleine Zahl physiologischer Untersuchungen, welche für die streng sachgemässe Entscheidung der in Rede stehenden Frage in Betracht kommen können. Aber die Beweiskraft dieses Materials ist so sicher, dass ein objektives Urteil möglich ist.

T. Cramer machte als erster 1882 Stoffwechseluntersuchungen an einem Vegetarier, der allerdings ein Drittel seines Nahrungseiweisses aus tierischen Nahrungsmitteln, wie Milch, Eiern, Butter und Käse entnahm. Deshalb haben auch die Schlussfolgerungen dieses Autors kein erhebliches Interesse und können hier übergangen werden. Wertvoller sind schon die Untersuchungen von I. Hartmann 1885, der selbst 224 Tage ohne Unterbrechung von pflanzlicher Nahrung ausschliesslich lebte, und von Dr. Rutgers 1888 an sich selbst und seiner Frau. Ersterer beschränkte sich aber lediglich auf fortlaufende Körpergewichtsbestimmungen, die Verluste aufwiesen; letzterer ermittelte zwar auch den Eiweissumsatz, indes nicht nach einer ein wandsfreien Methode, sodass die erhaltenen Resultate nicht als Masstab für die Beurteilung der in Rede stehenden Prinzipienfrage gelten können.

Die erste beweiskräftige Untersuchung des Stoffwechsels bei vegetarischer Kost ist dem Altmeister der Ernährungsphysiologie Karl v. Voit zu danken, welcher 1889 im Verein mit seinen Assistenten E. Voit und Konstantinidi die Ernährungsverhältnisse bei dem 28 jährigen Tapezierergehilfen Gruen untersuchte, der schon seit 3 Jahren an eine rein vegetarische Kost gewöhnt war. In den drei Versuchsreihen von je 6, 5 und 4 Tagen Dauer lebte der Mann wie gewöhnlich von einer Kost, welche aus Pumpernickel, Grahambrot, Äpfel, Feigen, Datteln, Orangen und Öl bestand. Diese Nahrungsmengen enthielten pro Tag 54,2 g Eiweiss, 22,0 g Fett und 557,0 g Kohlehydrate und repräsentierten einen Nährwert von 2700 Calorien. Die Ausnutzung dieser Nahrungsmittel im Darmkanal war eine sehr ungünstige, insofern von dem Eiweiss 41 Proz., vom Fett 30 Proz. und vom Stärkemehl 6 Proz. unverwertet wieder ausgeschieden wurden. Die Menge des Nahrungseiweisses genügte nicht, um den Körperbestand zu erhalten, denn der Vegetarier verlor täglich 2,5 g Eiweis vom Körperbestande.

Günstiger war das Ergebnis der Stoffwechseluntersuchung, welche Th. Rumpf mit O. Schumm 1899 an einem 19jährigen Schneidergesellen austeilte, der früher im elterlichen Hause neben der Pflanzenkost auch Eier, Butter, Käse und Milch erhalten hatte, seit einem Jahre aber ausschliesslich von Grahambrot, Äpfeln, Datteln, Quäker-Oats, Reis, Zucker und Walnüssen lebte. Diese Nahrung hatte einen Nährwert insgesamt von 3430 Calorien und enthielt im einzelnen 73 g Eiweiss, 28,6 g Fett und 689 g Kohlehydrate. Bei dieser Nahrung, die zwar noch immerhin ein relativ geringes Eiweissquantum enthält, aber überreichlich Kohlehydrate, konnte der Untersuchte während einer 8 tägigen Versuchsperiode nicht nur seinen Körperbestand erhalten, sondern sogar noch täglich 0,6 g Stickstoff = 3,76 g Eiweiss ansetzen. Das Ergebnis dieser Untersuchung erwies bereits, dass die Erhaltung des Stoffwechselgleichgewichts bei vegetarischer Kost nur möglich ist, wenn das Eiweissminimum der Nahrung durch vermehrte Zufuhr eines der anderen Nahrungsstoffe ausgeglichen wird.

Noch deutlicher trat diese Bedingung zu Tage bei der Stoffwechseluntersuchung, welche ich selbst vor 2 Jahren an einer 37jährigen Dame (Schriftstellerin) auszuführen Gelegenheit hatte, die seit 6 Jahren vegetarisch lebte, nachdem sie durch diese Kost von ihrer bisherigen Krankheit genesen zu sein glaubte. Die Versuchsperson hatte nur ein Körpergewicht von 37 1/2 kg bei 135 cm Körpergrösse. Bei der von ihr frei gewählten gewöhnlichen Kost betrug der Nährwert der gesamten Tagesnahrung 1400 Calorien, d. h. pro kg 37,3 Calorien, während man bisher etwa 40 Calorien pro kg Körpergewicht als das Mindestmass für einen nicht arbeitenden Menschen betrachtete. Voit's Vegetarier verbrauchte 47,5 Calorien, Rumpf's sogar 55,3 Calorien pro Kilo Körpergewicht. Auch an Eiweiss nahm meine Vegetarierin nur rund 34 g zu sich, d. h. 0,9 g Eiweiss pro Kilo Körpergewicht. Das ist gerade so viel als bei der Versuchsperson Voit's und etwas weniger als bei R u m p f' s Vegetarier. Meine Vegetarierin hielt sich nun mit diesem minimalen Eiweissbedarf nicht nur im Stickstoffgleichgewicht, sondern setzte in der 5 tägigen Untersuchungsperiode, während der sie nur von Grahambrot, Äpfeln, Pflaumen, Weintrauben, Datteln und Kopfsalat mit Citronensaft genoss, sogar noch etwa 11 1/2 g Eiweiss an. Wer sich näher für die Einzelheiten dieser Stoffwechseluntersuchung interessiert, sei auf meine Originalmitteilung (Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 43) verwiesen, in welcher sich auch das gesamte bezügliche litterarische Material kritisch gesichtet findet.1)

1) Von den Kritikern, die meine Arbeit in den Kreisen der Vegetarier gefunden, hat das Haarsträubendste Dr. Ziegelroth geleistet. Seine grimme Wut und seine Schmähungen, für die auch nicht im entferntesten eine Ursache ersichtlich ist, treffen mich nicht. Aber die unglaubliche Ignoranz dieses Vegetariers, der eine führende Rolle gegenwärtig zu spielen scheint, verdient niedriger gehängt zu werden: er nennt die Diät der Frau, an der meine Untersuchungen ausgeführt sind, eine „Karikatur der vegetarischen Ernährung". Das ist unfreiwillige Komik und zugleich das herbste Verdammungsurteil der vegetarischen Diät.

Das wissenschaftliche Interesse dieser Laboratoriumsuntersuchungen an Einzelvegetariern besteht in der Erkenntnis, dass es möglich ist, bei einer Eiweisszufuhr, welche weit unter der früher als notwendig erkannten Grenze liegt, nämlich kaum die Hälfte desselben beträgt, d. h. rund 1,0 statt 2,0 g Eiweiss pro Kilo Körpergewicht, den Eiweisstoffwechsel und das Körpergewicht auf ihrer Norm zu erhalten.

Zu dem gleichen Resultat haben auch die Erfahrungen der Stoffwechseluntersuchungen geführt, welche bisher allerdings auch nur in sehr spärlicher Zahl bei Leuten aus Volksschichten, die sich vorwiegend vegetarisch ernähren, angestellt worden sind. Von Rechenberg fand bei den Zittauer Handwebern im Durchschnitt eine tägliche Aufnahme von nur 65 g Eiweiss bei einem Körpergewicht von 56 kg, wobei die Gesamtnahrungsmenge allerdings einen Nährwert von 2700 Calorien hatte. Manfredi fand in der neapolitanischen Volkskost bei einem Nährwert von 2100 Calorien 70g Eiweiss für Leute mit einem durchschnittlichen Körpergewicht von allerdings nur 51 Kilo.

Viel reichlicher und insbesondere auch eiweissreicher ist nach den Ermittelungen von Kellner und Mori die Nahrung des armen japanischen Volkes. Bei 3000 Calorien Nährwert enthält sie 108 g Eiweiss, 17 g Fett und 600 g Kohlehydrate.

Es ergiebt sich also aus beiden Gruppen von Stoffwechseluntersuchungen, dass die Ernährung, wenn es sein muss, mit zwei Drittel oder sogar mit der Hälfte derjenigen Eiweissmenge bestritten werden kann, welche V o i t seinerzeit auf Grund zahlreicher statistischer Ermittelungen als Durchschnittszahl für den erwachsenen arbeitenden Menschen angegeben hatte. Aber schon die ersten Nachprüfungen von Pflueger und Bohland, Bohland und Bleibtreu, Nakahama u.a., die auf demselben Wege angestellt worden sind, haben ergeben, dass die Voit'sche Durchschnittszahl von 120g Eiweiss selbst für den schwer arbeitenden Mann zu hoch gegriffen war. Heute sind die massgebeuden Physiologen mit wenigen Ausnahmen fast allgemein der Meinung, dass der Eiweissbedarf mit etwa drei Viertel der Voit'schen Menge voll gedeckt werden kann.

Wie die oben berichteten Stoffwechseluntersuchungen beweisen, genügt zur Not sogar noch etwas weniger. Neuerdings hat Bältz (Tokio) auf Grund seiner sehr genauen Erkenntnis der Ernährungsverhältnisse in Japan angegeben, dass die dortige schwer arbeitende Bevölkerung mit einer Eiweissmenge auskommt, die 20 bis 30 Proz. niedriger ist, als die Voit'schen Zahlen.

Die Erkenntnis, dass der Mensch mit einer geringeren Eiweissmenge sich im Stoffwechselgleichgewicht zu erhalten vormag, hat dazu geführt, die Frage nach dem minimalen Eiweissbedarf des menschlichen Körpers zu prüfen. Die Untersuchungen von Hirschfeld, Kumagava, Klemperer, Peschel, Breisacher, Sivén und neuerdings Caspari haben zunächst die sehr lehrreiche Thatsache festgestellt, dass das Eiweissminimum individuell sehr schwankt, weil eben ein Organismus immer ein grösseres Sättigungsbedürfnis hat, als der andere. Die absoluten Zahlen können demgemäss nicht den Wert von feststehenden Daten beanspruchen. Dadurch verliert die zweite Thatsache, die sich ergeben hat, an Bedeutnng, dass es gelingt, den Eiweissbedarf bei Erhaltung des Stickstoffgleichgewichts bis auf etwa 6 g Stickstoff = 37,5 g Eiweiss herabzusetzen. Das gilt aber eben auch nicht für jeden Menschen.

Die Untersuchungen über das mögliche Eiweissminimum in der Eiweisszufuhr haben für uns hier ein besonderes Interesse, weil die vegetarische Ernährung oft, nicht immer, eine exquisit eiweissarme ist.1)

1) Die Vegetarier erblicken in der Eiweissarmut ihrer Nahrung gerade deren hauptsächlichsten Vorzug gegenüber der Fleischnahrung, die durch ihren Eiweissreichtum hauptsächlich schädlich wirken solle. Thatsächlich drücken einige Rohkostler, besonders rabiate Fanatiker, den Eiweissgehalt ihrer Nahrung dauernd auf 60, 50 Gramm und noch tiefer herab. Der menschliche Körper hält eben viel aus, wenn eine angeborene kräftige Widerstandsfähigkeit vorhanden ist! Herr Bürdorf in Leipzig, einer der neuesten vegetarischen Gelehrten, der seinen Gesinnungsgenossen unlängst eine belehrende Mitteilung über den „Nährwert des Obstes" hat zu teil werden lassen, teilt darin unter vielen anderen Kuriositäten auch die festgestellte „Thatsache" mit, dass der menschliche Körper sogar mit einer Mindestzufuhr von 25 Gramm Eiweiss pro Tag auskommen kann! Er beruft sich dabei auf die Arbeiten von Klemperer, J. Munk u. a., aus denen aber sicherlich kein sachverständiger Mensch einen solchen Unsinn herauslesen kann. Als Bürdorf wegen dieser seiner verblüffenden Behauptung in der „Vegetarischen Warte" von einem Leser interpelliert wird, da giebt er die fast unglaublich klingende Antwort: „Wem dieser Hinweis nicht genügen sollte, der müsste schon in einer Universitätsbibliothek die Arbeiten der von mir genannten und nicht genannten Forscher selbst nachlesen". So dreist ist der Versuch einer systematischen Volksverdummung wohl selten getrieben worden!

Die Erfahrungen, die man bei vegetarischer Kost gemacht hat, decken sich mit den Ergebnissen der experimentellen Ernährungsphysiologie. Die Übereinstimmung geht so weit, dass sich in beiden Untersuchungsreihen die Thatsache ergiebt, dass die Eiweissarmut der Nahrung vom Organismus nur deshalb ohne Schaden vertragen wird, weil die Gesamtkalorienzufuhr dem Energiebedarf des Körpers entspricht, und zwar dadurch, dass das Minimum an Eiweiss durch ein Plus an Kohlehydraten ausgeglichen ist. Eine einzige Ausnahme davon bildet anscheinend meine Vegetarierin, welche keine Luxuskonsumption von Kohlehydraten in ihrer Nahrung hatte — eine Erfahrungstatsache, die eine Stütze auch in dem Selbstversuche von Sivén findet, der ohne Erhöhung der Gesamtnahrungsmenge bei 6 g Stickstoff pro Kilo Körpergewicht sich im Stoffwechselgleichgewicht erhielt. Meine Vegetarierin hat das Eiweissdefizit auf eine andere, vielleicht noch zweckmässigere Weise gedeckt, nämlich durch Überschuss an Fett, sodass jedenfalls der Energiebedarf des Körpers befriedigt war.

Wenn der Körper nun also auch nach den zweifellosen wissenschaftlichen Feststellungen mit einem Eiweissminimum auskommen kann, so erscheint es doch als unphysiologisch und irrationell, ja sogar fast widersinnig, ein solches Minimum als die anzustrebende Norm hinzustellen und für die Volksernährung zu empfehlen, wie es die in ihrer Logik verrannten Vegetarier thun. Eine vernünftige Überlegung kann doch höchstens den durchschnittlichen Eiweissbedarf gesunder Menschen als Norm betrachten und für die Massenernährung postulieren. Ein solcher Durchschnittswert ist von der Wissenschaft bisher noch nicht genau ermittelt, augenscheinlich deshalb, weil er ungemein schwankend ist. Jedenfalls liegt er den übermässig hohen Zahlen Voit's noch immer näher, als dem extremen Minimum in der Nahrung der Rohkostler. Mit gutem Grunde haben sich die Physiologen bisher stets davor gescheut, aus den berichteten theoretischen Schlussfolgerungen über die Möglichkeit des Eiweissminimums praktische Schlussfolgerungen abzuleiten; denn würden diese einseitig extremen Erfahrungen in die That umgesetzt, so würde eine allgemeine Gefahr chronischer Unterernährung entstehen, in welche die vegetarische Kost leider sehr oft ausläuft.

Des weiteren erhebt sich die Frage, ob denn eine Nahrung mit einem Eiweissminimum, wie es die vegetarische Kost im Durchschnitt enthält, wenn sie auch ausreichend ist, empfehlenswert ist, weil sie irgendwelche Vorteile für den menschlichen Organismus bietet, oder ob sie nicht vielmehr im Gegenteil als unzweckmässig, als praktisch minderwertiger zu beurteilen ist. Zur Entscheidung dieser zweiten Frage ist es zunächst notwendig, die Qualität der pflanzlichen Nahrungsmittel selbst, die Form ihrer Anwendung und die Art ihrer Verwertung im Körper einer Analyse zu unterwerfen. Denn für die Beurteilung des Eiweisstoffwechsels kommt es nicht nur auf die Menge des zugeführten Eiweisses an sich an, sondern auch sehr wesentlich auf die Qualität desselben und die Art seiner Darreichung. Denn diese letztgenannten Faktoren beeinflussen die Ausnutzung und den Umsatz des Eiweises in nicht geringem Masse! Ist die Auswertung irgendwelcher Eiweissnahrung im Körper eine mangelhafte, so verringert sich dadurch die in den Rohmaterialien enthaltene Eiweissmenge de facto sehr erheblich. Der Vegetarier muss bei seiner relativ geringen Eiweisszufuhr noch mehr als jeder andere darauf bedacht sein, ein möglichst wertvolles, d. h. im Darmkanal gut aufsaugbares Eiweiss in seiner Nahrung aufzunehmen. Mit Rücksicht darauf drängt sich die Frage nach einem Vergleiche des Wertes des animalischen und vegetabilischen Eiweisses auf. Die Vegetarier, obwohl sie als Laien kein Urteil darüber sich anmassen sollten, pflegen meist schlankweg zu behaupten, dass das Pflanzeneiweiss dem tierischen für den menschlichen Organismus gleichwertig oder sogar überlegen sei. Die Ärzte andererseits pflegen oft das Umgekehrte zu behaupten. Damit beweisen aber beide Teile nur, dass sie schlecht unterrichtet sind. Die Frage liegt nicht ganz so einfach, wie viele glauben, und deshalb halte ich gerade eine Klarstellung dieses wichtigen und interessanten Punktes für wesentlich.

Im allgemeinen ist die Ausnutzung der Vegetabilien im Darmkanal eine ungünstigere, als die der animalischen Nahrungsmittel, und zwar sowohl in Bezug auf das Eiweiss, wie der Kohlehydrate. Der Grund dafür ist die Art, in welcher die Nahrungsstoffe sich innerhalb der pflanzlichen Nahrungsmittel befinden. Sie sind nämlich sowohl bei den Körner- und Hülsenfrüchten, wie bei Obst und Samenfrüchten in Pflanzenzellen eingeschlossen, deren Wand aus der für den menschlichen Verdauungskanal unverdaulichen Cellulose besteht. Sehr markant tritt dieser Nachteil in der Darreichung pflanzlicher Nahrungsstoffe gerade bei den Cerealien hervor. Es ist wohl allgemein nicht genügend bekannt, dass bei den Gebäcken die Art der Herstellung des Mehls einen grossen Einfluss auf die Verwertung des gebackenen Korns im Körper hat. Das feine Mehl, das ausschliesslich aus den inneren Teilen des Weizen-und Roggenkornes bereitet wird, ist im Darmkanal sehr leicht aufsaugbar. Wird aber die Kleie, d. h. die cellulosehaltige Körnerhülle mitverbacken, so verschlechtert sich sofort die Ausnutzbarkeit des Mehles erheblich. Vom Weizenschrotbrot werden z. B. 30 Proc., vom Roggenschrotbrot (Pumpernickel u. dgl.) sogar 45 Proc. der Trockensubstanz und darüber unverwertet wieder ausgeschieden. Sehr lehrreich in dieser Hinsicht ist folgende kleine Tabelle, die ich Rubner's Bearbeitung der Ernährungsphysiologie in dem neuen von v. Leyden herausgegebenen „Handbuch der Ernährungstherapie" entnehme:

 
Es werden im Darmkanal nicht resorbiert in Proz. bei  Von der Trockensubs.  Vom Eiweiss  Von den Kohlehydr. 

Weizenschrotbrot aus feinstem Mehl.
Weizenschrotbrot aus Mehl mittl. Qualität Weizenschrotbrot aus grobgemahl. Korn

4,2
5,6
6,7 
21,8
24,6
30,5 
1,1
2,9
7,4 

Die Ursache der verringerten Aufsaugung des groben Mehls durch die Chylusgefässe der Darmwand ist in dem Gehalt an Cellulose gelegen, welche sich wie eine Membran zwischen den Nährstoff und das aufsaugende Zellepithel legt. Je weniger Cellulose ein Mehl enthält, d. h. je feiner es zermahlen ist, desto weniger stört es die Resorption. Den fein zermahlenen Weizenmehlen kommt an Verdaulichkeit von den Körnerfrüchten nur noch der Reis nahe, eben weil er sehr cellulosearm ist, demnächst der Mais, der gerade deswegen, ebenso wie der Reis bei einzelnen Völkern, die vorwiegend von pflanzlicher Nahrung leben, die hauptsächlichste Nährfrucht bildet, so z. B. mit Milch verkocht als „Polenta" in Südtirol und Italien von der armen Landbevölkerung genossen wird. Auch die Leguminosen (Erbsen, Bohnen, Linsen) mit ihrer cellulosenhaltigen Hülsenschicht werden deinetwegen verhältnismässig schlecht ausgenutzt, sodass ein guter Teil ihres an sich recht grossen Eiweissgehaltes, der sie zu den wertvollsten aller pflanzlichen Nahrungsmittel macht (!), verloren geht, übrigens dabei auch ein Teil der Kohlehydrate.

Nun haben aber mehrfach einwandsfreie Untersuchungen von Rubner, Constantinidi u. a. erwiesen, dass freies vegetabilisches Eiweiss, z. B. Kleber, ganz vorzüglich im Darm aufgesogen wird, ohne indes in dieser Hinsicht die besten animalischen Eiweiss-substanzen zu erreichen. Noch neuerdings haben Laves, Loewy und Pickardt u. a. nachgewiesen, dassein als Nährpräparat in den Handel gebrachtes reines Pflanzeneiweiss, „Roborat" genannt, das aus Getreide hergestellt wird, ebensogut verdaut wird, als animalisches Eiweiss.

Was ergiebt sich also aus den' bisher bekannten wissenschaftlichen Thatsachen?

Das pflanzliche Eiweiss an sich kann hinsichtlich seiner Verdaulichkeit und Ausnutzbarkeit dem animalischen als fast gleichwertig erachtet werden. Nun wird aber freies reines vegetabilisches Eiweiss in der Nahrung dem Körper so gut wie niemals dargeboten, sondern immer nur innerhalb pflanzlicher Nahrungsmittel, aus denen der menschliche Darm das Eiweiss nicht so vollständig auszusaugen vermag, wie aus den viel leichter aufschliessbaren tierischen Eiweissubstanzen. Hier liegt der Kern der ganzen Streitfrage. Thatsächlich wird also das pflanzliche Eiweiss vom menschlichen Darm relativ schlechter verwertet, als das animalische. Gerade deswegen scheint der Mensch auf das tierische Eiweiss als Ergänzung des pflanzlichen angewiesen zu sein!

In vollständiger Verkennung dieser physiologischen Thatsachen begehen die Vegetarier meist den Fehler, gerade die groben Schrotbrotarten als besonders gut verdaulich zu empfehlen; in der Mitverwertung der Hüllen und Schalen des Kornes sehen sie einen Vorzug für die Verdauung, der in Wirklichkeit aber nur unter gewissen pathologischen Verhältnissen der Darmthätigkeit zur Geltung kommt, nämlich da, wo es sich um die Auslösung eines besonders starken Reizes durch die Cellulose und um die Schaffung eines besonders reichlichen unverdaulichen Rückstandes im Darmkanal handelt. Ein logischer Schnitzer auf physiologischer Unkenntnis beruhend führt also hier die Vegetarier zu falschen, noch dazu viel zu sehr verallgemeinernden Schlussfolgerungen. Noch grösser wird der Denkfehler, wenn man aus den erwähnten physiologischen Erwägungen heraus die Rohkost als wissenschaftlich rationell erscheinend ausgeben will. Durch das Kochen und alle sonstigen küchengemässen Zubereitungsarten der pflanzlichen Nahrungsmittel werden nämlich erst die darin enthaltenen Eiweisssubstanzen und die Kohlehydrate so frei gemacht, dass sie einer vermehrten Aufsaugung seitens der Darmwand zugänglich sind. Gerade durch das Kochen wird erst der an sich vorhandene Nachteil der schlechten Ausnutzbarkeit der Vegetabilien teilweise wieder ausgeglichen. So ist z. B. ermittelt worden, dass von in Brei verwandelten Kartoffeln sowohl Eiweiss wie Kohlehydrate viel besser ausgenutzt werden, als von ganzen Kartoffeln, geschweige denn in der Schale gekochten. Bei allen Gemüse- und Obstarten, die sich in Brei bezw. Musform bringen lassen, steigt die Ausnutzbarkeit der darin enthaltenen Nährstoffe um ein ganz erhebliches. Im allgemeinen ist bei allen Vegetabilien die Ausnutzung der Kohlehydrate günstiger, als die des Eiweisses. Der Nährwert der Pflanzennahrung liegt deshalb namentlich bei der Art, wie sie von den Vegetariern genossen wird, weniger in dem Eiweiss, als in dem reichen Gehalt an Kohlehydraten als Stärke oder Zucker!

Man hat festgestellt, dass von dem Eiweiss der Nahrung bei rein vegetabilischer Kost täglich l—2—4 g und darüber Stickstoff im Kot verloren gehen, dagegen nur 0,8—1,5 g N bei gemischter Kost und 0,5—1,5 g N bei vorwiegend animalischer Kost — ein Unterschied, der jeden unparteiisch Urteilenden gar kein Bedenken darüber hinterlässt, wo die irrationellere Ernährungsart des Körpers zu suchen ist. Meine oben erwähnte vegetarische Versuchsperson schied 32,79 Proz. des mit der Nahrung aufgenommenen Eiweisses im Kot unverwertet wieder aus, die Versuchsperson von Rumpf 33,93 Proz. und diejenige von Voit sogar 40,73 Proz., während der Eiweissverlust bei gemischter Kost 10—15, höchstens 20 Proz. des gesamten Nahrungseiweisses zu betragen pflegt. Diese starken Verluste an Nährstoff machen einen beständigen Ersatz desselben durch die über die Norm vermehrte erneute Nahrungsaufnahme notwendig, weshalb die Vegetarier meist den ganzen Tag über mit Essen und Verdauen beschäftigt sind.

Nach diesen Auseinandersetzungen erscheint es sichergestellt, dass eine ausschliessliche Pflanzennahrung physiologisch keinen Vorteil für die Ernährung des Organismus verheisst, ja sogar als eine unökonomische Ernährungsweise anzusehen ist.

Nun haften aber der vegetarischen Kost ausserdem auch noch unzweifelhaft einige Nachteile an, welche vor der Empfehlung der selben vom Standpunkt der Ernährungsphysiologie aus entschieden warnen müssen: 1. Das grosse Volumen der Nahrung. Es beträgt bei vegetarischer Kost im Durchschnitt 3—3 1/2 Pfund, dagegen nur 2—2 1/2 Pfund bei gemischter Kost und 1 1/2—2 Pfund bei vorwiegend animalischer Nahrung. Der Pflanzenesser muss ein grosses Quantum Nahrung schon deshalb geniessen, um neben dem wertlosen reichlichen Cellulosegehalt der Vegetabilien eine genügende Menge an wirklich verdaulichen Nährstoffen in sich aufzunehmen! Glücklicherweise ist die Pflanzennahrung so billig, dass die Beschaffung der nötigen Menge meist keine Schwierigkeiten bedingt und deshalb die Ernährung auf ausreichender Intensität erhalten werden kann. Bei Leuten, die nicht mit ständig lebhaftem Appetit, kräftigen Kauwerkzeugen und einem widerstandsfähigen Verdauungskanal begabt sind — es giebt glücklicherweise solche normale Menschen in grosser Menge —, wird schon die Aufnahme eines so grossen Volumens Nahrung auf Schwierigkeiten stossen. Indes muss ich anerkennen, dass dieses Moment kein ausschlaggebendes sein kann; denn die meisten Menschen essen gern und viel, oder sehen sogar die Erfüllung ihrer Lebensaufgabe darin. Man kennt auch die Vielesser mit den Riesenmägen, in denen selbst solche Nahrungsmassen noch verschwinden.

3. Ein gewichtiger Einwand gegen die allgemeine Einführung der vegetarischen Kost ist ferner ihre oft betonte Eintönigkeit, wenngleich dieselbe, wie schon früher einmal erwähnt, durch eine geschickte Kochkunst sehr vermindert werden kann. Namentlich in der Hausmannsküche lässt sich eine grosse Abwechslung in der Art pflanzlicher Speisen erreichen. Die Mannigfaltigkeit der Kost in der landläufigen vegetarischen Ernährung stellt einen grossen Vorzug gegenüber der Rohkost dar, die auf die Dauer zu zwingen ein ganz ungewöhnliches Mass von Energie und Selbstverleugnung gehört. Weiss man doch aus den Gefängnissen, wie namentlich Baer wiederholt nachgewiesen hat, zur Genüge, dass dort die Eintönigkeit in der Verabreichung von Speisebreien pflanzlicher Herkunft bei den Insassen meist nach längerer Zeit einen derartigen Ekel erzeugt, dass schliesslich jede Nahrungsaufnahme verweigert wird. Unter anderem ist auch von Wald darauf hingewiesen worden, dass diese abschreckende Eintönigkeit der Kost schliesslich zu schweren Ernährungsstörungen führt, welche die Gefängnisse dezimieren. Die Erkenntniss dieser Thatsachen hat ja insbesondere in Preussen die Staatsbehörden schon seit vielen Jahren veranlasst, von der einseitigen Pflanzenkost in den Gefängnissen abzusehen und (mit der notwendigen Bewilligung grösserer Geldmittel) eine regelmässige Zulage von Fleisch zu gestatten. Der Empfindung der Eintönigkeit der Kost und der dadurch bedingten Widerwärtigkeit derselben werden die Vegetarier meist in einer ganz bewundernswerten Selbstzucht Herr. Die Empfindung der Eintönigkeit der Kost ist ja vielfach auch mehr von persönlich wirtschaftlichen Verhältnissen, als von der Geschmacksvermittlung der Zungennerven abhängig. Das Verlangen nach Abwechselung in der Kost steigert sich stets und allenthalben mit der Verfeinerung des Tisches überhaupt und erreicht seinen Höhepunkt in den anmassenden Ansprüchen eines „Gourmet, den der feinsinnige Franzose, bekanntlich ein Sachkenner in der Gastronomie, deshalb genau von „Gourmand" unterscheidet, der viel isst, weil er gern isst! Toujours perdrix — das ist auch die Emfindung des armen Mannes, der nicht an Rebhühner, aber an Brot und Kartoffeln sich bald satt gegessen hat.

4. Mit der Eintönigkeit der vegetarischen Kost hängt aufs innigste der angebliche Mangel derselben an Geschmack zusammen. Für den Durchschnittsmenschen stellt sich kritisch betrachtet dieser Mangel aber in der Hauptsache als ein Vermissen der Reizstoffe heraus, welche die Mehrheit der Menschen zu bedürfen glauben, die sie im Fleisch und in der Fleischbrühe, in Saucen, Salzen und Gewürzen, schliesslich in Getränken der verschiedensten Art sich zuführen. Auch der Gebildete pflegt die Vorstellung der Schmackhaftigkeit und anregenden Reizempfindung meist zu identifizieren. Würden sie sich wirklich decken, dann hätten die Vegetarier zweifellos ethisch und ästhetisch etwas vor den Fleischessern voraus; denn alle Reizstoffe sind künstliche Belegungsmittel, deren der menschliche Körper an sich durchaus nicht bedarf, deren Genuss namentlich, wenn er, wie so oft, übertrieben wird, sogar eher mehr Nachteil für die Gesundheit bringt, als ihre Vermeidung Vorteile. Schmackhaftigkeit der Kost ist auch ohne Zusatz von Reizstoffen denkbar und oft genug ausgeführt. In Wirklichkeit liegt die häufige Geschmacklosigkeit oder gar Geschmackwidrigkeit der pflanzlichen Kost hauptsächlich daran, dass sie nicht die Mannigfaltigkeit der Zubereitung gestattet, welche bei animalischen Speisen möglich ist. Aber alles in allem genommen, erachte ich den Einwand geringerer Schmackhaftigkeit nicht für ausschlaggebend zu einer abfälligen Beurteilung dieser Ernährungsweise.

5. Eine unangenehme Nebenwirkung der vegetarischen Kost ist schliesslich noch die starke Entwicklung von Gasen und Säuren im Darmkanal, welche für viele Menschen eine mehr oder weniger unerträgliche Belästigung werden. Doch pflegen die meisten Menschen für diese Belästigung allmählich weniger empfindlich zu werden, ganz abgesehen davon, dass sie keine regelmässige Folgeerscheinung ist. Gehört sie also auch nicht zu den Annehmlichkeiten, so wäre doch auch dieses Moment kein zwingender Grund zur Verwerfung der allgemeinen Kost, wenn sie nicht aus anderen oben angeführten Gründen als unzweckmässig erschiene.

Diesen letztgenannten Übelstand würde man bei sonstiger Brauchbarkeit pflanzlicher Ernährungsweise um so eher mit in den Kauf nehmen können, als die starke Entwicklung von Gasen und Säuren im Darmkanal als Folgen der Gärung der Kohlehydrate auch einen Vorteil gewährt, der für manche Menschen nicht gering zu veranschlagen ist: nämlich die Anregung der Darmthätigkeit und die dadurch hervorgerufene beschleunigte Entleerung der unverdauten Nahrungsreste. Bei der weiten Verbreitung, welche das Übel chronischer Darmschwäche (Stuhlverstopfung) stets unter den Menschen gehabt hat, könnte diese Eigenschaft der vegetarischen Kost ihr gewisse Vorzüge einräumen. Übrigens hat an dieser Wirkung der Pflanzenkost, wie schon oben kurz bemerkt, auch der Umstand einen wesentlichen Anteil, dass ein grösserer Teil der Nahrung, als bei Fleischkost, im Darm unverdaut liegen bleibt und dieser schwere Ballast den gewünschten Reiz auf die geschwächte Darmwandmuskulatur ausübt.

Mit diesem Vorteil energischerer Darmentleerung ist noch ein zweiterer günstiger Moment verknüpft, das allerdings für die Funktion des Gesammtorganismus auch nur von untergeordneter Bedeutung ist: nämlich die Herabminderung der Eiweissfäulnis im Darm, welche dadurch auch dem Laien zur Erkenntnis kommen kann, dass die Darmentleerungen einen weniger Übeln Geruch entfalten, als bei Fleischkost. Diese Beschränkung der Eiweissfäulnis beruht zum Teil auf der schnelleren Entleerung des Darmkanals von den fäulnisfähigen Nahrungsresten, zum Teil aber auch auf der wissenschaftlich festgestellten Thatsache, dass das pflanzliche Eiweiss in geringerem Grad der Fäulnis unterliegt, als das tierische. Dieser Vorteil vegetarischer Kost ist aber, zumal der Unterschied kein erheblicher ist, für den Gesamtorganismus von so geringer Bedeutung, dass ihm irgendwelche ausschlaggebende Bedeutung nicht zukommt.

Die Vorteile der vegetarischen Ernährung kommen alle nicht für die Physiologie, sondern nur für die Pathologie in Betracht! Damit ist ihr Wert wohl genügend gekennzeichnet.

Wenn die Theorie also versagt, so bleibt noch zu prüfen, welche praktischen Resultate denn die vegetarische Ernährung zeitigt.

Sieht man daraufhin die vegetarische Litteratur durch, so kann man nicht genug staunen über die kindliche Naivität, mit welcher hier fast durchweg unbeglaubigte Erzählungen, unverbürgte Nachrichten, leeres Geschwätz aus drittem oder viertem Munde als objektive Beobachtungen und Thatsachen vorgetragen werden. Dass die wenigen Dinge, die darunter überhaupt glaubhaft erscheinen, auch eine andere Deutung gestatten, als im vegetarischen Sinne, das kommt den Berichterstattern natürlich gar nicht in den Sinn. Bei der Voreingenommenheit ihrer Anschauung und ihres Urteils kann die Einseitigkeit in der logischen Verwertung von Thatsachen auch gar nicht überraschen. Einige wenige Beispiele werden das drastisch genug illustrieren. In der Brochüre „111 Thatsachen zu Gunsten der fleischlosen Diät" findet sich z. B. unter Nr. 93 folgende Mitteilung: „Dr. James Bary, ein weiblicher Armenarzt, ist bis zum Range eines Generalinspektors befördert worden. Was die Dame zur Annahme einer so aussergewöhnlichen Stellung veranlasste, ist nicht bekannt geworden; ihr Geheimnis wurde erst nach ihrem Tode allgemein erkannt: sie war Vegetarierin." Oder Nr. 109: „93 Jahre Vegetarierin. Im Februar 1870 starb zu Leicester Miss Coltment 93 Jahre alt. Ihr langes Leben war der edelsten Menschenliebe geweiht, sie lebte vegetarisch von den Kindertagen bis zum letzten Augenblick."

Ausserhalb der Kreise kritikloser vegetarischer Schwachköpfe wird niemand solche und ähnliche Erzählungen, von denen die vegetarische Litteratur überfüllt ist, auch nur einen Augenblick ernsthaft würdigen. Einem grossen Teil dieser vegetarischen „Thatsachen" haftet der Fluch der Lächerlichkeit untilgbar an. Angesichts dieser Öde und Unfruchtbarkeit der eigenen Beobachtungen der Vegetarier bleibt uns nichts anderes übrig, als uns selbst ein Urteil darüber zu bilden, was die Vegetarier an sich durch ihre Lebens- und Ernährungsweise erreicht haben, indem wir uns etwas eingehender mit der Physiologie ihrer körperlichen Organisation und ihrer Lebenserscheinungen beschäftigen.

1. Was da zunächst den Ernährungs- und Kräftezustand der Vegetarier anlangt, so bietet uns die grosse Mehrzahl derselben nicht nur unter den Vollblutvegetariern, sondern auch unter den Halbvegetariern nichts weniger als den Anblick strotzender Gesundheit, kräftiger Körperfülle oder auch nur des normalen physiologischen Durchschnitts dar. Das rührt daher, dass, wie schon früher einmal erwähnt, die reinen Vegetarier sehr stark belastet und durchsetzt sind mit Kranken, die in dieser Ernährungsweise ihre Zuflucht und ihr Heil suchen. Sie bleiben zuweilen sogar zeitlebens Vegetarier, ebenso lange aber auch — krank. Niemals gelangen sie zu jenem Vollgefühl körperlicher Gesundheit, das dem Menschen Befriedigung mit sich selbst gewährt, ihm geistige Frische verleiht, ihm Mut zum Leben und zum Hoffen giebt. Bei der Bescheidenheit der Lebensführung und der ängstlichen Vermeidung jeder Extravaganz und jedweden Exzesses, dem sich ein gesunder vollkräftiger Mensch ohne Schaden sogar öfters im Leben aussetzen kann, erhalten sich diese körperlich Degenerierten — Schwächlinge möchte man sie nennen — oft erstaunlich lange am Leben und ohne ernstere manifeste Krankheitserscheinungen, die sie aufs Bett werfen könnten. Aber sie führen eben immer nur ein Leben gerade an der Schwelle ausreichender Integrität der körperlichen Funktionen mit einem Mindestmass von Aufgebot an Lebenskraft. Ihr geringes Körpergewicht erfordert freilich auch nicht mehr. Diese körperlich Minderwertigen sind für den kundigen Blick des Arztes scharf genug gekennzeichnet: schlaffe, welke, blutarme Geschöpfe von grazilem Körperhabitus, schwach entwickelter Muskulatur, geringem Fettpolster, hagerem Gesicht, dünnen Knochen, leichtem Gewicht, stets verdriesslicher Laune und leicht reizbar und erregbar — das ist die körperliche Decadence des Kulturmenschen, die sich für den Mediziner in der Trias der Symptome kennzeichnet: Unterernährung, Neurasthenie, Anämie.

Es wäre ungerecht, behaupten zu wollen, dass es von dem gekennzeichneten Typus unter den Vegetariern keine Ausnahmen gäbe, allerdings eben nur Ausnahmen. Der gekennzeichnete Typus bildet die Regel. Die Ausnahmen sind kräftige, gut genährte, vollsaftige Naturen, meist jüngere Leute oder höchstens im mittleren Lebensalter, welche erst wenige Jahre bei der Sache sind. Die Mehrzahl der Vegetarier steht im 3. und 4. Lebensjahrzehnt, ältere Leute findet man unter ihnen recht selten. Dass diese körperlich vollwertigen Vegetarier ihre Konstitution ihrer Ernährungsweise verdanken, wie sie selbst oft glauben, dafür mangelt es auch an der Spur eines Beweises. Man kann nicht im geringsten behaupten, dass sich in diesen Reihen besser genährte Individuen fänden, als unter normalen Menschen. Hier spielt ja die individuelle ererbte Disposition eine ausschlaggebende Rolle. Nur soviel kann man im besten Falle zugestehen, dass sich auch ein kräftiger Ernährungszustand mit andauernder vegetarischer Lebensweise vereint und durch sie nicht zerstört zu werden braucht.

Einer besonderen Erwähnung wert ist die Frage nach einer vegetarischen Ernährung des wachsenden Organismus. In der vegetarischen Litteratur findet sich eine grössere Anzahl von Mitteilungen, in denen behauptet wird, dass Kinder rein vegetarisch auferzogen worden seien, ja, dass es Familien gäbe, in denen der Vegetarismus schon in dritter und vierter Generation fortgepflanzt sei. Diese Mitteilungen sind durchweg vollständig unkontrollierbar. In zwei Familien, in denen ich die angeblich vegetarische Erziehung der Kinder nachzuprüfen Gelegenheit hatte, stellte sich heraus, dass die Ernährung ganz und gar nicht streng vegetarisch war, wenigstens nicht andauernd, zumal nicht in den späteren Kinderjahren. An der thatsächlich vorhandenen kräftigen Entwicklung dieser Kinder schien mir aber die erebte gute Anlage den wesentlichsten Anteil zu haben. Wenn die Vegetarier in ihrer fanatischen Verblendung nicht über die Thatsache wegsehen würden, dass der von ihnen so hoch geschätze Instinkt es ist, welcher dem Säugling die tierische Nahrung der Mutterbrust oder ihrer Surrogate zuführt, dann brauchte auch nicht einen Moment darüber ernsthaft diskutiert zu werden, dass die Natur für den wachsenden Organismus tierische Nährstoffe als notwendig und zweckmässig vorgeschrieben hat. Erst wenn uns die Vegetarier einmal einen Säugling zeigen werden, der ohne Milch gross gezogen worden ist, dann könnte eine solche Frage ernstlich erörtert werden, wie sie die vielbesprochene Stiftung des Juristenprofessors Dr. Baron in Berlin aufgeworfen hat: ob nämlich die Gründung eines vegetarischen Kinderheims wissenschaftlich oder praktisch zu rechtfertigen bezw. zu empfehlen sei. Ich teile durchaus den Standpunkt der städtischen Behörden unserer Residenz, welche, dem bewährten Rate Virchow's folgend, die Annahme dieser Stiftung abgelehnt haben, weil der insinuierte Versuch nicht nur sehr unnötig für die weitere Entwicklung des Menschengeschlechtes erscheint, sondern auch in sich selbst haltlos und widerspruchsvoll ist. Dass man Säuglinge und Kinder mit Milch und Mehlsuppen ernähren kann, das brauchen uns die Vegetarier nicht erst zu beweisen. Von diesem notwendigen Übel machen die Ärzte seit Hippokrates alltäglich Gebrauch. Für die Möglichkeit einer vegetarischen Auferziehung von Kindern hat die praktische Erfahrung bisher nicht den geringsten Beweis erbracht und sie wird es niemals können, weil dies ein physiologisch unlösbares Problem darstellt!

2. Wie steht es nun mit der weiteren angeblich empirisch bewährten Thatsache, dass die vegetarische Lebensweise eine längere Lebensdauer gewähre? Was soll man zu der Naivität der Beweisführung sagen, welche sich darauf stützt, dass irgend ein Vegetarier das biblische Alter mehr oder minder weit überschritten habe?! Als ob es nicht genug anders ernährte Leute gäbe, die ebenso alt und noch älter werden! Die Länge des menschlichen Lebens ist weder ausschliesslich noch hauptsächlich von der Art der Ernährung abhängig, sondern von einer ganzen Reihe andersartiger Faktoren, die in idealer Konkurrenz nebeneinander wirksam sind: in erster Reihe die Familienanlage, weiterhin die Regelmässigkeit und Solidität des Lebenswandels, die Vermeidung häufiger Exzesse in baccho et venere, das Freibleiben von interkurrenten Krankheiten, die Vermeidung von Tabak und anderen Reiz-, Belebungs- und Betäubungsmitteln, die Verhütung geistiger Überanstrengungen, Aufregungen u. dgl. m. Ich würde mich desselben Denkfehlers schuldig machen, den die Vegetarier begehen, wenn ich aus der auffälligen Thatsache, dass gerade eine grosse Anzahl von Führern des Vegetarismus im frühzeitigen Alter gestorben sind, noch neuerdings wieder der Justizrat Lothar Volkmar, die Schuld daran ihrer Ernährungsart zuschreiben würde! Die Vegetarier sollen einmal den Versuch zu einer exakten Statistik der Lebensdauer unter ihren Anhängern machen, die natürlich einige Jahrzehnte hindurch fortgesetzt werden müsste. Dabei würde sich übrigens nebenbei auch herausstellen, wie lange denn die grosse Mehrheit der Vegetarier ihrer Sache treu bleiben. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass eine solche Statistik die Thatsache lehren würde, dass der Vegetarismus das Leben ebensowenig verlängert, als er es gesünder und kräftig macht. Würde diese Mortalitätserforschung auch auf die Morbilitätsstatistik erweitert werden, so könnten wir interessante Aufschlüsse darüber gewinnen, ob nicht unter den Vegetariern die Krankheiten häufiger sind, als unter anderen Menschen, insbesondere die Ernährungsstörungen, Blutarmut und Nervenkrankheiten. Seltener sind diese Krankheiten bei ihnen jedenfalls nicht. Wenn der Vegetarismus die Menschen gesünder erhielte, dann wäre das längst zum allgemeinen Bewusstsein in den Volksmassen gekommen, und alle Welt würde vegetarisch sich ernähren.

3. Wir gelangen jetzt zur Prüfung der Behauptung, dass die vegetarische Kost eine grössere körperliche Leistungsfähigkeit giebt, als animalische bezw. gemischte Nahrung. Die Beweisführung der Vegetarier teilt sich in das Argumentum ad animal et ad hominem. Was ersteres anlangt, so verweisen die Vegetarier immer mit Nachdruck auf die ausserordentliche Kraftleistung der pflanzenfressenden Arbeits- und Lasttiere, die der Mensch gerade darum für sich verwende: Ochs und Pferd, die dem Menschen in seiner Berufs- und Kulturarbeit so wertvolle Dienste leisten, weil sie über eine weit grosse körperliche Kraft verfügen als der Mensch und viel ausdauernder in der Arbeit sind als dieser. Dass Pferd und Rind über eine grosse Muskelkraft verfügen, wer wollte es leugnen! Aber diese Körperkraft ist bei diesen Pflanzenfressern (obwohl sie zu den grössten Tieren gehören!) noch nicht so gross wie bei anderen Fleischfressern. Während die ersteren nie ein Gewicht zu tragen vermögen, das grösser ist, als ihr eigenes, vermögen die letzteren erheblich mehr zu schleppen. Noch neuerdings hat Hauchecorne diese Unterschiede scharf beleuchtet:

„Ein Eskimohund trägt 30 Pfund, soweit seinen Herrn seine langdauernden Jagden führen. 6—8 Hunde — ein solcher Hund hat die Körpergrösse und Masse eines grossen Spitzes, eines Schäferhundes! — ziehen einen Schlitten mit 5 Ms 6 Menschen oder 600—800 Pfund 8—10 geographische Meilen an einem Tage auf ebener Bahn nach Ruhe und guter Fütterung, 2 deutsche Meilen in l Stunde unter jauchzendem Gebell. Die Kamtschatkahunde — 2 Fuss 3 Zoll Körperlänge l Fuss Schwanzlänge, 20—22 Zoll Schulterhöhe — ziehen, 4 Hunde vor dem mit 2 1/4 Zentner beladenen Schlitten gespannt, diesen 80—100 Werst = bis 106,7 Kilometer pro Tag auf den schlechtesten Wegen, wo kein anderes Tier durchkommt."

Die Berufung auf die Tierwelt als Zeugen verfängt also hier ganz und gar nicht, ja dieses Argument würde sogar nach oben angegebenen Thatsachen eher zu Ungunsten der Pflanzennahrung herangezogen werden können. Weit ernster ist ein anderer Einwurf der Vegetarier zu nehmen, dass sich nämlich ein wesentlicher Unterschied in der Art der Kraftentfaltung in der Tierreihe bemerkbar mache: durchgehends nämlich sei die Thatsache erkennbar, dass die Fleischfresser eine ganz ausserordentliche Kraftleistung in einem gegebenen Moment auszuführen vermögen, während die Tiere, welche andauernde Arbeit zu leisten haben, fast ausschliesslich Pflanzenfresser sind, sodass es den Anschein gewinnt, als ob in der Tierwelt wenigstens die Energie der Kraftleistung mehr durch Fleischnahrung, die Ausdauer bei derselben mehr durch Pflanzennahrung garantiert werde.

Zum Beweise der Behauptung, dass auch den Menschen die Fleischnahrung wohl eine momentan sehr energische Kraftleistung zu entfalten befähige, dass aber zu einer Dauerleistung körperlicher Arbeit die Pflanzennahrung in weit höherem Grade geeignet sei, berufen sich die Vegetarier auf eine Reihe von Thatsachen, welche hier einer kurzen kritischen Erörterung unterworfen werden sollen. Es ist allgemein bekannt, dass die Ernährung der körperlich arbeitenden Bevölkerungschichten in allen Ländern der Erde, auch da, wo die Pflanzennahrung nicht allgemeine oder auch nur vorwiegende Lebensgewohnheit ist, eine ausschliesslich oder hauptsächlich vegetarische ist. Wir brauchen gar nicht soweit zu gehen, an die pfundweise Kartoffel tilgenden Iren oder die den Mais in verschiedenen Zubereitungen geniessenden Italiener und Südtiroler oder schliesslich an die Reis essenden Chinesen und Japaner zu erinnern, die ja insgesamt weniger geistige Kulturwerke schaffen, als dass sie schwere körperliche Arbeit leisten; sondern wir haben in unserem eigenen Vaterlande genug Beispiele dafür, dass Brot und Kartoffel als hauptsächlichste Nahrung für diejenigen Klassen der Bevölkerung dienen, welche andauernd die schwerste Muskelarbeit zu leisten haben. Der Steinträger und der Holzhauer, der Schmied und der Schlosser, und viele andere Typen der schwer arbeitenden Volksmassen fühlen sich dauernd wohl und arbeitsfähig bei einer solchen vorwiegend vegetarischen Kost, zu der höchstens des Sonntags einmal oder bei besonderen Gelegenheiten eine Fleischspeise hinzutritt. In den Grosstädten freilich pflegt der Arbeiter auch Wurstwaren, Käse, allenfalls Eier u. dgl. noch zuweilen sich zu gestatten. Auf dem Lande dagegen sind diese animalischen Nahrungsmittel Leckerbissen, die für die hohen Festtage vorbehalten sind, und gerade der Landarbeiter leistet zumeist eine Arbeit, die an Schwere der Ausführung hinter der des industriellen Arbeiters nicht zurücksteht, sie vielfach sogar vielleicht noch übertrifft. Der Wert eines wissenschaftlichen Experimentes geradezu kommt den Beobachtungen zu, welche Prof. Baeltz in Tokio, einer der besten Kenner und Beobachter von Land und Leuten in Japan, in neuester Zeit mitgeteilt hat:

„Ich hatte zwei Wagenzieher, zwei kräftige junge Männer, einen von 22, einen von 25 Jahren. Die Leute hatten jahrelang denselben Beruf verfolgt. Ich liess ihnen ihre Nahrung, es wurde nur ganz genau gemessen, was sie assen, was sie tranken, und es wurden in der bekannten Weise die chemischen Bestandteile der Nahrung festgestellt. Die Leute bekamen einen bestimmten Auftrag. Sie sollten mich, einen 80 Kilogramm schweren Mann, während drei Wochen täglich 40 Kilometer weit im Dauerlauf ziehen. Das erscheint als eine ziemlich grosse Leistung, es ist aber weniger, als zu was die Leute sich erboten. Für meinen Zweck war das vollständig genügend, denn wir erachten einen Marsch von 40 Kilometer als etwas recht respektables, aber einen erwachsenen Mann an einem sonnigen Augusttage 40 km den Tag im Lauf zu ziehen, das ist etwas mehr, als man gewöhnlich bei uns verlangt.

Also die Leute haben während des Versuchs ihre frühere Nahrung beibehalten, deren Fettgehalt weniger als die Hälfte des Voitschen Satzes betrug, während der Eiweissgehalt von 60—80 Proz. des Postulats schwankte. Die Kohlehydrate dagegen wurden in ausserordentlich grossen Mengen in Gestalt von Reis und Kartoffeln, von Gerste, von Kastanien, von Lilienwurzeln und anderen dort gebräuchlichen Nahrungsmitteln zugeführt. Nach 14 Tagen habe ich die Leute gewogen. Der eine hatte sein Gewicht nicht verändert, der andere hatte 1/2 Pfund an Gewicht zugenommen. Nach diesen 14 Tagen bot ich nun den Leuten an, ich wollte ihnen Fleisch geben. Sie waren sehr dankbar, denn Fleisch galt ihnen als Luxus. Ich ersetzte also einen Teil der Kohlehydrate durch eine entsprechende Menge Eiweiss — nicht ganz so viel, wie es Voit verlangte, aber doch eine ziemlich hohe Menge. Die Leute assen das mit Vergnügen, aber nach drei Tagen kamen sie und baten mich, das Fleisch wieder abzusetzen und es ihnen nach Vollendung ihrer Probezeit zu geben, denn sie fühlten sich zu müde, sie könnten nicht so gut laufen wie vorher. Dann gab ich wieder die ursprüngliche Nahrung bis zum Ende des Versuchs und das Resultat war dasselbe geblieben. Der eine blieb auf seinem Gewicht, vielleicht mit 100 Gramm Unterschied, bei dem anderen war etwas weniger als 1/2 Pfund Zunahme zu konstatieren.

Ich will ihnen noch grössere Leistungen mitteilen bei einer solchen Nahrung. Ich führe nur an, was ich selber gesehen habe. Zu dem Wege von der Hauptstadt Tokio nach Nikko — dieser Ort liegt im Gebirge und es sind 110 Kilometer

— brauchte ich im Sommer mit einem Wagen bei sechsmaligem Pferdewechsel

— es wurde die Nacht durchgefahren, weil es furchtbar heiss war — von abends 6 Uhr bis morgens 8 Uhr, das sind vierzehn Stunden. In demselben Augenblick, als wir aus der Stadt Tokio hinausfuhren, sah ich einen Japaner in einer Djinrikiska (Fahrstuhl) sitzen und fragte, wo er hingehe: — er gehe auch nach Nikko. Dieser Mann wurde von einem Menschen gezogen. Er kam eine halbe Stunde nach uns an. Wir hatten sechsmal die Pferde gewechselt, dieser eine Japaner aber hatte einen erwachsenen Landsmann, der durchschnittlich 54 Kilogramm schwer ist, 110 Kilometer weit im Laufschritt iu 14 1/2 Stunden gezogen — bei nur vegetarischer Nahrung."

"Was folgt aus alledem ? Die Thatsache, die gerade in ärztlichen Kreisen oft angezweifelt und bestritten worden ist, dass bei vegetarischer Kost, wie die Unterhaltung des Lebens- und des Körpergewichts, so auch die Entfaltung ganz ausserordentlicher Muskelkraft möglich ist, die hinter derjenigen der Fleischesser nicht zurücksteht. Aber es ist damit nicht bewiesen, dass die vegetarische Kost in dieser Hinsicht überlegen ist, weder in Bezug auf die Höhe, noch die Ausdauer der Kraftleistung!

Das wird von vornherein schon dadurch erklärlich, dass der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen auf die Stärke und die Extensität seiner Arbeitsleistung durch die Energie seines Willens einen sehr erheblichen Einfluss ausübt, sodass dieser selbst von massgebenderer Bedeutung erscheint, als die Art der Ernährung. Für eine grosse Reihe von Arbeitsleistungen, wie sie gerade der Mensch in seiner alltäglichen Lebensarbeit zu schaffen hat, kommt geradezu eine Verbindung beider Arten von Muskelthätigkeit (Kraft- und Dauerleistung) in Betracht. Es giebt eine grosse Reihe von Berufszweigen, bei denen die körperliche Arbeit ebensoviel Energie als Ausdauer in der Leistungsfähigkeit erfordert. Deshalb erscheint eine solche Trennung der Muskelarbeit in zwei qualitativ verschiedene Arten als eine für das Alltagsleben erkünstelte Gliederung. Sie macht sich nicht einmal für die körperlichen Leibesübungen in ihren verschiedenen Variationen geltend. In erster Reihe erfordern sie alle ein schnell zu Entfaltung zu bringendes Aufgebot von Muskelarbeit. Selbst der vom physiologisch-hygienischen Gesichtspunkt aus durchaus verwerfliche ,,Wettsport" jeder Art macht keine Ausnahme davon. Seine Gesundheitsschädlichkeit besteht ja gerade in der exzessiven Steigerung der Muskelkraft. Giebt es doch genug Formen des „Wettsports", bei denen es auch nur auf die Entfaltung einer ausserordentlichen Kraftleistung innerhalb einer kurzen Spanne Zeit ankommt, so z. B. bei Wettschwimmen, Wettrudern, Wettlaufen u. dgl. m. Andererseits ist mit vielen Dauersportleistungen auch das Aufgebot „maximaler Muskelarbeit" verbunden, wie z. B. beim Distanzgehen u. dgl. m. Wer dabei am schnellsten geht, spart an Zeit und leistet deshalb in der Zeiteinheit wie insgesamt mehr als einer, der in langsamerem Tempo länger zu gehen imstande wäre. Der Einfluss des Willens auf die Muskelthätigkeit kommt gerade beim Sport am klarsten zum Ausdruck in dem Usus des Trainings, durch das Kraft und Ausdauer der Muskelleistung in gleicher Weise gestärkt werden. Nur durch die Ergänzung von Kraft und Ausdauer in der Muskelarbeit kommt überhaupt erst die überwiegende Mehrheit hervorragender Sportsleistungen zustande. Deshalb erscheint es ganz verkehrt, die eine oder die andere dieser beiden Arten der Bethätigung der Muskelarbeit als die wertvollere zu betrachten.

Wie steht es denn nun mit der angeblichen Überlegenheit der Vegetarier im Sport? „Sport" bedeutet heutzutage leider fast immer „Wettsport". Denn die moderne Entwicklung des Sports bewegt sich fast ausschliesslich in der Richtung des Wettsports, in der Darbietung höchster Kraftleistungen, welche grösstenteils nicht mehr dem Zwecke der Leibeszucht und Körperkräftigung dienen, sondern den mannigfachsten materiellen Interessen, nicht zum mindesten der Schaulust des sensationslüsternen Publikums. Das Turnen ist die einzige Leibesübung, welche diese missbräuchliche, künstlich herbeigeführte Entwicklung nicht genommen hat und darum die edelste Sportart geblieben ist. Auch die bei uns leider viel zu wenig gepflegte Gymnastik konnte ihrer ganzen Eigenart nach von solchen Auswüchsen und Entartungen frei bleiben. Nun, auf allen Gebieten, nicht nur der echten Leibesübungen, sondern des auch modernen Sports haben Fleisch- und Gemischtesser Hervorragendes geleistet. Sie sind es, welche die Mehrheit aller Siege in solchen Konkurrenzen errungen haben. Entsprechend der geringen Zahl der Vegetarier findet sich nur selten einer von diesen unter denen, welche sportliche „Höchstleistungen" aufzuweisen haben. Nur in einem ganz besonderen Sport scheinen die Vegetarier überlegen zu sein: im Wettgehsport (Distanzmarsch). Zwar lässt sich an der Hand der Sportchronik nachweisen, dass die Fleischesser auch auf diesem Gebiete ganz Hervorragendes geleistet und viele Siege zu verzeichnen haben. Doch hätte der Beweis dafür hier kein besonderes Interesse. Wenn nun die Vegetarier mit vollem Recht behaupten, dass sie in diesem Sport eine ausserordentliche Leistungsfähigkeit beweisen, so ist aus dieser Thatsache kein anderer Schluss folgerichtig als der, dass auch Pflanzenkost zu grosser körperlicher Kraftentfaltung und sportlich er Höchstleistung befähigt. Die vegetarische Diät erscheint also in dieser Hinsicht der Fleischnahrung gleichwertig. Nun geht aber die Behauptung der Vegetarier meist viel weiter: sie pflegen mit der ruhmvollen Verkündung ihrer Sportsiege stolz meist die ganze Welt zu erfüllen, indem sie daraus nicht nur den Wert, sondern auch die Überlegenheit der vegetarischen Lebensweise herleiten und ad oculos zu demonstrieren glauben. Sie liefern dazu als Kommentar meist die für den Laien so plausibel und bestechend klingende Erklärung, dass die Fleischesser ja wohl zu einer schnell zu entfaltenden intensiven Muskelkraft geeignet seien, aber für solche Dauerleistungen nur die Pflanzenkost die nötige Zähigkeit verleiht.

Obwohl es nun bisher keineswegs als „Thatsache" erwiesen ist, dass die Vegetarier auf diesem Gebiete des Sports durchschnittlich und im allgemeinen mehr leisten als andere, so sei dies einmal als wahr unterstellt. Dann ergeben sich aber für den kritischen Beobachter und Kenner der Verhältnisse als Ursache dieser scheinbaren Überlegenheit der Vegetarier ganz andere Gründe als die der Ernährung. In erster Reihe findet sich eine solche Ursache in dem Umstände, dass die Vegetarier gerade diesen Gehsport von jeher mit besonderer Vorliebe und regstem Eifer gepflegt haben. Das Gehen ist die ihren ganzen Lebensanschauungen am besten angemessene Leibesübung. Ihrem Ideal, Naturmensch zu sein, und „naturgemäss" zu leben, entsprechen sie nach Möglichkeit durch weite Wanderungen in Gottes freier Natur. Dadurch kommen sie fast unbewust in die Lage, für den Gehsport sich vielmehr als andere zu trainieren. Darum beteiligt sich stets eine überwiegende Zahl von Vegetariern an Wettveranstaltungen dieser Art, und darum kann es auch nicht wunder nehmen, dass sie in grosser Zahl an solchen Sportsiegen beteiligt zu sein pflegen. Als zweites Moment kommt hinzu, dass die Vegetarier, dieser ihrer Kraft im Gehsport sich wohl bewusst, Fanatiker für ihre Sache, wie sie es fast durchgehends sind, diese Kraft im Interesse ihrer Sache möglichst ausnutzen. Sie setzen das ganze Aufgebot ihrer Willenskraft energisch ein, um durch solche „Höchstleistungen" in diesem Sport die Leistungsfähigkeit der vegetarischen Lebensweise aller Welt vor Augen zu führen. Die Begeisterung und Aufopferung für ihre Sonderinteressen geben ihnen die zähe Ausdauer in solchen Kämpfen. Fleischesser pflegen solchen Sport meist um seiner selbst willen, ohne Nebeninteresse für eine andere Idee, und lassen es deshalb an jener idealen Hingabe fehlen, welche die Vegetarier auszeichnet! Schliesslich kommt noch als drittes, ebenso anerkennenswertes siegreiches Moment: der solide Lebenswandel hinzu, dessen sich die Mehrzahl der Vegetarier zu befleissigen pflegt. Dadurch dass sie sich von Exzessen in Baccho et Venere, von Reizmitteln aller Art u. dgl. frei halten, besitzen sie vielfach weit grössere Widerstandsfähigkeit und ausdauernde Kraft als die Fleischesser, die ihre Willensenergie besonders durch den Alkohol oft lahmen.

Ich glaube damit dargethan zu haben, dass die Schlussfolgerungen der Vegetarier, ihre Leistungsfähigkeit und ihre zeitweilige Überlegenheit an Körperkraft auf ihre Ernährungsweise zurückzuführen, unberechtigt sind.

Ebensowenig wie die praktische Erfahrung macht auch die theoretische Wissenschaft es wahrscheinlich, dass Pflanzenkost grössere körperliche Leistungsfähigkeit verleiht als Fleischnahrung.

Die Physiologie lässt uns bisher keinerlei Grundlagen für eine qualitative Differenzierung der Muskelthätigkeit nach Kraft und Ausdauer, überhaupt nicht für eine Abhängigkeit der Muskelarbeit von einer speziellen Art der Ernährung erkennen. Wir sind über den Stoffverbrauch im Körper bei der Muskelarbeit sowohl beim Tier, Hund, Ochse, Pferd, wie beim Menschen sehr gnau unterrichtet. Durch die bekannnten Versuche von Pettenkofer und C. Voit, Fick und Wislicenus, E. Wolff und Kellner u. a. ist erwiesen, dass der Stoffverbrauch des tierischen und menschlischen Organismus bei Muskelthätigkeit erheblich grosser ist, als in der Ruhe, aber nur hinsichtlich der Konsumption der Kohlehydrate und der Fette. Es wird von diesen Nahrungsstoffen bei starker Muskelarbeit im Körper doppelt so viel zerstört, als bei Ruhe, dagegen erfährt die Stickstoffausscheidung, welche der Massstab des Eiweissumsatzes ist, durch die Muskelthätigkeit keine Steigerung. Die Quelle der Muskelkraft ist also nicht das Nahrungseiweiss, sondern die stickstoffreien, kohlenstoffreien Nahrungsstoffe: die Kohlehydrate und die Fette. Wer sich darüber genauer unterrichten will, sei auf die Ausführungen des bekannten Physiologen J. Munk in seinem Lehrbuch „Physiologie des Menschen und der Säugetiere" V. Aufl. S. 272 und 838/39 verwiesen. Stärkere Muskelarbeit erfordert eine Mehrzufuhr von eiweisshaltiger Nahrung nur insoweit, als zum Wiederersatz des bei der Arbeit abgenutzten Muskeleiweisses notwendig ist. Deshalb also gerade darf für alle anstrengende Muskelarbeit der Eiweissgehalt der Nahrung nicht unter ein gewisses Mass heruntergehen, er darf nicht so gering werden, als er zumeist in der vegetarischen Kost ist.

Man kann es den Vegetariern nicht verargen, dass sie aus obigen Thatsachen, die sie aus der wissenschaftlichen Litteratur sich zusammengelesen haben, Kapital für ihre Lehren zu schlagen versucht haben. Der Scharfsinnigste unter ihnen, Dr. P. Andries, hat deshalb gerade hier den Hebel seiner Kritik angesetzt. Wenn also, so schliesst er ganz folgerichtig, das Eiweiss nicht zum Aufbau und zur Erhaltung der Gewebe und Organe im Körper Verwendung findet, d. h. kein plastisches Nahrungsmittel ist, dann ist es auch nicht nötig, diesen Nahrungsstoff im Überfluss, wie es bei der Fleischnahrung geschieht, zuzuführen, sondern es genügt der notwendige Bedarf, wie er schon durch den Eiweissgehalt der pflanzlichen Nahrungsmittel hinreichend gedeckt wird. Der Kohlehydrate in ihnen aber bedürfe der Mensch in erster Reihe eben zur Leistung seiner Muskelarbeit, die doch jeder auf sich zu nehmen habe. Ein Zerfall von Körpereiweiss infolge von Muskelarbeit ist, nach den wissenschaftlichen Untersuchungen, nur dann zu befürchten, wenn nicht genügend Kohlehydrate und Fett in der Nahrung zugeführt werden. Davon aber kann bei der Pflanzenkost niemals die Rede sein. Deshalb muss man diejenigen Menschen als die muskelkräftigsten betrachten, welche relativ wenig Eiweiss, dagegen sehr viel Kohlehydrate und Fett in ihrer Nahrung aufnehmen. Dies etwa ist der Gedankengang Andries. Bei diesen seinen Schlussfolgerungen hat er aber ganz die wichtige Thatsache übersehen, dass die Muskelkraft doch nicht nur von den zugeführten Nahrungsstoffen bedingt wird, sondern in viel höherem Grade noch von der vorhandenen Muskelentwicklung. Die Muskelleistung ist in erster Reihe stets von dem Grade der Entwicklung der Muskelsubstanz abhängig. Diese ist ein angeborener ererbter Faktor, der von der Wahl der Nahrung ganz unabhängig ist. Das ist vielmehr individuelle Anlage, welche ganz ausserhalb der Einflussphäre menschlichen Könnens und der Ernährung im Speziellen liegt.

Mit obigen Schlussfolgerungen begehen die Vegetarier ferner den Fehler, dass sie einmal das tierische Eiweiss überhaupt für untauglich halten, um den Eiweissbedarf des Körpers zu decken, und zu zweit, das pflanzliche Eiweiss für geeigneter zu diesem Zweck — zwei sich widersprechende Annahmen, die beide vollkommen hypothetisch sind.

Andererseits soll nicht verschwiegen werden, dass zum Teil unter dem Einfluss der neueren physiologischen Wissenschaft in weiten Kreisen auch des gebildeten Publikums die Meinung verbreitet ist, dass eine reichlichere Fleichnahrung auch ein grösseres Maass von Muskelkraft bedinge, woraus der übertriebene Fleischgenuss in den meisten modernen Kulturländern hervorgegangen ist. Vielmehr ist der wissenschaftliche Standpunkt gegenwärtig dahin zu präzisieren, dass eine Steigerung der Muskelkraft sich wohl erreichen lässt, wenn nur genügende Kohlehydrate und Fett in der Nahrung enthalten sind, woran es bei der Billigkeit namentlich der ersteren, selbst bei armen Leuten selten oder nie fehlt. Darüber besteht heute kaum noch eine Meinungsverschiedenheit unter den kompetenten Physiologen und Klinikern, dass die einstmals von Voit aufgestellten Standardzahlen für den Eiweissbedarf des Menschen (120 Gramm) im Durchschnitt um 20—30 Proz. zu hoch gegriffen sind. Das hat noch neuerdings wiederum Baeltz bei den fast aus-schliesslich Reis essenden japanischen Wagenziehern durch genaue Stoffwechseluntersuchungen festgestellt.

Wenn demnach als wissenschaftlich feststehend zu erachten ist, dass für die Bethätigung der Muskelkraft nur die Kohlehydrate und Fette in Betracht kommen, so ist hinsichtlich des Eiweisses die Forderung aufrecht zu erhalten, dass die zur Aufspeicherung und zum Ersatz der Spannkräfte nötige Menge des Eiweisses mit der Nahrung dem Körper zugeführt wird. Dies erforderliche Eiweissquantum liefert aber im allgemeinen die animalische Nahrung reichleichter und leichter als die pflanzliche!

Haig, ein bekannter englischer Kliniker, der sehr zum Vegetarismus neigt, hat der entgegengesetzten Auffassung seit Jahren eine wissenschaftliche Begründung zu geben versucht durch eine grössere Reihe experimenteller Untersuchungen betreffend den Stoffwechsel des Menschen, die er noch unlängst in einem grossen Werke unter dem Titel „Die Harnsäure" gesammelt herausgegeben hat. Haig vertritt darin auch den Standpunkt, dass nur die pflanzlichen Nahrungsmittel imstande seien, eine energische Muskelthätigkeit zu unterhalten, weil nach dem Genuss derselben die Resorption der Nahrungsstoffe in viel langsamerer Weise vor sich gehe und infolgedessen die dadurch aufgespeicherte Kraft im Organismus viel länger vorhalte, als nach Fleichgenuss und animalischer Eiweissnahrung, welche zwar eine lebhaftere und schnellere Resorption der Nahrungsstoffe mit sich bringe und folglich den Stoffwechsel energischer anrege, aber auch schneller wieder abklinge, die Wirkung gleichsam rascher verpuffen lasse. Haig glaubt die Richtigkeit dieser Behauptungen bewiesen zu haben durch vergleichende quantitativchemische Analysen des Harns, die sich auf die Menge der Harnsäureausscheidungen nach dem Genuss der verschiedensten Nahrungsmittel erstreckten. Die Harnsäure nämlich und die ihr chemisch nahe verwandten Körper wie Kreatin, Kreatinin, Xanthin u. dgl., welche er hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Organismus kurzweg identifiziert, betrachtet er als die schädliche Substanz der tierischen Eiweisskörper und gelangt infolgedessen zu der Forderung, alle Harnsäure enthaltenden und bildenden Nahrungsmittel aus der Kost der Menschen auszuschliessen, namentlich aber derjenigen, welche stärkere Muskelarbeit zu leisten gezwungen sind. Deshalb empfiehlt er gerade den Sportsmen die harnsäurefreie Diät, welche sie am meisten zur dauernden Entfaltung grösserer Muskelkraft befähige.

Ohne an dieser Stelle in eine eingehende Kritik des ganzen Lehrgebäudes Haig's einzutreten, welches schon in seinen Grundpfeilern mehrfach Lücken aufweist, sei nur als für uns besonders von Interesse die Thatsache hier hervorgehoben, dass die ganzen diesbezüglichen Deduktionen Haig's auf einer falschen Basis aufgebaut sind, insofern sie nämlich von der Ansicht ausgehen, dass die Muskelkraft von dem Eiweissgehalt der Nahrung abhängig sei, auf deren unverminderte Höhe im Sinne der Voit'schen Standardzahlen er grossen Wert legt! Sein wissenschaftlicher Vegetarismus giebt also das Prinzip der Eiweissarmut der Pflanzenkost vollkommen preis, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er Milch in den Bereich der vegetarischen Kost zieht — also überhaupt kein Vegetarismus mehr! Doch abgesehen davon, so ist oben schon ausführlich auseinandergesetzt, dass nach den übereinstimmenden Ergebnissen aller neueren physiologischen Untersuchungen bei Mensch und Tier die Muskelthätigkeit gar nicht von dem Eiweissgehalt der Nahrung abhängig ist. Die ganze Lehre Haig's schwebt also wissenschaftlich in der Luft, und deshalb wird die begreifliche Freude der Vegetarier, in Haig endlich einen anerkannten wissenschaftlichen Vertreter ihrer Anschauungen gefunden zu haben, vermutlich bald verrauschen. Denn dieser Freund ist ihnen ein schlechter Freund.

Um nicht in den Verdacht zu kommen, irgend etwas zu verschweigen, will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Arbeiten Voit's und einiger anderer Autoren in der That nachgewiesen haben, dass nach einer eiweissreichen Nahrungsaufnahme die Stickstoffausscheidung sehr bald beginnt und schon nach wenigen Stunden ihr Maximum erreicht hat, um dann allmählich wieder abzunehmen. Es findet also ohne Zweifel unmittelbar nach der Nahrungsaufnahme, insbesondere nach einer reichlichen Fleischmahlzeit, ein lebhafterer Stoffwechsel, ein regerer Eiweissumsatz im Körper statt. Zumal die animalischen Eiweisstoffe zumeist leicht verdaulich und gut resorbierbar sind, so gelangen sie schnell ins Blut und werden rasch für den Aufbau und zur Ergänzung des verbrauchten Körpermaterials verfügbar. Diese Dinge haben aber mit der Muskelthätigkeit gar nichts zu thun, der Eiweisstoffwechsel hat nach keiner Richtung hin einen Einfluss auf den bei der Muskelarbeit stattfindenden Verbrauch an Nahrungsstoffen. Wenn aus den eben mitgeteilten Untersuchungen sich ergiebt, dass die Eiweiss- insbesondere die Fleischnahrung ein energisches Anregungsmittel für den Stoffwechsel, ein Reizmittel zur Beschleunigung und Anregung desselben ist, so kann das nur als ein Vorzug betrachtet werden, der zur Empfehlung der Eiweisskost dient. Dass das Feuer, welches die Eiweissnahrung im Stoffwechsel anfacht, nicht allzu gewaltig auflodert, dafür sorgt eine vernünftige Ernährungsphysiologie möglichst durch die gleich-massige Beimischung stickstoffreier Nahrung, welche langsamer im Körper verbrennt und immer Sparmittel für die Eiweissubstanzen des Organismus bilden. Auch auf diesem Gebiete hat eben die Natur dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Auch hier ergiebt sich aus einer unbefangenen Betrachtung der Verhältnisse nur die Schlussfolgerung und Forderung, dass einer unmässigen Steigerung des Stoffwechsels im Organismus durch die Beschränkung in der Menge der Eiweisszufuhr entgegengearbeitet werden muss. Nur aus einer extremen und einseitig übertriebenen Eiweissnahrung können der Gesundheit und dem Ernährungszustand Nachteile und Schädlichkeiten erwachsen.

Die Ergebnisse dieses Kapitels möchte ich in folgende hauptsächlichsten Schlussätze zusammenfassen:

1. Die Ernährung breiter Schichten der ärmeren Bevölkerung ist allenthalben eine vorwiegend vegetarische. Damit ist erwiesen, dass sie das Leben zu unterhalten vermag.

2. Durch wissenschaftliche Stoffwechseluntersuchungen ist festgestellt, dass sogar bei ausschliesslicher vegetarischer Rohkost das Körpergewicht und speziell auch der Eiweiss- und Fettbestand des Körpers dauernd erhalten werden können.

3. Die Fähigkeit der vorwiegend vegetarisch lebenden ärmeren Bevölkerung zu schwerer körperlicher Arbeit, sowie die Ausführung von körperlichen „Höchstleistungen" im Sport seitens der Vegetarier beweisen, dass auch bei Pflanzenkost bedeutende Muskelkraft entfaltet werden kann.

4. Weder für die Ernährung des gesunden Menschen noch für seine körperliche Leistungsfähigkeit bietet die vegetarische Kost irgend welche Vorteile dar. Ihre Durchführung ist vielmehr mit mancherlei Unannehmlichkeiten und Nachteilen für den Organismus verknüpft. Sie erscheint als eine unnötige Erschwerung der Ernährungsverhältnisse.

Anhangsweise möchte ich hier noch kurz auf eine recht beachtenswerte Erscheinung in der neuesten Entwicklung des Vegetarismus aufmerksam machen, welche in sehr charakteristischer Weise die Thatsache illustriert, dass die Intelligentesten unter den modernen Vegetariern die physiologische Unzulänglichkeit ihrer Ernährungsweise bewusst oder unbewusst bereits empfunden und anerkannt haben. Der Vegetarismus scheint in einer Mauserung begriffen zu sein, welche auf eine Verbesserung der Nahrungszufuhr hinausgeht. Von den vegetarischen Kreisen Amerikas (Dr. J. H. Kellogg) aus nämlich sind in dem letzten Jahrzehnt die pflanzlichen Nahrungsmittel in einer künstlich zubereiteten Form in den Handel gebracht worden, welche die Ausnutzung derselben im menschlichen Verdauungskanal erheblich verbessern. Diese künstliche Zubereitung (selbstverständlich ein arger Verstoss gegen das Grundgesetz der „natürlichen Nahrung"!) schaltet den hauptsächlichsten physiologischen Grundfehler aus, welche nach unserer obigen Auseinandersetzung den vegetabilischen Nahrungsmitteln anhaftet: nämlich die Beeinträchtigung der Resorption der Nahrungsstoffe durch die die Vegetabilien umhüllenden und durchsetzenden unverdaulichen Celluloseteile. Diese künstliche Zubereitung wird namentlich den Körnerfrüchten und vor allen den Nüssen zu teil. Letztere werden in gemalzter Form zubereitet und stellen so ein erheblich leichter geniessbares und verdaulicheres Nahrungsmittel dar. Diese Produkte, als deren Material Erdnüsse, Haselnüsse, Mandelnüsse u. dgl. benutzt wurden, haben die Namen „Protose" und „Bromose" erhalten. Sie sind auch bereits in Deutschland eingeführt und scheinen einen immer grösseren Konsum zu finden. In Frankreich wird in den letzten Jahren die Kokosnussbutter unter dem Namen „Vegetaline" auch bereits als Nahrungsmittel in weiteren Volksschichten verwertet. Der innere Sinn dieser künstlichen Nahrungszubereitung ist die Verbesserung der Ausnutzung besonders des Pflanzenfetts, welches die Eiweissarmut der vegetarischen Kost wohl zu einem guten Teil auszugleichen vermag! Die Körnerfrüchte werden im gleichen Sinne verwertet durch Herstellung besonders fein präparierter Mehlarten, bei welchen der eiweisshaltige Kleber fein zerteilt ist, und daraus bereiteter feiner Backwaren, besonders Biscuits. Diese Präparate haben den Namen „Gluten", „Granola" und „Granose" erhalten und werden ebenso wie die vorhin erwähnten Nusspräparate bereits in Deutschland von der Nährmittelfabrik des „Deutschen Vereins für Gesundheitspflege" in Friedenau bei Magdeburg hergestellt. Mit dem Genuss solcher Nahrungsmittel lenkt der Vegetarismus in die Bahn einer rationellen Ernährung ein — ein erster bedeutsamer Schritt zur Erkenntnis der Wahrheit!


7. Hygiene.

Der Fleischgenuss ist schädlich! Das ist das schwere Geschütz der Vegetarier. Damit suchen sie Schrecken in den breiten Massen zu erwecken und fangen in der That ängstliche Gemüter damit ein. Dieses Motiv hat nicht unwesentlich zur Verbreitung des Vegetarismus beigetragen. Werden Behauptungen von der Gesundheitsschädlichkeit irgend eines Nahrungsmittels nur irgendwie plausibel vorgetragen, dann finden sie nicht nur in den Volksmassen, sondern selbst bei gebildeten Laien stets leicht Glauben, da die Furcht vor Krankheit eine der allgemeinsten Erscheinungen des menschlichen Egoismus ist. Selten sind aber im Publikum weniger verbürgte Gerüchte weitergetragen worden, als diejenigen von den gesundheitsschädlichen Wirkungen des Fleisches. Wir wollen dieselben im folgenden einer kritischen Analyse unterziehen, um sie auf ihre Berechtigung zu prüfen.

1. Fleisch riecht stets nach Leichenmoder, Fleisch stammt vom toten Tier; es ist tote Substanz, die in Fäulnis überzugehen im Begriff ist oder bereits übergegangen ist, vornehmlich durch seinen Gehalt an leicht faulendem Blut. Das etwa ist einer der hauptsächlichsten Vorwürfe, denen man in den vegetarischen Schriften immer wieder begegnet. Der ästhetische Widerwille der Vegetarier gegen das Fleisch beruht anscheinend auf einer feineren Ausbildung ihrer Sinnesorgane; denn sie behaupten stets wahrzunehmen, dass die Fleischesser selbst faulig riechen. Beweis dafür ist besonders die Nase des Herrn Prof. Jäger in Stuttgart, unter dessen „Düften" derjenige des Fleischessers besonders gebrandmarkt ist, weil ihm nach reichlichem Fleischgenuss die Fäulnis stark widrig aus den Rippen ausdünste. Ueber den Geruch lässt sich so wenig streiten, wie über den Geschmack. Ernsthaft diskutieren lässt sich über solche subjektiven Empfindungen Einzelner kaum. Wer an die Seelenriecherei Jäger's glaubt, kann mit wissenschaftlichen Gründen überhaupt nicht überzeugt werden, und deshalb verzichte ich darauf, diese Behauptung von dem faulen Geruch des Fleisches und der Fleischesser zu erörtern. Dass wirklich faules, d. h. verdorbenes Fleisch vom Verkauf allenthalben ausgeschlossen ist, das wissen die Vegetarier so gut, wie alle Welt. Der Unsinn ihrer Behauptung liegt eben darin, dass sie den fauligen Geruch und Geschmack an dem frischen Stück Fleisch wahrzunehmen behaupten, das eben vom Ochsen genommen ist.1)

1) Dabei übersehen die Vegetarier vollkommen die Thatsache, dass ja auch die Pflanzen gar nicht lebend genossen werden, sondern ebenso eine tote Masse darstellen, wie das Fleisch der Schlachttiere, wenn sie als Nahrung verwertet werden. Der Lebensprozess der Pflanzen hört auch mit dem Augenblick auf, wo Früchte, Wurzel oder Blätter vom Gesamtorganismus getrennt werden. Die einzelnen Teile haben kein Leben. Dabei werden die animalischen Nahrungsmittel zumeist noch viel frischer genossen, als die pflanzlichen!

2. Der Fleischgenuss erzeugt Verdauungsfieber. So erklären selbst einige vegetarische Aerzte. Aber keiner von ihnen hat bisher eine exakte Erklärung gegeben, was denn eigentlich solch ein Verdauungsfieber ist. Die Wissenschaft weiss wohl, dass im Anschluss an die Verdauung im Magendarmkanal einige Stoffwechselprozesse sich abspielen, welche mit einer Steigerung der Zellthätigkeit einhergehen, aber niemals mit einer Erhöhung der Körpertemperatur. Der normale Verdauungs- und Stoffwechselvorgang im Organismus verläuft durchaus ohne Beeinflussung des Wärmezentrums im Gehirn. Aber dieses Schlagwort vom „Verdauungsfieber" zeigt so recht deutlich, wie leichtfertig solche Dinge erfunden und als Thatsachen hingestellt werden. Verdauungsfieber nennen die Vegetarier nämlich jenen bekannten Zustand von Ermüdung, der sich bei vielen Menschen nach einer grösseren Mahlzeit, insbesondere nach dem Mittagsessen, einzustellen pflegt. Nach Ansicht der Vegetarier freilich nur nach Fleischnahrung! Dass dieses Ermüdungsgefühl auch nach vegetarischen Mahlzeiten eintritt, kann ich aus eigener Erfahrung behaupten. Die diesbezüglichen Behauptungen der Vegetarier erscheinen mir nicht als ein einwandfreies Zeugnis. Über das Wesen und das Zustandekommen jener Sensationen ist die Wissenschaft noch nicht mit sich so einig, als die Vegetarier. Das Eiweiss als solches ist sicher daran nicht schuldig, wie Andries glaubte, sondern höchstens könnte der Reiz des Kreatinins und anderer Extraktivstoffe des Fleisches an der Entstehung jenes Unlustgefühls einen Anteil haben. In der Hauptsache kommt es überhaupt nur durch eine übermässige Anfüllung des Magens zustande, und deshalb gerade vornehmlich nach der Hauptmahlzeit des Tages. Vielleicht hat es überhaupt nicht mit der Nahrungszufuhr unmittelbar etwas zu thun. Auf keinen Fall hat diese Empfindung etwas mit einem Fieberzustand gemeinsames, sondern sie ist nichts anderes, als der Ausdruck der reflektorischen Erschlaffung des Nervensystems. Schliesslich hat dieser schnell vorübergehende und durch geringe Willensenergie stets leicht zu bannende Zustand, der doch auch immer nur bei einem Teil der Menschen auftritt, noch nie jemanden geschadet oder seine Arbeitsfähigkeit und seine Gesundheit beeinträchtigt. Tausende von Fleischessern überwinden täglich dieses Erschlaffungsgefühl notgedrungen, d. h. aus Mangel an Zeit, ihm nachgeben zu können. 3. Wissenschaftlich ernster zu nehmen ist der Einwand, dass das Fleisch unter den eiweisshaltigen Nahrungsmitteln besonders schädlich sei wegen seines Gehaltes an Reizstoffen in Gestalt der basischen Extraktivstoffe, wie Kreatin, Kreatinin, Xanthin und mehreren anderen chemischen Substanzen, die nahe Verwandschaft zur Harnsäure haben. Diese Reizstoffe sehen die Vegetarier als Gifte an, welche die Verdauung beeinträchtigen, das Blut schädigen, das Herz und Nervensystem schwächen, die Nieren krank machen und alle möglichen Krankheiten im menschlichen Körper erzeugen. Über die Bedeutung und Wirkungen dieser Fleischsubstanzen sind die Ansichten selbst der Fachmänner untereinander noch nicht völlig geklärt. Einige sprechen ihnen jede Wirkung, insbesondere eine schädliche ab; andere erblicken in ihnen im Gegenteil sogar erwünschte Anregungs- und Förderungsmittel für die Verdauung und den Stoffwechsel im Organismus. Mir scheint die Wahrheit hier in der Mitte zu liegen. Was unterscheidet das Fleisch von den übrigen eiweisshaltigen tierischen Nahrungsmitteln, Milch und Eiern insbesondere? Antwort: Der Gehalt an „Albuminoiden" und an den stickstoffhaltigen Extraktivstoffen! Die Albuminoide sind die eiweiss-ähnlichen Subtanzen, die beim Kochen Leim geben, wie Glutin, Chondrin u. s. w. Die Trockensubstanz des Fleisches enthält davon 1,5 Proz., die Extraktivstoffe finden sich darin zu 1/4 Proc. In der Nahrung des Pflanzenfressers sowohl, wie des menschlichen Säuglings fehlt es an diesen beiden Bestandteilen, denen schon mit Rücksicht auf diese Thatsachen also eine diätetische Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Zwischen beiden Substanzgruppen besteht sogar eine enge Beziehung, die bisher noch nicht genügend gewürdigt worden ist: Der Leim, welcher unter den „Albuminoiden" der am meisten eiweissähnliche Körper ist und in der Nahrung sogar einen Teil des Eiweisses zu ersetzen vermag, enthält „Leimzucker" (Glykokoll), der in den Körpersäften enthalten ist. Dieser Substanz chemisch aber nahe verwandt, nämlich Methylglykokoll, ist das „Kreatin", eine der Basen des Muskelfleisches.

Grössere Bedeutung als den „Albuminoiden" kommt vom Standpunkt der Ernährungsphysiologie und der Hygiene den Produkten der regressiven Metamorphose des Stoffwechsels zu, in deren erster Reihe das Kreatin steht. Es ist im Muskelfleisch zu 0,3 Proz. enthalten. Daraus geht hervor, dass es unmöglich ein absolutes Gift sein kann, dessen Genuss auf jeden Fall den Menschen schädlich ist; sondern diese geringe Menge kann höchstens die Annahme stützen, dass grosse Mengen Fleisch, in kurzem Zeitraum genossen, eine so grosse Menge Kreatin im Körper anhäufen könnten, dass daraus Giftwirkungen für ihn entstehen. Wir kennen nun überhaupt keine spezielle Gift- oder Reizwirkung des Kreatins, weder durch die Erfahrungen der klinischen Pathologie, noch der experimentellen Physiologie. Im besten Falle ist die Hypothese berechtigt, dass grosse Dosen vielleicht schädlich in irgend einer Richtung wirken könnten. Mit demselben Rechte könnte man vice versa auf Grund eines allgemeinen anerkannten pharmakodynamischen Gesetzes von kleinen Dosen Kreatin annehmen, dass sie nützlich wirken, d. h. den Verdauungsprozess beschleunigen und verstärken. Der Reiz des Kreatins wäre dann gewissermassen als physiologisches Unterstützungsmittel zu erachten und könnte dann durchaus willkommen erscheinen. Einer gewissen künstlichen Anregung bedürfen die Funktionen unserer Organe in der That. Manche Nahrungsmittel regen die Verdauungssäfte in so geringem Masse an, dass sie einer Unterstützung durch die Beigabe z. B. von Genussmitteln, Gewürzen u. dgl. dringend bedürfen. Gerade darin liegt der Vorzug der animalischen Nahrungsmittel, dass sie die träge Einwirkung der vegetabilischen Nahrung auf die Verdauungsfermente des Magendarmkanals ausgleichen. Der energische Ablauf des Verdauungsprozesses ist die Vorbedingung für einen steten regen Stoffwechsel des Gesamtorganismus. Bedarf es auch durchaus nicht stets und unbedingt solcher kleiner künstlicher Reizmittel für die Verdauung, so nutzen sie eher, als sie schaden. Aus alledem ergiebt sich, dass wir in Hinsicht auf den Gehalt an Fleischbasen auch hier höchstens Veranlassung hätten, den übermässigen Fleischgenuss zu widerraten, weil dadurch ein zu lebhafter Verdauungsprozess und Stoffwechsel zeitweise zustande kommen könnte. Haig verfällt in den gleichen Fehler wie die Vegetarier, wenn er bei der Betonung der Schädlichkeit der durch die Xanthinkörper hervorgerufenen Reizwirkungen auf den Stoffwechsel des Organismus die Menge derselben vollständig ausser Acht lässt. Auch von wissenschaftlichen; Ärzten wird allseitig zugestanden, dass übermässiger Fleischgenuss zu den disponierenden Momenten für die Entstehung der Gicht gehört, offenbar infolge Überladung des Blutes mit harnsäurebildenden Substanzen. Aber die geringe Menge von Xanthinkörpern, welche mit dem Durchschnittsquantum von Fleischnahrung aufgenommen wird, wird auch so prompt aus dem Körper wieder ausgeschieden, soweit sie nicht im Körper oxydiert werden, dass ein Harnsäureüberschuss im Blute nicht zustande kommen kann. Nach dem alten Grundsatz „???" muss man sich auch vor Übertreibungen in wissenschaftlichen Thesen hüten. Diesem naheliegenden Fehler ist Haig verfallen und wird infolgedessen durch seine Schriften in nächster Zeit wahrscheinlich nur noch mehr Verwirrung unter den Vegetariern und anderen Laien stiften, als es gegenwärtig schon hinsichtlich der Reizwirkung der besagten Stoffe der Fall ist.

So sehr man deshalb auch von wissenschaftlicher Seite der übertriebenen Fleisch- und Eiweissnahrung überhaupt mit Rücksicht auf die über die Norm gesteigerte Reizwirkung der Stoffe der regressiven Metamorphose entgegentreten muss, soweit entfernt müssen wir uns von dem anderen Extrem halten, diesen Substanzen an sich eine pathologische Wirkung zuzuschreiben. Es ist vielmehr ein rein physiologischer Reiz, den sie ausüben, durch den sie die natürlichen Funktionen des Organismus in sehr vollkommener Weise, d. h. gleichsinnig, unterstützen. Das macht sich nicht nur in der Rückwirkung auf die Förderung des Verdauungsprozesses und des allgemeinen Stoffwechsels geltend, sondern auch noch ganz besonders auf das Nervensystem geltend. Weniger der Hand- und Maschinenarbeiter, als der geistige Arbeiter bedarf eines ständigen Impulses seiner Hirnthätigkeit. Die regere Funktion der Nervenfasern, die bei jeder Denkarbeit in erhöhtem Masse in Anspruch genommen werden, wird aber in höherem Masse garantiert durch eine gewisse künstliche Anregung, durch einen künstlichen Reiz, welcher die Grenze des physiologischen Schwellenwertes allerdings nicht überschreiten darf. Gerade dem physiologisch denkenden Arzte erscheint deshalb ein minimaler Gehalt an künstlichen Reiz-, Anregungs- und Belebungsstoffen in der Nahrung sehr zweckmässig, um das Nervensystem zu erhöhter Leistung, wenn es deren bedarf, zu befähigen. Gerade die Nervenzelle reagiert auf derartige künstliche kleine Reize sehr prompt. Wir dürfen die menschliche Natur sogar dazu beglückwünschen, dass sie solcher kleinen Unterstützungen von aussen her zugänglich ist, welche ihr die Existenzbedingungen und die Schaffensthätigkeit oft wesentlich erleichtern.

Im engsten Zusammenhang mit der zuletzt besprochenen Hypothese von der Giftwirkung der Fleischbasen stehen die Behauptungen von der Schädlichkeit des Fleischgenusses für einige innere Organe des Körpers, insbesondere für Herz und Nieren. Der als medizinische Autorität unter den Vegetariern geltende Dr. Lahmann hat die Behauptung verbreitet, dass die Herzthätigkeit durch Fleischgenuss beschleunigt wird, weil das Fleisch das Blut erhitzt, während der Vegetarier einen langsameren und ruhigeren Puls haben soll. Diese Behauptung ist vollständig aus der Luft gegriffen, sie ermangelt jeglichen medizinischen oder statistischen Untergrundes.

Noch dreister aber ist die oft wiederkehrende Behauptung der Vegetarier, mit der ängstliche Gemüter eingeschüchtert werden sollen, dass Fleischgenuss die Nieren krank mache. Andries leistete sich darüber folgende „autoritative" Äusserung:

„Die übermässige Belastung der geradezu misshandelten Nieren als Folge der täglichen Stickstoffüberschwemmung bedingt jene Nierenentartung der Fleischesser, die natürlich wieder zahlreiche Krankheiten im Gefolge hat. Jeder ältere Mann, der während seines Lebens viel Fleisch genossen, ohne schwere physische Arbeit dabei zu verrichten, ist ohne weiteres als nierenkrank zu betrachten."

Dieses „ohne weiteres" ist eine unerhörte Unwahrheit, für deren Verbreitung ihr Urheber fast zur Verantwortung gezogen werden müsste, weil sie eine absichtliche Täuschung des Volkes in sich schliesst. Nicht einmal dafür giebt es einen sicheren Beweis, dass selbst excessives Fleischessen die Nieren krank mache. Ja, selbst darüber gehen die Ansichten der Ärzte auseinander, ob Nierenkranken der Fleischgenuss zu verbieten sei. Das alte Dogma, dass das rote Fleisch wegen seines reicheren Gehalts an stickstoffhaltigen Extraktivstoffen die Nieren eher reizen und kranke Nieren leichter schädigen könne, als das weisse Fleisch, ist auch neuerdings bereits sehr stark erschüttert worden durch die Autorität von Prof. v. Noorden, der auf Grund sehr umfassender und reichhaltiger Stoffwechseluntersuchungen weder einen Unterschied der beiden Fleischsorten in dieser Hinsicht, noch überhaupt eine schädliche Fleischwirkung des Fleisches auf die chronisch erkrankten Nieren gelten lassen will.

Es bleibt also dabei, dass ein massiger Fleischgenuss für den gesunden Organismus und wahrscheinlich sogar auch für den kranken Menschen keine nachteiligen Folgen hat.

Noch einige Worte über die schon vorhin einmal kurz gestreifte Frage der Entstehung der Gicht durch Fleischgenuss. Wie allgemein bekannt, ist diese Krankheit am weitesten verbreitet im Lande der Beefsteakesser, und auch die Beobachtungen in anderen Ländern stützen die Ansicht, dass in der That übermässiger Fleischgenuss eine der Ursachen der Gicht ist. Sehen wir sie doch z. B. selten bei armen Leuten, z. B. Arbeitern, die vorwiegend kohlehydrathaltige Kost geniessen und zugleich noch grosse Mengen Alkohol konsumieren, der in gleicher Weise als gichterzeugendes Moment gilt. Es scheint fast so, als ob beide Missbräuche, die in ihrer Gemeinsamkeit gerade einen Teil des sog. Wohllebens auszumachen pflegen, in idealer Konkurrenz miteinander an der Entstehung dieser Krankheit sich beteiligen. Aber selbst wenn es das Fleisch allein wäre, wer heisst denn die Menschen es pfundweise verzehren? Es ist durchaus unlogisch, aus den dargelegten Verhältnissen ein Verbot des Fleisches überhaupt als folgeberechtigt ableiten zu wollen!

Was die Vegetarier am Fleische tadeln, das tritt ja im Fleisch dem Eiweissgehalt desselben, der seinen Nährwert bedingt, gegenüber in den Hintergrund. Selbst wenn die Fleischbasen eine unvorteilhafte Reizwirkung auf Verdauung und Stoffwechsel ausüben würden, dann dürfte auch dieser kleine Nachteil getrost in den Kauf genommen werden angesichts des hohen Nährwertes, welcher diesem Nahrungsmittel zukommt. Ganz anders aber schon steht die Frage bei der Beurteilung der Fleischbrühe, der sog. Bouillon, die durch Kochen des Fleisches in Wasser die in Lösung gegangenen Fleischbasen vollständig enthält, von dem nährstoffhaltigen Eiweiss aber so gut wie gar nichts! Dass sich die Fleischbrühe in der Kost fast aller europäischen Völker einen ständigen Platz erobert hat, ist lediglich auf die appetitanregende und verdauungfördernde Wirkung der in reicher Konzentration darin enthaltenen stickstoffhaltigen Fleischbasen zurückzuführen. Leider wird von geschäftlicher Seite, z. B. von der Liebig Company, noch immer geflissentlich im Volke die Meinung unterhalten, dass die Fleischbouillon stärkende, kräftigende Wirkungen besässe. Nichts davon ist wahr. Vielmehr ist sie, wie Virchow schon vor 40 Jahren dem Volke, leider anscheinend vergeblich, klar zu machen sich bemüht hat, nichts anderes als ein Genussmittel, das für den gesunden Menschen allerdings vollkommen' unschädlich ist, vielleicht sogar durch seinen Gehalt an Fleischbasen einen gewissen indirekten Wert für die Ernährung hat, wenn auch nur sehr gering zu veranschlagenden. Höchstens für den Magenoder Nierenkranken kann diese stärkere Konzentration von Reizstoffen gelegentlich eine schädliche Wirkung haben. Was von der Fleischbrühe gesagt ist, gilt in gleichem oder noch höherem Grade vom Liebigschen Fleischextrakt und anderen ähnlichen Produkten, die für die Volksernährung, die Ernährung des gesunden Menschen überhaupt, vollkommen entbehrlich sind. Ihr Platz ist in der Krankenküche!

Fassen wir all das Gesagte über die Reizstoffe des Fleisches und seiner Produkte noch einmal kurz zusammen, so erscheint es unberechtigt, das Fleisch um dieses geringen Gehalts an Reizstoffen willen, die als Genussmittel zu betrachten sind, als gesundheitsschädlich zu betrachten. Der Genussmittel bedarf der normale menschliche Organismus so dringend fast als der Nahrungsmittel. Nur ihre übermässige Verwendung kann schädliche Wirkungen zur Folge haben. Die Erörterung derselben hat nichts mehr mit der Ernährungsphysiologie zu thun.

Nachdem all die bisher erwähnten Einwürfe gegen den Fleischgenuss mit Rücksicht auf die Erhaltung der Gesundheit vor einer genauer analysierenden Kritik in nichts zerflossen sind, muss noch eine weitere Reihe von Vorwürfen der Vegetarier der Prüfung und Würdigung unterzogen werden. Da ist in erster Reihe die angebliche mit dem Fleischgenuss verbundene Gefahr der Übertragung von Tierkrankheiten zu erwähnen: A. Finnen von Bandwürmern. Wenngleich diese Thatsache richtig ist, so ist doch daran zu erinnern, dass sie vermeidbar ist, denn diese Krankheitskeime werden nur durch den Genuss von rohem Fleisch erworben, das für die Ernährung durchaus entbehrlich erscheint, überhaupt nur einen minimalen Teil des gesamten Fleischverbrauches ausmacht und von der wissenschaftlichen Hygiene schon seit langer Zeit perhorresziert wird. Es wäre nur zu wünschen, wenn die Ärzte allgemein die Vorliebe des Volkes für rohes Fleisch etwas eindämmten, die ja nur durch die Bequemlichkeit und Billigkeit des Genusses bedingt ist. Übrigens ist der Schaden, den die Bandwürmer stiften, niemals gross. In der Volksanschauung haben diese Parasiten eine viel ernstere Bedeutung, als ihnen in Wirklichkeit zukommt. B. Die Trichine. Das ist in der That eine ernste Gefahr. Sie ist aber in Kulturländern durch die Einführung einer obligatorischen Fleischschau auf ein Minimum reduziert worden, sodass die Trichinenkrankheit in Deutschland seit Jahren ein ausserordentlich seltenes Ereignis ist. C. Die Tuberkulose. Durch den Genuss des Fleisches perlsüchtiger Rinder. Diese Gefahr besteht eigentlich nur auf dem Papier. Überall, wo es Schlachthäuser giebt, wird tuberkulös befundenes Fleisch durch Vernichtung vom Verkehr ausgeschlossen. Das gesund befundene Fleisch von Tieren, die irgend eine isolierte tuberkulöse Organerkrankung im Körper gehabt haben, wird bekanntlich von den „Freibanken" der Schlachthäuser als minderwertig gekennzeichnet und darum billiger verkauft. Der Genuss desselben ist bisher noch nicht durch ein einziges Beispiel als schädlich erwiesen worden. Vollends werden auch Tuberkelbazillen durch Kochen und Braten des Fleisches mit Sicherheit vernichtet. Die Tuberkulose des Rindes wird dem Menschen aber überhaupt weniger durch das Fleisch gefährlich, als durch die Milch der Kühe. Und den Genuss derselben gestattet sich doch die grosse Mehrheit der Vegetarier! Auch in der Milch können die infektiösen Keime durch Kochen abgetötet werden. Leider ist der Unfug des Genusses roher Milch auch noch weit verbreitet im Volke, weil sich daran die falsche Vorstellung von einer besonderen Bekömmlichkeit derselben knüpft. Sollten sich übrigens die neuesten Behauptungen unseres berühmten Bakteriologen Robert Koch's bestätigen, dass die Perlsucht der Rinder überhaupt nicht mit der Tuberkulose des Menschen identisch ist, dann entfällt auch dieses Schreckgespenst der Vegetarier ganz und gar.

Mit Recht ist den Vegetariern immer entgegengehalten worden, dass auch mit dem Genüsse vieler pflanzlicher Nahrungsmittel Schädigungen und Gefahrenverbunden sind, welche denen, die durch Fleischgenuss entstehen, die Wage halten. Da ist z. B. an die Verunreinigung des Gedreidekorns durch einen Parasiten zu erinnern, z. B. Mutterkornpilz (Claviceps purpurea), der sich sowohl im gewöhnlichen Roggen- und Weizenkorn, als auch namentlich im Mais gelegentlich einnistet und dann die furchtbare Krankheit „Ergotismus" (Kribbelkrankheit) und die Pellagra erzeugen, welche in Tirol, Italien, Spanien, Südfrankreich, Rumänien u. a. oft epidemisch auftreten. Verunreinigungen des Brotes durch andere Pilze, wie Brandpilze, den Taumellolch u. dgl. sind auch wiederholt beobachtet worden. Die gekeimte Kartoffel enthält oft ein Gift, Solanin, das schon wiederholt epidemische Erkrankungen schwerster Art erzeugt hat. Mit dem Reisessen wird in Ostasien vielfach und wahrscheinlich mit Recht die Entstehung der weitverbreiteten Volkskrankheit „Beri-Beri" in Zusammenhang gebracht. Die Giftigkeit der Pilze und Schwämme ist infolge ihrer Häufigkeit im Volke ganz bekannt. In jedem Herbst erzeugen die Pfefferlinge Champignons, Lorcheln, Morcheln u. dgl. zahlreich oft tötlich verlaufende Erkrankungen. Unreifes Obst giebt namentlich im Frühjahr und Sommer Veranlassung zu zahllosen mehr oder minder schweren Verdauungsstörungen. Schliesslich sind Kaffee und Alkohol Produkte des Pflanzenreiches, welche als Gifte für den menschlichen Organismus genügend bekannt sind.

Als Résumé der gesamten Betrachtung dieses Kapitels ergiebt sich uns also die Thatsache, dass die grundsätzlichen Einwände gegen den Fleischgenuss vom Standpunkt der Gesundheitspflege und Krankheitsverhütung insgesamt nicht stichhaltig sind.


8. Ästhetik.

De gustibus non est disputandum. Jemand, der beim Anblick eines frischen Stück Fleisches Ekel empfindet und vor dem ausgehängten Wild am Metzgerladen frostig erschauert, der hat halt keine normalen Empfindungen. Lust- und Unlustgefühle. Auch ohne statistische Ermittelungen darf man wohl getrost behaupten, dass die Zahl der so abnorm Empfindenden eine recht kleine ist. Dem Durchschnitt der Menschen läuft eher das Wasser im Munde zusammen, wenn sie ein Stück fetter Spickgans oder eine Gänseleberpastete sehen. Noch mehr aber als das Auge vermitteln Geschmack und Geruch der animalischen Speisen den Vegetariern den Widerwillen gegen jede tierische Kost, sie riechen und schmecken Leichenmoder in jedem Braten, sie spüren mit Zunge und Nase die Fäulnis des frischesten Stückes Fleisches, sie entsetzen sich vollends vor den Hautgout des Wildes, das gewöhnlichen Sterblichen gerade ein besonderer Hochgenuss ist. Besonders stark entwickelt ist bei den Vegetariern der Widerwillen gegen den Genuss der inneren Organe der Tiere, sie denken dabei stets mit Schrecken an die Aufgaben, welche Magen, Darm, Nieren u. s. w. im tierischen Körper zu leisten haben. Wie kann ein Mensch es seiner für würdig halten, so unreine Organe anderer Tiere in seinen eigenen Körper aufzunehmen! Was den niedrigsten Funktionen der Tiere dient, das sollte doch für den Geschmack und die Lutsempfindung des höchsten kulturellen Lebewesens degoutierend sein! Den Genuss von Tieren müsste der Mensch als entwürdigend weit von sich weisen! So ungefähr ist stets der Kern der ästhetischen Logik der Vegetarier.

Es lässt sich nicht leugnen, dass in diesen Gefühlen ein Körnchen Wahrheit liegt, wie in manchen ihrer unbewussten Empfindungen oder willkürlichen Behauptungen. Nur lassen sie sich auch hier zu masslosen Übertreibungen und extravaganten Schlussfolgerungen fortreissen, sie schütten auch hier das Kind mit dem Bade aus, sehen den Splitter im Auge der anderen, nicht den Balken im eigenen und vergessen ganz, dass diese ihre ästhetischen Empfindungen doch nicht allgemein giltig sind, sondern rein subjektiv und individuell. Giebt es doch manche feinfühligen Menschen, denen auch viele pflanzliche Nahrungsmittel auf dem Tische ein Unbehagen und Unlustgefühl erzeugen, wie z. B. Kresse, Sellerie, Rhabarber, Sauerkraut, Kohlrabi u. dgl. m.!

Dass der Genuss der inneren Organe eines Tieres etwas Widerwärtiges an sich hat, lässt sich nicht leugnen, nämlich immer für denjenigen, der im Moment dieses Genusses sein Hirn mit müssigen Gedanken über den Ursprung und Zweck dessen, was er geniesst, quält. Alles Wässern und Spülen der Organe bietet doch keine Garantie für die vollständige Befreiung derselben von denjenigen Substanzen, welche zu Lebzeiten des Tieres dort hindurch passiert sind. Werden doch viele dieser Organe erst auf dem Teller aufgeschnitten, sodass also das Innere nicht genügend gereinigt sein kann. Im Volke ist selbst der Genuss von Darm vielfach üblich. Nicht minder ekelerregend kann unter Umständen der Genuss eines Gänsemagens oder der Kalbsnieren sein, sobald nur jemand auf den unglücklichen Gedanken kommt, an die frühere Bestimmung dieser Organe zu denken. Mit dieser ästhetischen Empfindung steht der Geschmack der Organe meist in direktem Gegensatz. Gerade die inneren Organe sind oft der feinste Kitzel für den Gaumen selbst des verwöhntesten Gourmets. Weit weniger unappetitlich ist im allgemeinen das eigentliche Muskelfleisch, wenngleich es zuweilen durch die Beimischung und Durchsetzung von Sehnen, Fascien, Gefassen, Fett u. dgl. einen widerwärtigen Anblick und Geschmack erhält. Was in die Würste hineingeheimnisst und unter das rohe Fleisch geschmuggelt wird, davon wissen unsere Nahrungsmittelchemiker genug zu erzählen. Doch sind das alles ja nur verschwindende Ausnahmen im Hinblick auf die grosse Masse des Fleisches und der Fleischpräparate, die täglich genossen werden. Die Beimischung widerwärtiger Bestandteile steht ja zum grössten Teil nur in direktem Verhältnis zum Nahrungsmittelpreise. Im übrigen verhelfen uns Messer und Gabel mit Leichtigkeit dazu, alles auszumerzen, was das Auge verletzt oder dem Geschmack nicht behagt. Der Durchschnitt der Menschen ist gar nicht so überaus empfindsam, dass er solch kleine Störungen wahrnimmt oder um ihretwillen das Ganze verwirft. Selbst der Feinschmecker lässt sich durch solche mehr theoretischen Betrachtungen den Genuss nicht beeinträchtigen. Hat doch selbst Brillat-Savarin, der feinsinnige und geistvolle Schöpfer der „Physiologie des Geschmacks", seine helle Freude an der buntgemischten Tafel animalischer Nahrungsmittel gehabt.

Aber steht es denn mit den pflanzlichen Nahrungsmitteln überhaupt besser, als mit den tierischen, wenn man ästhetische Bedenken geltend machen will?

Früchte und Obst werden von vielen Menschen und nicht nur ungebildeten oft mit Haut und Haaren verzehrt. In den Strassen der Grosstadt kann man sogar oft sehen, wie die Leute das Obst von den Wagen herumziehender Händler direkt in den Mund stecken, Obst, welches oft nicht nur stundenlang den herniederfallenden Staubund Luftkeimen in ungezählter Zahl ausgesetzt gewesen, sondern auch wie die Ware beim Bäcker durch zahlreiche schmutzige Hände gegangen ist, ehe es in den Magen des Empfängers kommt. Kadieschen u. a. werden von Leuten aus dem Volke oft mit der Schale verzehrt; von den Nüssen bleiben reichliche Reste oft in den Zahnlücken stecken, die durch Zersetzung des Fetts zu Gärung und Säurebildung im Munde und Magen Veranlassung geben - - ein Einwand, der in gleicher Weise immer gegen das Fleisch von den Vegetariern gemacht zu werden pflegt. Man sieht an diesen kleinen Beispielen wieder einmal, wie einseitig diese Dogmatiker alle Dinge der Welt betrachten!

Und nun vollends die Kohlarten, die Eüben, die Wurzelgemüse u. dgl. — „Futter fürs liebe Vieh", sagen die Leute oft davon und nicht ganz ohne Berechtigung. Gerade auf dem Gebiete pflanzlicher Ernährung bestehen in der That keine grossen Unterschiede zwischen dem Menschen und den anatomisch und physiologisch sehr weit voneinander entfernt stehenden Tierrassen. Wie oft wird die Pflanzennahrung, welche in unserer Küche übriggeblieben ist, dem Vieh vorgeworfen, für das sie also auch gut genug sein muss. Was haftet nicht alles an Staub und Schmutz oft an Blättern und Wurzeln, die durch Waschen und Spülen ebensowenig restlos zu entfernen sind, wie aus muskulösen Organen irgend welcher Art. 1)

1) Ein Hauptmann Hundt hat vor längerer Zeit einmal in der Veget. Warte mitgeteilt, dass er 1/2 Jahr ausschliesslich von Apfelsinen gelebt und täglich 6—8 Stück mit der Schale gegessen habe. Da ihm solche Nahrung aber für die Dauer auch noch zu viel erscheint, so empfiehlt er den Vegetariern in jedem Jahr ein mindestens 8 tägiges Pasten. Danach wird wohl niemand zweifeln, dass die ästhetischen Empfindungen dieses Mannes weit abnormer waren als die der Fleischesser. Sie entspringen einem — kranken Gemüt. Solch' abnorme Menschen sind leider vielfach vorbildlich für die Vegetarier!

Für das ästhetische Empfinden ist also die vegetarische Kost kaum besser gestellt, als die animalische, und was besagt denn überhaupt diese ganze Gefühlsfrage? Soll das ein ernstes wissenschaftliches Argument sein? Das Gefühl fängt meistens da an, wo sich der Verstand keine Rechenschaft mehr geben kann. Die Wissenschaft darf und kann sich niemals von Empfindungen leiten lassen. Psychologen behaupten auch mit gutem Grunde, dass die Gefühlsempfindimg meist ein stärkeres Argument in der Beweisführung der Frau als des Mannes zu sein pflegt; denn die Frau ziert im höheren Masse die tiefere, weniger von kritischem Denken beeinflusste Empfindung. Das Gefühl, das wir in der Tierreihe mit dem Begriffe „Instinkt" zu bezeichnen pflegen, ist das unbewusste Leitmotiv immer nur der mit geringer Verstandesschärfe ausgezeichneten Lebewesen und charakterisiert deren Handlung. Je höher der Mensch in seiner kulturellen Entwicklung gestiegen ist, desto mehr ist der Instinkt der Verstandesthätigkeit gegenüber zurückgetreten, vielleicht zum Schaden seiner Herzensbildung, aber zum Vorteil seiner geistigen Vervollkommnung, die im Leben des einzelnen wie der Völker stets höher bewertet wird, als das innere Gefühlsleben. Es kann deshalb nicht wunder nehmen, dass wir das ästhetische Moment hauptsächlich gerade immer bei den weiblichen Anhängern des Vegetarismus hervorheben hören und oft auch bei denen, welche uns ernste wissenschaftliche Gründe nicht anzugeben wissen. Mit Gefühlsempfindungen aber kann man keine wissenschaftlichen Thatsachen begründen oder beweisen.


9. Ethik.

Hier ist des Pudels Kern! So lebhaft sich auch die Vegetarier dagegen sträuben mögen, so sehr sie bemüht sind, ihrer Lehre vor allem eine wissenschaftliche Begründung zu geben, das Hauptmotiv des Vegetarismus, die innere Seele desselben war und ist immer das ethische Motiv. Dass die Vegetarier dies teilweise nicht zugestehen wollen, beweist die Schwäche ihrer Position. Wenn in der Diskussion kein anderes Motiv mehr verfangen will, wenn eine Festung nach der anderen fällt, dann ziehen sie sich schliesslich immer noch auf das Motiv der ethischen Berechtigung des Vegetarismus zurück. Das ist ihre feste Burg, an der jeder Angriff abprallt. Denn über die Begriffe der Sittlichkeit giebt es keine feststehenden Meinungen. Die ethische Motivierung des Vegetarismus finden wir immer von denen am stärksten hervorgehoben, welche das scheinbare übrige Beweismaterial nicht zu würdigen verstehen. Deshalb hört man das Sittlichkeitsmoment besonders häufig gerade im Munde ungebildeter Vegetarier oder geistig minderwertiger, die mehr mit dem Gefühle als mit dem Verstande urteilen. Die ethische Motivierung wird bei ihnen zur unbewussten Gefühlsduselei.

Die Begründung des Vegetarismus aus ethischen Erwägungen heraus ist so alt wie die Geschichte desselben, ja, es ist ohne Zweifel das ursprünglichste Motiv dieser ganzen Lehrmeinung! Denn wie unser geschichtlicher Überblick im Anfang der Darstellung gelehrt hat, ist der Vegetarismus im Altertum durchweg aus asketisch-religionsphilosophischen Anschauungen entsprungen und noch heute wird die Pflanzenkost mit der ihr eigenen Massigkeit von Tolstoi als ein Gebot der Entsagung und Kasteiung gefordert.

Die Vegetarier beweisen ihre geistige Kurzsichtigkeit kaum schärfer als gerade dadurch, dass sie die ethischen Motive nicht als die ausschliesslich massgebenden für ihre Lehre gelten lassen wollen. Denn keine Begründung einer Anschauung steht höher, als diejenige, welche durch ein sittliches Gebot gerechtfertigt erscheint. Die wissenschaftliche Kritik hat deshalb weniger mit jenen an Zahl nicht geringen Vegetariern zu rechnen, welche nur aus ihrem Gefühl heraus die Überzeugung gewonnen haben, dass Fleischessen Sünde sei, sondern vielmehr mit jenen geistig hochstehenden Männern, wie Shelley, Baltzer, Tolstoi, die in dieser Frage nicht ihr Gewissen die unbestimmte Sprache reden lassen, vielmehr auf rein intellektuellem Wege das Fleischessen als ein Vergehen gegen die sittlichen Gebote des Menschen erkannt haben. Das ist der Standpunkt einer Moralphilosophie, über den sich ernsthaft streiten lässt. Viele Wege führen nach Rom und auch zu einem sittlichen Lebenswandel, die Menschen sind bisher nicht darüber einig geworden, welcher Weg der beste ist. Alle Zeiten, alle Völker haben andere Vorstellungen darüber gehabt. Was Gut und Böse, was Recht und Unrecht ist, diese Begriffe haben sich im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechts mehrfach gewandelt, und noch heute gehen darüber in einzelnen Punkten die Meinungen selbst der Edelsten und geistig Hochstehendsten auseinander. Jeder Mensch, welcher überhaupt sittliche Grundsätze hat, strebt nach einem „guten Leben", aber nicht jeder nimmt den Flug seines Ideals so hoch als Pythagoras oder Tolstoi; nicht alle haben die gleichen Begriffe von Glück und Zufriedenheit, Besonnenheit und Enthaltsamkeit, Der eine wurzelt mit seinem Denken und Empfinden in den thatsächlichen Verhältnissen des Alltagslebens, der andere zieht mehr abseits von den ausgetretenen Pfaden der grossen Massen. Darum giebt es kein einheitliches und kein dauerndes sittliches Ideal. Es ist darum auch als eine Anmassung der Vegetarier zu betrachten, dass sie allein im Besitze des allein glücklich machenden Steins der Weisen sind. Wollten sie leugnen, dass es ungezählte Tausende und Millionen sittlich hochstehender Menschen unter den Fleischessern giebt, so wäre das ebenso thöricht, als wenn jemand bestreiten wollte, dass es unter den Vegetariern Leute von reinsten, besten Sitten sind, deren Ethik der Ausdruck echten Menschentums ist.

Nur die Einseitigkeit der Auffassung von Mensch und Dingen kann zu der fixen Idee führen, dass die Moral von der Ernährung abhängig sei. Zu einer derartigen schiefen Auffassung kann man nur kommen, wenn man der Ernährung im Leben des Menschen eine viel zu grosse Bedeutung zuschreibt. Weder das Glück des einzelnen, noch die soziale Zufriedenheit kommt ausschliesslich oder auch nur hauptsächlich durch gutes Essen und Trinken zustande, durch die Befriedigung der Bedürfnisse des Magens und des Körpers, sondern Wohlstand und Behagen sind daneben noch von einer ganzen Reihe anderer Faktoren abhängig, die in das Gebiet der Volkswirtschaft, Sozialpolitik und öffentliche Hygiene gehören.

Das sittliche Unterscheidungsvermögen des Menschen, eine Funktion des Gehirns, ist unabhängig von der speziellen Art der Ernährung der Ganglienzellen des Gehirns, vielmehr nur ein Ausfluss psychischer Thätigkeit, die durch erbliche Anlage und Erziehung in ihren Bahnen festgelegt ist und nur allenfalls durch spätere Lebenserfahrung geändert werden kann. So lobenswert daher an sich die ethischen Grundsätze der Vegetarier erscheinen, so haben sie mit ihrer Ernährungsweise überhaupt nichts zu thun. Das beweist keine Thatsache besser, als der Umstand, dass auch bei den Vegetariern strengster Observanz die Ethik, die sie im Kampf des Lebens offenbaren, zuweilen recht bedenklichen Einwänden begegnet.

Was ist denn der Inbegriff der Ethik des Vegetariers? Sie lässt sich in die Worte zusammenfassen: „Tiermord ist Sünde!" In tausendfältigen Variationen, in poetischen und prosaischen Deduktionen, im Tone tiefster innerlicher Entrüstung und im aufflammenden Jähzorn, der sonst nur den Fleischessern eigen sein soll, ist dieses Thema von den Vegetariern in Wort und Schrift erörtert worden, und noch heute kehrt diese Motivierung immer wieder, wenngleich die praktisch Klügsten sich der Thatsache wohl bewusst sind, dass sie mit diesem Motiv auf die grossen Volksmassen wenig Eindruck zu machen imstande sind. „Blutspuren führen zur Höhle des Tigers, gestreute Blumen müssen zur Wohnung des Menschen führen, das wahre Menschenglück kann nicht mit dem Tiermord einhergehen." So argumentiert der geistvolle Gleïzès in der ihm eigenen phantasiereichen Diktion. Die Vegetarier bestreiten dem Menschen das Recht, das Tier zu seinen egoistischen Zwecken, zur Befriedigung seines Nahrungsbedürfnisses, zur Fröhnung seiner Geschmacksgelüste zu opfern. Die Tiere seien nicht dazu da, um von den Menschen gegessen zu werden. Zur Begründung dieser Auffassung berufen sich die einen auf die Gebote der heiligen Schrift. Von diesen Bibelvegetariern wird in einem späteren Kapitel noch besonders die Rede sein, in dem der Nachweis geführt werden soll, dass auch hier die Vegetarier aus den Buchstaben willkürlich herauslesen, was ihren doktrinären Anschauungen genehm ist. Die anderen berufen sich auf die Verpflichtung des Menschen zur Ausübung der Humanität dem schwächeren Tier gegenüber. Der Mensch könne niemals edler handeln, als wenn er diejenigen schone, die seiner Willkür anvertraut sind. Der Tiermord sei eine Grausamkeit, ein Missbrauch der Gewalt, welche dem Menschen über das Tier gegeben sei. Diese Behauptung ist in ihrer Allgemeinheit durchaus unrichtig, denn es giebt genug Tiere, die an Kräften dem Menschen weit überlegen sind und ihn im Kampfe um die Existenz nicht zu schonen pflegen. Das Recht des Stärkeren nimmt auf sittliche Empfindungen niemals Rücksicht. Auch Tiere und Pflanzen benutzen rücksichtslos stets das, was sie zur Selbsterhaltung bedürfen. Selbst wenn aber der Mensch den schwächeren Tieren gegenüber seine Macht ausnutzt, so ist das eben nur die Folge der geistigen Überlegenheit, die er sich in jahrtausendelangem Ringen erworben hat. Die überlegene körperliche Organisation ist eine natürliche Disposition und, was sie gewährt, das muss deshalb als ein Ausfluss der von der Natur bedingten Sittlichkeit erscheinen. Übrigens sind auch die Pflanzen Lebewesen, deren Hauch durch ihre Entnahme vom Mutterboden ebenso ertötet wird, wie durch das Schlachten der Tiere. Der Tropfen Blut kann unmöglich einen sachlichen Unterschied bedingen, .wenn es sich um das sittliche Unrecht einer Ertötung lebender Wesen handeln soll. Es ist des ferneren schon oft genug ausgeführt worden, dass das Vergehen der Menschen gegen die Tierwelt deshalb viel geringfügiger ist, als es auf den ersten Blick scheinen könnte, weil das Tier nicht entfernt auf der Gefühlshöhe des Menschen steht, sodass von einem eigentlichen Leiden des Tieres oft so gut wie gar nicht die Rede sein kann, z. B. bei niederen Tieren. Doch selbst diese Verletzung des Humanitätsgefühls zugegeben, so erscheint sie berechtigt als eines der Opfer, welche im Kampf des Daseins von den Schwächeren stets zu Gunsten des Stärkeren gebracht werden müssen. Es ist nie dabei zu vergessen, dass der Mensch durch die Züchtung des Tieres die Arten desselben wesentlich veredelt und durch seine Fürsorge dieselben grösstenteils überhaupt nur fortdauernd erhalten hat. Die Tierarten würden im Kampfe untereinander sich grösstenteils aufreiben, dem Aussterben ausgesetzt sein, wenn der Mensch sie nicht für seine kulturellen, d. h. egoistischen Zwecke schonte, erhielte und überwachte. Der Mensch würde auch nicht über gutbestellte Äcker und Felder verfügen können, welche die Pflanzennahrung liefern, wenn er nicht seit Jahrtausenden für Erhaltung einer guten Rinderzucht gesorgt hätte! Bei der Besprechung der angeblich volkswirtschaftlichen Bedeutung des Vegetarismus wird noch eingehender darauf hingewiesen werden, dass die Beschaffung der landwirtschaftlichen Erträgnisse von der Unterhaltung eines Viehstandes abhängig ist. Ohne Viehzucht keine Landwirtschaft! Wenn der Mensch also in jahrtausendelangem Bemühen eine Arbeit geleistet hat, welche der Tierwelt zugute gekommen ist, so muss ihm auch das sittliche Recht zugesprochen werden, über die Früchte dieser Arbeit frei verfügen zu können. Es ist eine Thorheit, die auf Gefühlsduselei beruht, den Tiermord auf eine Stufe mit dem Menschenmord stellen zu wollen. Im ungünstigsten Falle der Beurteilung ist der Tiermord immer noch als ein notwendiges Übel zu bezeichnen, notwendiger und entschuldbarer als der Krieg. Ohne Opfer kann sich die geistige und kulturelle Entwicklung der Menschheit nicht vollziehen. Nur durch seine Beherrschung der Tierwelt hat sich der Mensch aus den primitiven Urzuständen seiner Entwicklung emporgearbeitet. Wäre die Tierwelt gleich mächtig neben ihm geblieben, so wäre das Genus „Homo" intellektuell niemals unterschiedlich geworden. All das, was den Begriff der Ethik ausmacht, ist doch erst ein Gewinn der errungenen Überlegenheit des Menschen über die nur mit Instinkt begabten tierischen Lebewesen. Eine Sittenlehre kann als wissenschaftlich heutzutage nur dann als berechtigt gelten, wenn sie auf den Boden der Entwicklungsgeschichte fusst. Jede darwinistische Behandlung der Ethik wird aber in dem Tiermord kein Vergehen gegen die Naturgesetze erblicken, sondern nur eine naturgemässe Notwendigkeit gegebener Verhältnisse.

Schliesslich rechtfertigt auch noch ein anderes Moment den Menschen zum Tiermord, wenn man so überhaupt das Schlachten der Tiere für Nahrungszwecke nennen darf. Durch die Bestrebungen der Menschen sind die Haustiere in ihrer Menge so kolossal angewachsen, dass ihre Zahl den Menschen bald eine erdrückende Last werden müsste, wenn sie nicht durch die Schlachtopfer immer wieder verringert würde. Die Unterhaltung der Viehherden z. B. würde so kolossale Summen von Arbeit und Geld aufsaugen, dass sie sich sehr bald unökonomisch erweisen müsste. Über dieses sein mit Mühe und Kosten erworbenes Eigentum muss dem Menschen auch vom sittlichen Standpunkte aus das Recht der freien Verfügung zugestanden werden. Liesse man sich die Tierwelt ins Ungemessene vermehren, die ihrerseits auch auf die Pflanzennahrung angewiesen ist (obwohl ein sehr grosser Teil der Tierwelt ganz instinktiv sich auch von Tieren nährt!), so würde dem Menschen in absehbarer Zeit die vegetabilische Nahrung ausgehen, die bei Mangel animalischer Kost ja seine ausschliessliche Ernährung bilden müsste.

Nach alledem erscheint der sittliche Schauer vor dem Tiermord zu Nahrungszwecken als eine rein theoretische Abstraktion unpraktischer Menschen, die die Welt nicht so zu sehen gewohnt sind, wie sie wirklich ist, sondern mit ihren Phantasien und Utopien sich ständig als Menschen- und Weltverbesserer gebärden. Die „unschuldige Diät", wie Gleïzès die vegetabilische Kost im Gegensatz zur Fleischnahrung nennt, lässt sich deshalb mit der Ethik praktischer Menschen nicht rechtfertigen. In deren Augen wird sie zu einer inhaltsleeren Phrase, wie die masslose Übertreibung desselben Autors, dass die Fleischnahrung ein untrügliches Zeichen einer sittlich und körperlich gebrochenen Menschheit sei, der in der Not des Lebens nur die unblutige Pflanzenkost als Evangelium verheissen werden könnte. Die Menschen, die da kein Blut sehen können, pflegen nicht aus dem Holze zu sein, aus welchem diejenigen hervorgehen, welche Kulturwerte schaffen, welche an der intellektuellen und kulturellen Fortentwicklung des Menschengeschlechts thätigen Anteil nehmen. Die weichliche Ethik dieser Gefühlsmenschen macht ihrem Herzen alle Ehre, aber sie ist allemal ein Zeichen recht dürftiger Verstandesthätigkeit.

Es bleibt schliesslich noch die Behauptung zu prüfen übrig, dass der Genuss von Tierfleisch den Menschen sittlich verrohe, ihn jähzornig, rachsüchtig und blutdürstig mache, grausam, eigennützig und selbstsüchtig, und was es sonst noch für schlechte Eigenschaften beim Menschen giebt. Durch den Fleischgenuss sollen die tierischen Neigungen im Menschen das Übergewicht gewinnen, gleich als ob der tierische Saft den Menschen zum Tiere mache1), sein Gefühl soll abgestumpft werden, sein Instinkt ertötet werden u. dgl. m. Wodurch soll das Fleisch das alles zu Wege bringen? In erster Reihe denken die Vegetarier dabei immer, dass es das Blut im Tierfleisch ist, welches das menschliche Blut aufschäumen lässt, den Menschen wild macht und vertiert. Dieser kühnen Hypothese stehen aber alle Thatsachen der Physiologie und — der Kochkunst gegenüber. Wenn das Fleisch nicht gerade nach englischer Art gebraten wird, wird das Blut meist so sorgfältig zerstört, dass kaum noch Spuren davon in den Magen aufgenommen werden.

1) Man ist soweit gegangen, die einzelnen Fleischsorten in dieser Hinsicht zu unterscheiden, sodass von dem berühmten englischen Schauspieler Garrik behauptet wurde, dass er, wenn er die Rolle König Richards III. spielen sollte, vorher ein Roastbeef ass. wenn er aber einen betrogenen Ehemann darstellte, sein Mittagsbrot aus Schaffleisch bestand.

Selbst wenn dies aber der Fall wäre, so wird dieses Blut in den menschlichen Verdauungssäften so vollkommen in seine Bestandteile zerlegt aufgesogen, dass es unmöglich als Blut in das menschliche Blut übergeht! Im übrigen spricht die einfachste Menschenkenntnis gegen derartige Schlussfolgerungen. Es zeugt von vollständiger Blindheit oder absichtlicher Verdrehung der Thatsachen, ernsthaft zu behaupten, dass es unter den Fleischessern keine zartempfindenden Gemütsmenschen gäbe. Das weibliche Geschlecht, das in seiner überwiegenden Mehrheit doch auch an den Fleischgenuss gewöhnt ist, wird diesen Vorzug gewiss nicht mit Unrecht für sich in Anspruch nehmen. Die „wilden" und „zügellosen" Charaktere aber unter den Fleischessern sind nichts anderes als die Produkte eines lebhaften Temperamentes, das angeboren ist. Die Ernährung des Menschen aber übt auf diese Charakteranlagen gar keinen Einfluss aus.

Die Sünden und Verbrechen der Menschen dem Fleischessen zuzuschreiben, erscheint ebenso wiedersinnig, als die Grausamkeit und hinterlistige Roheit chinescher Boxer als Folge ihrer Reisnahrung hinzustellen. Die jähzornigen und rauflustigsten Menschen findet man immer in den Schichten der arbeitenden Bevölkerungsklassen, welche sich vornehmlich von Pflanzenkost ernähren. Nicht diese Nahrung macht sie zu Messerhelden und anderen Verbrechern, sondern der Mangel an Intelligenz und an Kraft, die Sinneslüste zu beherrschen. Wenn man die Geschichte der Moralstatistik verfolgt, so lässt sich nirgendswo eine Angabe über einen bestimmenden Einfluss der Ernährungsweise, speziell der Fleischnahrung auf die so gesetzmässig erfolgenden Geschehnisse des menschlichen Lebens auffinden. Wohl der Mangel an Nahrung, aber nicht die Qualität derselben führt zu Verbrechen oder irgend welchen anderen sozialen Erscheinungen. Wie ganz anders erweist sich hier der Einfluss des Alkohols auf die Statistik der Lebensereignisse! Dass schliesslich die Vegetarier nicht bessere Menschen sind, als die durchschnittlichen Fleischesser, das weiss ausser ihnen selbst jeder unbefangene Beobachter. Im Gegenteil hat man unter der kleinen Zahl von Vegetariern schon auffallend oft Bösewichte, rücksichtslose Egoisten, Neidhammel, rachsüchtige und andere schlechte Menschen zur Genüge kennen gelernt. Die Geschichte des modernen und modernsten Vegetarismus weist hinreichend Beispiele dafür auf. Die sittliche Entrüstung der Vegetarier steht ihnen deshalb recht schlecht, und es ist ein nicht geringes Zeichen von Anmassung und Selbstberäucherung oder -- Dummheit, wenn Vegetarier zuweilen ernsthaft von sich behaupten, durch die Pflanzenkost bessere und edlere Menschen geworden zu sein. Peccatur intra muros et extra! Gute und böse Menschen giebt es bei den Vegetariern wie bei den Fleischessern; ob die einen oder die anderen bei diesen oder bei jenen überwiegen, das hat noch keine Statistik festgestellt; das hängt rein von der Zufällligkeit der Persönlichkeiten ab.

Zum Schlüsse noch kurz die Würdigung eines letzten Momentes, das die Ethiker ins Feld zu führen pflegen: Kinder sollen instinktiv immer nach vegetarischer Nahrung greifen, wie Kuchen, Obst und Früchte, und sie sollen zumeist nur durch Zwang oder Dressur zum Fleischessen erzogen werden können. Erstens trifft diese Thatsache nicht allgemein zu, sondern entspricht vielfach nur den individuellen Neigungen, die dem Menschen angeboren sind. Ferner beruht die Vorliebe vieler Kinder für jene Nahrungsmittel auf einer weit verbreiteten Untugend, die namentlich im Kindesalter noch sehr stark entwickelt zu sein pflegt, nämlich der Naschsucht, der Vorliebe für Leckereien und Süssigkeiten. Doch das sind Nebenpunkte. In der Hauptsache spricht gegen jene Behauptung das sehr gewichtige Argument, dass das Kind in der frühesten Zeit seiner Entwicklung, d. h. im Säuglingsalter, nichts weniger als vegetabilische Neigungen hat, es greift instinktiv nach der Mutterbrust, d. h. nach tierischer Nahrung, die ihm die einzig angemessene ist! Das allein entspricht dem Grundsatz: „Treu der Natur", den die Vegetarier im Wappenschilde führen!

Wir können die Gesamtheit der Ausführungen dieses Kapitels dahin zusammenfassen, dass die Jahrtausende alten und mit grossem Eifer immer wieder aufgenommenen und fortgesetzten Bestrebungen des Vegetarismus bisher nichts für die Veredlung der Sinnlichkeit und Sittlichkeit der Menschheit geleistet haben. Wenn das ernste Wollen einer grossen Reihe von Vegetariern auch Anerkennung verdient, mittels ihrer Lebens- und Ernährungsweise den Menschen glücklicher zu machen, so haben die Thatsachen bisher eine solche Möglichkeit noch nicht erwiesen. Auch auf diesem Wege erscheint das Problem des Vegetarismus als ein unlösliches. Denn der von den Vegetariern aufgestellte Begriff des Glücks, „der harmonischen Lebensweise", der „bewussten Erfüllung der Lebensbedingungen" (Baltzer) ist ein rein subjektiver, kein allgemein giltiger! Die Ethik dieser Idealisten — das sind die besten unter ihnen! — ist praktisch unfruchtbar für die geistige und kulturelle Entwicklung der Menschheit, vielleicht sogar hemmend; sie sehen ihre Mitmenschen, vielfach auch sich selbst, nicht wie sind, sondern wie sie sein könnten und sein sollten! Nach Glück streben wir alle, nur die Wege sind verschieden. Die Vegetarier bilden sich ein, im Besitze des allein seligmachenden Glaubens zu sein, der glücklich macht. Die Vegetarier halten ihre sittlichen Anschauungen für die reinsten und förderlichsten, für die einzig richtigen und guten. Das ist der Grundfehler, an dem auch der Versuch, den Vegetarismus aus ethischen Motiven zu begründen, immer wieder scheitern muss.


10. Volkswirtschaft.

Aus der geschichtlichen Darstellung der vegetarischen Bewegung ist ersichtlich geworden, dass zu allen Zeiten der Versuch gemacht worden ist, sie aus sozialen Verhältnissen zu begründen. Die grossen Männer der Geschichte, welche für die Berechtigung des Vegetarismus eingetreten sind, die Religionsstifter und Philosophen, sind ohne Ausnahme Sozialreformatoren gewesen, welche die misslichen sozialen Zustände ihrer Zeit umzugestalten versuchten, und deshalb auch die Frage der Volksernährung in den Kreis ihrer Erwägungen und Verbesserungspläne zogen. Dass die Ernährung einen guten Anteil an dem sozialen Wohlbehagen der Volksmassen hat, bedarf gar keiner Erörterung. Die Regelung der Ernährung bildet gleichsam die Voraussetzung aller geordneten Staats- und Gesellschaftszustände, aber sie bildet weder den Angelpunkt noch das Endziel aller sozialpolitischen Bestrebungen, die auf die Schaffung möglichst günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse für jedermann hinauslaufen. Nur die Vegetarier sind es, welche die Ernährung als Grundpfeiler jedes Systems der Volkswirtschaft betrachten.

„Der Vegetarismus", sagt Th. Hahn, „muss allen anderen gesellschaftlichen Reformen zur Grundlage dienen. Man schwatze über Politik, Handel, Schiffahrt, Armeen, Annexionen und Sezessionen, Unionen und Konstitutionen! Was haben sie alle für Wert im Vergleich zur hochwichtigen Frage der Speisen und Getränke?"

Wenn auch mit weniger schroffen Worten, als dieser heissblütige Kämpe, dem das Temperament meist mit dem Verstande durchgegangen ist, so haben doch die besten Vertreter des Vegetarismus in der Litteratur immer dieselben Anschauungen offenbart. Hat doch Eduard Baltzer dem zweiten Teil seines berühmten Buches „Die natürliche Lebensweise, der Weg zu Gesundheit und gesundem Heil" den anspruchsvollen Untertitel gegeben: „Die Reform der Volkswirtschaft." Seite 24 sagt er dort:

„.... Die Betrachtung dieser Thatsachen genügt vollständig, um zu zeigen, dass die blutlose Diät ein oberstes nationalökonomisches Prinzip ist, das von der Wissenschaft nach aller Richtung erforscht und statistisch beobachtet werden müsste."

Diese Art wissenschaftlicher nationalökonomischer Betrachtung ist eine Eigenheit der vegetarischen Denkweise. So reich schon die alten Kulturländer, insbesondere aber die beiden letzten Jahrhunderte an sozialreformatorischen Bestrebungen und volkswirtschaftlichen Verbesserungsystemen gewesen sind, so mannigfaltig-umfassend die neueren sozialpolitischen Prinzipien der Volkswirtschaft sind, so weit auch die Ansichten der hervorragendsten Nationalökonomen aller Zeiten und Länder auseinandergegangen sind und gehen, noch niemals und nirgends ist ausserhalb der vegetarischen Litteratur der Versuch gemacht worden, eine gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage einer Ernährungsreform aufzubauen. Sollten Männer wie Adam Smith, Ricardo, Carey, Bastiat, Mill, Rau, Roscher und alle unsere neueren Nationalökonomen von Weltruf diese so naheliegende Möglichkeit, einen Faktor von so weittragender Bedeutung, übersehen haben? Auch auf diesem Gebiete vegetarischer Argumentationen macht sich die laienhafte Halbbildung, welche der Kritik bar ist, breit und führt zu genau derselben einseitigen Auffassung, wie auf physiologisch-hygienischem Gebiete. Alle diejenigen, welche den Vegetarismus mit volkswirtschaftlichen Motiven zu rechtfertigen versucht haben, lassen in ihren Auseinandersetzungen leider eine genauere Kenntnis all der mannigfachen Faktoren vermissen, welche den kompilierten Mechanismus eines Gesellschaftsstaates zusammensetzen. Sie lassen ganz ausser Acht, dass neben der Ernährungsfrage noch zahlreiche andere Momente in Betracht kommen, welche zum Aufbau eines allseitig befriedigenden Gesellschaftsstaates gehören. Um nur ein einziges Moment herauszugreifen, sei daran erinnert, wie oft in der alten und neuen Geschichte das Streben nach Freiheit der Bewegung für jedes einzelne Individuum von rein politischen Momenten gelenkt worden ist, z. B. in den Kämpfen um das allgemeine und gleiche Wahlrecht, um Vertretung der Volksmeinung in gesetzgeberischen Körperschaften u. dgl. m.

Erscheint daher die Beweisführung der Vegetarier, einen Staat auf der Grundlage einer reinen Ernährungsfrage reorganisieren zu wollen, von vornherein als ein einseitig verfehlter Versuch, so mag doch um der Gerechtigkeit willen auch einmal der volkswirtschaftliche Gedanke des Vegetarismus einer kritischen Analyse unterzogen werden. Er lässt sich kurz dahin zusammenfassen: Der Fleischgenuss ist ein sehr kostspieliger, er bedeutet eine schwere wirtschaftliche Schädigung des Volkseigentums, der Betrieb, und namentlich die ungeheure Ausdehnung der Viehzucht zu Nahrungszwecken ist sehr irrationell, das darauf verwendete Geld könnte auf andere Weise weit zweckmässiger und gewinnbringender verwendet werden. Die Ernährung der Menschen durch Pflanzennahrung gestaltet sich in der praktischen Durchführung für die Volksmassen viel einfacher, bequemer und billiger, das Kapital, welches durch Abschaffung der Viehzucht und Viehschlachtung erspart werden könnte, würde für andere Zwecke des Volkswohls vorteilhafter aufgebraucht werden, sobald einmal durch Pflanzennahrung in ausreichender Weise für die Volksernährung gesorgt ist. Die gegenwärtig allgemein übliche Ausnutzung des Grundes und Bodens erscheint als eine zu wenig ergiebige und kann durch Steigerung des landwirtschaftlichen Betriebes bei gleichzeitiger Einschränkung der Viehzucht erheblich gesteigert werden.

Die Grundanschauung der vegetarischen Volkswirtschaftslehre hat Baltzer in das Schlagwort „Kritik von Konsum und Produktion" zusammengefasst, das in neuester Zeit von seinen Freunden wieder hervorgeholt und eifrig ausgeschlachtet wird, sonst aber in der wissenschaftlichen Sprache der Nationalökonomen kaum bekannt ist. Die „Kritik des Konsums" bezieht sich natürlich auf den Fleischverbrauch. Baltzer hat ihn zu seiner Zeit für die Bevölkerung Europas auf 1520 Millionen Thaler berechnet.

„Dieses Fleisch," sagt er, „durch Brot ersetzt, könnte, von dem ungeheuren sonstigen Gewinn ganz abgesehen, direkt weit über eine Milliarde erspart werden, welches zu tausend anderen schöneren Zwecken disponibel bliebe."

Doch der Kern der vegetarischen Volkswirtschaftslehre steckt in folgenden Sätzen Baltzers:

„Ein Pfund bestes Ochsenfleisch hat annähernd 77 Teile Wasser, 16 Teile Eiweisshaltiges, 10 Teile Fett; ein Pfund Bohnen dagegen hat nur 10 Teile Wasser, aber 26—27 Teile Nährstoff. 2,1 Fett und 50 Teile Fettbildner. Ein Pfund Bohnen hat mithin an sich mehr Nährkraft als ein Pfund Ochsenfleisch (26—27 gegen 16 Teile) und hat auch mehr Wärmebildner; denn diese verhalten sich zu den Nährstoffen (10 Teile Fett = 24 Teile Stärkemehl gerechnet) nahezu bei Bohnen wie 2:1, bei Ochsenfleich wie 1 1/2 : 1. Warum also verwandeln wir Bohnen erst in Ochsenfleisch, uns zu ernähren und zu erwärmen, da wir das in Bohnen viel natürlicher, reiner und vor allem viel billiger haben? Denn wieviel Pfund Bohnen sind nötig, um ein Pfund Rindfleisch zu erzeugen, d. h. wieviel Jahre lang muss ein Ochse wieviel Land zu seiner Ernährung haben, ehe er schlachtbar wird, und wieviel Menschen könnten in derselben Zeit von demselben Acker leben, wenn sie sich mit Cerealien nährten."

Das sind leere Zahlen, durch deren Rechnung die Physiologie einen energischen Strich macht. Der Gehalt eines Nahrungsmittels an Nährstoff entscheidet nämlich durchaus noch nicht über den praktischen Wert desselben; denn es kommt wesentlich dafür noch die Möglichkeit der Ausnutzung dieses Nährstoffes im menschlichen Darmkanal in Betracht. Vom Eiweiss des Fleisches z. B. werden höchstens 2—2 1/2 Proz. unausgenutzt gelassen, von dem Eiweissgehalt der Bohnen dagegen mehr als 30 Proz. Stellt man das in Rechnung, so ergiebt sich, selbst wenn man Baltzer's für das Fleisch etwas ungünstig angegebene Zahlen zu Grunde legt, dass wirklicher Eiweiss-nährstoff in einem Pfund Pfleisch etwa 15,5 Teile, in einem Pfund Bohnen etwa 18 Teile eingeführt werden; es kommt noch hinzu, dass auch von dem reichen Kohlehydratgehalt der Bohnen 3—4 Proz. vom Darm nicht ausgenutzt werden. Der angebliche Vorteil der pflanzlichen Eiweissnahrung und der Vegetabilien überhaupt geht dadurch verloren. Man bedenke ferner, um wieviel schwieriger es im Verhältnis ist, ein Pfund Bohnen als ein Pfund Fleisch (im Rohzustand gewogen) zu gemessen, sodass in Wirklichkeit die gleiche Eiweissmenge dem Menschen durch die Fleischnahrung auf eine erheblich leichtere Weise zugeführt werden kann! Die Berechnung Baltzers verliert schliesslich noch an Beweiskraft vollends dadurch, dass er gerade eins der wenigen eiweissreichen pflanzlichen Nahrungsmittel als Paradigma herausgegriffen hat. Bei Kartoffeln, Äpfeln, Salat, selbst Brot u. dgl. würde der Ausfall der Rechnung ihn wahrscheinlich selbst sehr erstaunt haben. Das sind eben die Folgen eines Mangels an Kritik, die nirgends notwendiger ist, als in der Wissenschaft. Also mit physiologischen Berechnungen der grösseren Rentabilität pflanzlicher Eiweissnahrung lässt sich die Einführung einer allgemeinen Pflanzenernährung als wirtschaftlich rationeller nicht rechtfertigen!

Doch betrachten wir einmal die rein volkswirtschaftlichen Argumente der Vegetarier. Was soll aus den grossen Viehherden werden, wenn kein Fleisch mehr genossen wird? Meist gehen die Vegetarier über diesen Gedanken nichtachtend hinweg, der konsequentere Baltzer hat sich dabei aber selbst eine Falle gelegt.

„In dem Masse, als die Schlächterei sich reduzieren würde, sänken die Preise des Schlachtviehes; man würde die Landwirtschaft weniger auf Züchtung und Mästung, als auf Milchwirtschaft (sie!) und Cerealienbau einrichten." .... „In dem Masse, als der Fleischkonsum abnimmt, würde der Milch-, Käse- und Butterkonsum wachsen, und da das Rindvieh als Arbeitstier brauchbar ist, so würde ein überaus grosser Viehstand bleiben."

Hier kommt also Baltzer zu dem Zugeständnis, dass die Erhaltung eines grossen Viehstandes unerlässlich notwendig ist. Dann würden die Ochsen und Schweine wahrscheinlich bald keinen Platz mehr in der Welt finden und durch ihren Müssiggang den Menschen wahrscheinlich bald eine Qual, eine Last oder sogar eine Gefahr werden; denn Zucht und Mästung würde bald unmöglich sein, unsere Haus- und Schlachttiere würden zum grossen Teil wieder in den Zustand der Wildheit zurückverschlagen werden. Wenn Baltzer selbst zugiebt, dass mit Aufgabe des Schlachtviehes der Milch-, Butter- und Käsekonsum nicht nur bestehen, sondern sogar wachsen würde, so ist das der schlagendste Beweis für den Wert der Viehzucht, für die rationelle Ökonomie einer derartig betriebenen Landwirtschaft. Es giebt kaum etwas Paradoxeres, als den Gedanken: Milch, Butter und Käse zu verwerten, das Fleisch der Tiere aber, welche diese Produkte liefern, als Leichnam einzuscharren! Übrigens würde ja dann auch die Gesellschaft immer noch nicht auf vegetarischer Grundlage aufgebaut sein, sondern auf einer zwar fleischlosen, aber doch gemischten Ernährungsweise!

Als eine ganz besonders kompetente Autorität für ihre wirtschaftlichen Theorien pflegen die Vegetarier immer Alex. v. Humboldt zu zitieren: „Eine Strecke Landes, welche, wenn wie in Europa mit Weizen bebaut, zehn Personen ernähren und durch seine Erzeugnisse (durch Mästung) in Tierfleisch verwandelt, kaum mehr als einen Menschen den Unterhalt gewähren würde, vermag in Mexico, mit Bananen bepflanzt, wohl 250 Menschen zu unterhalten." Humboldt würde sich gewiss sehr energisch gegen eine derartige Ausnutzung dieser seiner Äusserung verwahren. Sie ist zunächst nichts anderes als eine rein akademische Betrachtung, der jede Nutzanwendung für die Praxis fernlag. Schon der angezogene Vergleich der tropischen Verhältnisse mit den mitteleuropäischen schliesst das aus. Auch in Mexico pflanzt man ja nicht nur Bananen an und erreicht auch dort nicht entfernt die grösstmögliche Ertragsfähigkeit des Bodens. Das Verhältnis 10:250 ist also ganz willkürlich gewählt, es entspricht nie den thatsächlichen Verhältnissen der Landwirtschaft. Aber auch das Verhältnis 10:1 zwischen zwei zu Ackerbau und Viehzucht verwerteten gleichen Bodenflächen ein und desselben Landes ist nicht den Erfahrungen einer wissenschaftlichen Statistik entnommen worden, nur eine ungefähre Schätzung, der niemals allgemeine Giltigkeit zukommen kann. Denn die wirtschaftliche Rentabilität eines Stückes Bodenfläche hängt stets von zahlreichen nebeneinander

wirksamen äusseren und inneren Faktoren ab! Es ist nicht angängig, einen einzigen als Masstab gelten lassen zu wollen, zumal bei einem Vergleich zwischen wissenschaftlich so heterogenen Dingen. Vom Weizen bis zum Ochsenfleisch ist eine weite Strecke, auf deren Wege die verschiedensten sozialwirtschaftlichen Einflüsse zur Geltung kommen.

Dass die Viehzucht teurer ist als der Ackerbau, dass sie die Bodenfläche in weit stärkerem Masse in Anspruch nimmt, wer wollte es leugnen? Sie liefert aber auch eine ganz andere Rentabilität und bietet dem Menschen zahlreiche wirtschaftliche und soziale Vorteile, deren Wert sehr hoch zu veranschlagen ist und die Mehrkosten des Betriebes mehr als ausgleicht!

Schliesslich gehört, wenn man einmal, wie es auch durchaus notwendig ist und in neuerer Zeit öfters von wissenschaftlichen Nationalökonomen geschehen ist, die Landwirtschaft vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus betrachtet, die Viehzucht zum Ackerbau wie die Sonne zur Erde. Haben die Vegetarier nie etwas vom Kreislauf des Stoffes in der Natur gehört?

Wie manches im Charakter und in den Bestrebungen der Vegetarier sympathisch berührt, so kann man den Besten unter ihnen auch nicht die Anerkennung versagen, dass sie zielbewusst im ernsten Wollen sind, ihre Worte auch in Thaten umzusetzen. So haben sie den Versuch gewagt, das Bild des gesellschaftlichen Lebens, das sie theoretisch konstruiert haben, in der Wirklichkeit auszuführen, d.h. eine wirtschaftliche Gemeinschaft nach vegetarischen Grundsätzen zu begründen und zu unterhalten. Sie hoffen durch den Nachweis des gelungenen Versuchs im kleinen Massstabe allmählich mit der praktischen Durchführung ihrer Idee den ganzen Erdball umspannen zu können. Leider macht der kühne Flug der Phantasie diese Idee, selbst wenn sie sich als durchführbar erweisen sollte, durch die Verallgemeinerung wieder zu einer Utopie! Das geht aus den bisherigen Erfahrungen, wie wir zeigen werden, bereits zur Genüge hervor. Die wirtschaftlichen Reformpläne des Vegetarismus, die im letzten Jahrzehnt von sich reden gemacht haben, sind in eine Reihe mit zahlreichen anderen sozialen Bestrebungen zu stellen, an denen das verflossene Jahrhundert in natürlicher Folge der immer schlechter gewordenen Gesellschaftszustände so überaus reich ist. Entsprechend der Mannigfaltigkeit der menschlichen Phantasie und ihrer Gebilde nehmen die Neuerungsbestrebungen naturgemäss in den Köpfen ihrer Erfinder immer ein etwas andersartiges Gepräge an. Sozialismus, Kommunismus, Bodenreform, Siedelungsgenossenschaften — das sind nur einzelne von den Schlagworten, welche als Anhänge zu den alten Theorien der Wirtschaftslehre in neuerer Zeit aufgetaucht sind, die Lüfte durchschwirren und die Köpfe verwirren. Überall gärt das öffentliche Leben und ringt nach neuer Gestaltung seiner Formen! Die leidige soziale Frage, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit zieht, hat auch von Seiten der Vegetarier ein Stück Bereicherung erfahren, das jedenfalls der ernsten Beachtung der Volkswirtschaft würdig ist. Ich bin auch weit davon entfernt, für diese Bestrebungen die zufällige vegetarische Lebensweise der Pioniere als treibenden Faktor derselben anzusehen; vielmehr waren bei ihnen rein wirtschaftliche, soziale oder zum Teil auch politische Anschauungen die ursächliche Kraft. Die Art der Ausgestaltung ihrer Pläne verrät so starke Ähnlichkeit mit kommunistischen und sozialistischen Ideen neuerer Zeit, dass der Einfluss eben dieser mir ohne Zweifel erscheint.

Der erste Versuch zur Schaffung einer vegetarischen Volksgemeinschaft ist schon im Jahre 1844 in Nordamerika gemacht worden, wo sich eine Kommunistengemeinde „Skancateles Communty" unter der Bedingung der fleischlosen Ernährung zusammenthat; sie ging indes bereits nach 2 Jahren schon wieder auseinander — leider vorbildlich für viele andere ähnliche Gründungen späterer Zeit.

In Deutschland ist die Idee der praktischen Gestaltung der vegetarischen Wirtschaftslehre gerade auf einen besonders fruchtbaren Boden gefallen. Auch bei den deutschen Vegetariern und „Paradiesessuchern " sind die Versuche, Ansiedelungen zu gründen, einander in bunter Reihe gefolgt. „Auf den im Jahre 1881 von Leipzig ausgehenden Versuch, in Britisch Honduras die Siedelung ,Friedau' aufzubauen, folgte 1885 die Koloniegründung in Chile, deren Ausgangspunkt Berlin war. Auch der gross angelegte Plan von Dr. Bernhard Förster, in Paraguay ein Neugermanien erstehen zulassen, fällt in diese Zeit. Budolf Frank wollte dann 1893 in Peru eine Siedelung schaffen. In Rio Grande do Sul bemüht sich Johannes Drummer mit einigen Freunden seit 12 Jahren, Gesinnungsgenossen anzusiedeln. Noch in frischer Erinnerung sind die Preisungen Kaliforniens, Floridas, von Holländisch-Guyana, Surinam und der Insel Jamaika als paradiesischer Länder. Die meisten dieser Unternehmungen brachten grausame Enttäuschungen, sowie viele Opfer an Geld und Menschenleben. Es ist nicht schwer, die Gründe des Scheiterns aufzudecken. Oft ausgegangen von selbstlosen Menschen, führten die Gründungen meist Leute zusammen, denen, von ihrem guten Willen abgesehen, so ziemlich alles fehlte, was notwendig ist, in der Wildnis Kulturwerke zu schaffen. Die Menschen waren meist nicht aus dem Stoff, der sie zu bahnbrechenden Vorkämpfern der Gesittung hätte machen können. Nach dem Austausch schwungvoller Briefe lernte man sich oft erst im Zwischendeck des Auswandererschiffes oder am Orte der zu gründenden Kolonie persönlich näher kennen. Mangel an Geld, Erfahrung, Arbeitsgewöhnung, körperlicher Gesundheit, Kraft und sittlicher Reife, endlich klimatische Fieber trieben die Stubenmenschen, nur zu bald im Kampfe mit der Urwaldkultur, ihren Gefährten und sich selbst auseinander. Keiner der kühn angelegten Pläne hat es zu dauerndem Leben gebracht. Gewiss, einzelne starke Naturen haben dort in der Fremde ihr Glück und, was sie suchten, eine neue Heimat gefunden. Andere verdarben, viele kehrten gleichsam als Schiffbrüchige zurück. Keine dieser Gründungen erreichte als gesellschaftliche Neubildung eine nennenswerte Bedeutsamkeit.

Auch in Europa hat es an Anläufen zu Vegetariersiedelungen nicht gefehlt. Da ist zunächst Niedersedlitz, die Stätte unseres Freundes Wilhelm Degenhard. Dann Grötzingen, Nieder-Ramstatt, Meran. Wir machen mit unseren Nennungen auf Vollständigkeit keinen Anspruch und erwähnen nur als noch bestehende und gleich uns vorwärtsstrebende Siedelung: den ,Heimgarten'. An vielen schönen Orten, in fruchtbaren, lachenden Gärten haben sich Vegetarier angesiedelt, als einzelne oder in Gruppen.

Aber nicht dort im reichen, fruchtbaren Süden und Westen Deutschlands und Europas, sondern in der kargen, ernsten Natur der Mark Brandenburg entstand der Gedanke des engen Zusammenschlusses der vereinzelt schwachen machtlosen Kräfte zum Zwecke der Erkämpfung natürlicher Lebensbedingungen. Diesem Gedanken verdankt ,Eden' seine Gründung. In Berlin, wo der Gegensatz des Menschen zum Menschen am schärfsten zugespitzt, die Kultur und Überfeinerung am höchsten gestiegen, die Kultur am meisten verlassen ist, reifte der Plan zu der bisher grössten vegetarischen Siedelung.

Es galt eine Verfassung zu schaffen, die im Bewusstsein einer sittlichen Pflichterfüllung mit der wirtschaftlichen und geistigen Unterstützung der Schwachen die Wahrung der persönlichen Freiheit und Schaffensfreudigkeit jedes einzelnen glücklich vereint. Denn einzig die Verbindung dieser beiden Pole, des Socialis-mus und des Individualismus, der Gemeinsamkeit und der Eigenwesenheit, verbürgt den dauernden Bestand der Gesellschaft."

In der Genossenschaftsform auf der Grundlage gemeinsamen Bodeneigentums glauben die Vegetarier diese entwicklungsfähige Verbindung gefunden zu haben.

Diese vegetarische Obstbaukolonie „Eden" bei Oranienburg habe ich persönlich kennen zu lernen Gelegenheit gehabt, und ich zögere nicht mit der Anerkennung, dass Einrichtungen und Betrieb durchaus den Eindruck machen, dass es sich hier um ein mit Ernst, Fleiss und Geschick ausgeführtes Unternehmen handelt. Einige wenige Worte seien nur darüber zur Orientierung gesagt, weil sie zur Kritik einer derartigen Gründung notwendig erscheinen:

Die Kolonie liegt in der märkischen Heide, in der Nachbarschaft ausgedehnter Kiefer- und Laubwaldungen, die Bodenfläche umfasst etwa 150 preussische Morgen und wurde zum Preise von 225 Mark für den Morgen erworben. Der Boden besteht aus humosem Sand, der Mergel-, Lehm- und Thoneinlagerungen aufweist. Das Terrain ist eingeteilt in 85 Wohnstätten von je 1 1/8 Morgen oder 2800 qm Fläche. Alle Wohnstätten haben die „Genossen" zur Bewirtschaftung für eigene Rechnung gepachtet, eventuell auch geteilt. 50 Morgen Land sind als Gemeindeland der Genossenschaft für die Erbauung von Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäuden und Errichtung von Wegen und Spielplätzen vorbehalten. Nachdem das Terrain im Sommer 1893 erworben war, begann im folgenden Frühjahr die Anpflanzung von Obstbäumen, die jetzt, 15 000 an Zahl, in bunter Abwechslung betragen: Tafelobst der verschiedensten Sorten, ferner Haselnüsse, Himbeeren, Brdbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Rhabarber u. s. w. Im Herbst 1900 waren 15 Wohnhäuser, ein- und zweistöckige, erbaut und bewohnt, sie sind für Rechnung der Genossenschaft hergestellt und nur verpachtet, sodass sie nie in Privatbesitz übergehen können. Die Ansiedler sind bisher zum kleineren Teil Gärtner und Landwirte, hauptsächlich aber Handwerker, kleinere Beamte und Gewerbetreibende, die hier Gelegenheit zum Betriebe ihres Geschäftes finden. Was die Kolonie produziert, hat sie seit 1896 bereits beständig durch den Verkauf abzusetzen begonnen. Im Jahre 1899 sind mehr als 200 Zentner verschiedenartiger Beerenarten frisch zum Versand gekommen, auch die Herstellung von Fruchtsäften ist eifrig betrieben und verwertet worden. Der Einkauf aller Lebensbedürfnisse für die Kolonisten geschieht durch das an Ort und Stelle befindliche genossenschaftliche Versandgeschäft „Hilfe". Unter den bereits geschaffenen Wohlfahrtseinrichtungen ist an erster Stelle eine Volksschule zu nennen, welche von 27 Kindern besucht wird. Ende 1900 waren 131 Genossen an der Kolonie beteiligt, die sich gesetzlich in Form einer G. m. b. H. organisiert hat. Die Leiter der Kolonie sind intelligente, uneigennützige und arbeitsame Männer, die sich über Wege und Ziele ihres Unternehmens klar bewusst sind und sich auch durch alle Schwierigkeiten und Hindernisse darin bisher nicht haben beirren lassen. Von socialreformatorischen Ideen getragen und begeistert, glauben sie vorbildlich für grosse Volksmassen zu arbeiten.

Wie ist aber der Erfolg ihrer Arbeit nach achtjährigem Bestehen der Kolonie zu beurteilen? Die Kolonie ist gegründet auf einem Boden, der nach einem alten Witzwort zu des „heiligen römischen Reiches deutscher Streusandbüchse gehört" — ein Boden, der von der Natur für den Obstbau wenig begünstigt ist. Dementsprechend hat auch eine Unsumme von Arbeit und Geld hineingesteckt werden müssen, um, was möglich ist, überhaupt aus ihm herauszuziehen; aber noch heute hat sich der Anbau noch für keinen einzigen der Ansiedler anscheinend rentiert, d. h. der Gewinn steht in keinem Verhältnis zu der Aufwendung von Kapital, Zeit und Arbeit. Nur wenige der Ansiedler sind überhaupt dauernd geblieben, und die Zahl derselben vermehrt sich nur sehr spärlich. Schon einmal in arge finanzielle Bedrängnisse geraten, wurde das Unternehmen nur durch eine geschickte Reorganisation der finanziellen Basis lebenskräftig erhalten. Zum Teil haben sich hier auch nicht die richtigen Leute zusammengefunden, denn ganz gewis gehören dahin nicht solche, die dort ihr leck gewordenes Lebensschiff ins Trockene zu bringen hoffen. Der Ertrag der Anpflanzungen ist selbst für diejenigen, welche sie mit eigener Hände Kraft besorgen, ein so geringfügiger, dass der Überschuss auch kaum den bescheidensten Ansprüchen an das Leben gerecht zu werden vermag. Wer aber auch nur geringes Kapital für ein derartiges Unternehmen anzulegen im Stande ist, wird anderweitig und unter anderen Bedingungen es leichter und reichlicher auszunutzen Gelegenheit finden. Die Aussichten, dass diese Kolonie je auf einen grünen Zweig kommen könnte, scheinen mir daher nicht sehr gross zu sein. Die eigene Kritik der Gründer und Unternehmer rechtfertigt mehr als jedes fremde Urteil eine derartige Auffassung.

„Gewiss werden auch schliessliche Vollerträge einer gut bepflanzten Heimstätte nicht ausreichen, um den ganzen Lebensunterhalt eines Ansiedlers zu decken. Das sollen und können sie nicht. Die Pflege einer vollständig ausgenutzten Heimstätte nimmt aber auch bei weitem nicht die ganze Arbeitszeit ihres Bewirtschafters das Jahr über in Anspruch. Von den 250 Arbeitstagen des landwirtschaftlichen Arbeitsjahres werden wie oben gesagt nur etwa 70—90 Tage für die Heimstätte nötig sein. Es bleibt demnach jedem Müsse genug übrig, den von der Heimstätte nicht beanspruchten Teil seiner Arbeitskraft anderweitig zu benutzen und Verdienstgelegenheit in seinem bisherigen oder einem neugewählten Berufe zu suchen, falls er dieser bedarf. So bietet z. B. die Imkerei, einzelnen Erfahrenen, eine dankbare Beschäftigung und gute Einnahme. — Wer sich ganz auf eigene Obstzucht als ausschliesslichen Erwerbszweig verlegen will, wird zwei oder drei Heimstätten bebauen müssen. Die wenigsten unserer Genossen haben aber dazu Erfahrung, Kraft und die Mittel. Wiederum können nicht alle als Handwerker, Geschäftsleute. Künstler hier ihren Beruf selbständig ausüben."

Das ist eine schlechte Aussicht, auf die sich niemals eine Reform der Sozialwirtschaftspolitik wird gründen lassen. Hier schaut bereits die Fehlerhaftigkeit des Grundprinzips heraus. Eine derartige Gestaltung angeblich vegetarischer Kolonien könnte niemals zu einer allgemeinen Wirtschaftsreform führen, weil sie nur Platz gewährt für selbstthätige Gärtner, Landwirte und Arbeiter, Ein Wirtschaftssystem muss aber stets Raum zur Existenz aller Berufsstände gewähren! Dieser Fehler haftet also schon grundsätzlich jeder vegetarischen Siedelung an; damit ist ihre Beschränkung auf einen kleinen Kreis anspruchsloser Menschen, die nur für sich selbst arbeiten können und wollen, ein für allemal gegeben, und es erscheint ausgeschlossen, dass eine vegetarische Gemeinschaft wegen dieses ihr unveräusserlich anhaftenden Geburtsfehlers sich je in die Breite ausdehnen könnte, geschweige denn zur Begründung eines gesellschaftlichen Staates auf solcher Grundlage führen könnte.

Diese Erkenntnis ist auch der grossen Menge der Vegetarier nicht entgangen, die sich deshalb fernhalten. Manche sehen nicht mit Unrecht solche Unternehmungen als gefährliche Experimente an, welche durch ihre geringen Erfolge oder Misslingen manchen der Sache abspenstig machen und den Kredit des Vegetarismus schädigen. So ist es denn begreiflich, dass sich in jüngster Zeit gerade aus Anlass der Erörterungen über den Wert der Kolonie „Eden" der Gegensatz zwischen den Vegetariern wieder einmal sehr scharf zugespitzt hat. Die jugendlichen Stürmer und Dränger aber, welche mit dem Vegetarismus als Hilfsmittel die Welt reformieren zu können glauben sind schliesslich doch der kompakten Majorität der Vegetarier alter Schule unterlegen, welche sich der Thatsache wohl bewusst sind, dass die breiten Massen des Volkes für die volkswirtschaftliche Verwertung des Vegetarismus niemals Verständnis zeigen werden.

„Der Vegetarismus, soweit er überhaupt mehr als eine Diätfrage ist, und zu einer höheren Weltanschauung, einer positiven Lebenskunst sich erhebt, steckt heute noch fast ganz in der Vorbereitung; durch Kritik und Lehre, und die meisten Vegetarier haben überhaupt noch nicht begriffen, dass das schwierigere Werk der praktischen Durchführung noch bevorsteht."

Der Vegetarismus wird in der That wohl immer eine - missverstandene Ernährungsfrage bleiben, wenn er nicht seine praktische Durchführbarkeit für die Allgemeinheit darzuthun vermag. Da aber bisher jeder Versuch dieser Art gescheitert ist, und auch nach obigen theoretischen Erwägungen von vornherein aussichtlos erscheint, so gelangen wir auch von diesem Gesichtspunkte der Betrachtung aus zu dem Schluss, dass die Idee des Vegetarismus eine grundsätzlich falsche ist.

Doch verlohnt es sich der Mühe, aus den Erfahrungen der Weltgeschichte einmal zu ersehen, ob denn schon jemals breitere Volksmassen sich bei Pflanzenkost zu erhalten vermocht haben, und wie der Kulturwert derartiger Beobachtungen zu veranschlagen ist. Wenngleich die Menschheit im allgemeinen aus ihrer Geschichte wenig zu lernen pflegt, so kann doch der Hinweis auf die Erfahrungen früherer Zeiten und anderer Länder uns einen Anhaltspunkt dafür geben, welcher Wert überhaupt der Idee einer volkswirtschaftlichen Ausnutzung der Pflanzenernährung beizumessen ist.

Im Laufe unserer Darstellung ist schon dessen Erwähnung geschehen (Capitel V. Schluss) dass es ganze Völkerschaften und einzelne Volksschichten in verschiedenen Ländern immer gegeben hat und noch heute giebt, welche hauptsächlich von Pflanzenkost sich ernähren und erhalten. Die Thatsache ist unzweifelhaft richtig, ja es ist sogar richtig, dass diese Volksmassen ausschliesslich durch wirtschaftliche Gründe zu dieser Art Ernährung gedrängt worden sind, aber diese Gründe sind doch ganz andere als die Vegetarier ins Feld führen, als sie auch bei jenen Völkern und Volksschichten immer annehmen. Hier hat es ihnen eben wie so oft an den nötigen Kenntnissen und an Kritik gefehlt, um zu richtiger Auffassung der Verhältnisse zu kommen. Nicht bewusste oder unbewusste physiologische Erwägungen, nicht anatomische Abstraktionen oder hygienische Betrachtungen sind die Motive jener vegetarisch lebenden Massen, sondern der Zwang und die Not der zumeist durch das Klima bedingten Bodenverhältnisse, der allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände des betreffenden Landes. Die Pflanzenkost ist allenthalben ein notgeborenes Produkt ungünstiger Lebensverhältnisse und macht stets der gemischten Ernährung Platz, sobald sich die Gelegenheit findet, die kulturellen oder sozialen Verhältnisse des Landes zu ändern und zu bessern. Das beweist die Geschichte der Landwirtschaft in ganz einwandsfreier Weise: Die arme Landbevölkerung in Tirol und Süditalien lebt hauptsächlich von Mais (den sie allerdings oft mit Milch verkocht als „Polenta" geniessen), nicht weil sie ihn für die beste Nahrung hält, bei der Körper und Geist am kräftigsten gedeihen, sondern weil sie nichts anderes hat und nichts besseres sich verschaffen kann. Diese Leute verzehren irgend ein Stück Fleisch mit demselben Genuss, wie der rauflustige Irländer, der seinen Magen mit Kartoffeln oft bis zu 2 Pfund täglich und mehr(!) füllt, weil er teurere Nahrungsmittel nicht kaufen und bezahlen kann. Und der oberbayrische Holzknecht zieht seiner alltäglichen einförmigen Schmalzkost, die ihn reichlich ernährt, auch den Braten vor, wenn er ihn haben kann. Die Misere des Volkes ist zu allen Zeiten derart gewesen, dass die Leute sich nur mit dem Billigsten nähren konnten und deshalb hauptsächlich von Pflanzenkost lebten. Weise Regenten sind deshalb stets darauf bedacht gewesen, die gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes so zu bessern, dass auch der arme Mann seine Kost reichlicher und mannigfaltiger gestalten kann. Das ist auch der Sinn des bekannten Wortes Heinrichs IV. von England, „dass jeder seiner Bauern wenigstens Sonntag sein Huhn im Topfe haben solle". Die Erkenntnis, dass sich der arme Mann der Billigkeit des Preises wegen hauptsächlich von Kartoffeln nährt, ist eine so allgemeine, dass selbst die neueste Zolltarifvorlage der Deutschen Reichsregierung dieses Nahrungsmittel von jeder Erhöhung der Steuer freigelassen hat. Um so schwerer fällt allerdings der Vorwurf in die Wagschale, den man von solchen Erwägungen ausgehend gegen derartige gesetzliche Bestrebungen erheben muss, dass sie das Brot verteuern, das nächst der Kartoffel dem armen Mann das notwendigste und beste Nahrungsmittel ist, eben weil es das billigste ist. Die sozialen Kämpfe der Proletarier sind immer darauf hinausgegangen, die einfache Kartoffel-Brotkost sich verbessern zu können. Stets und allenthalben sieht der Arme mit Neid auf den Fleischtopf des Reichen! Das Streben nach Verbesserung der Existenzbedingungen, das der Mehrheit der Menschen als eine ihrer schönsten Tugenden, als Ausdruck des instinktiven angeborenen Ehrgeizes zu eigen ist, äussert sich neben dem Verlangen nach Verbesserung in Wohnung und Kleidung hauptsächlich immer in dem Wunsche einer besseren Ernährung. Und die Entwicklung der Nahrung geht überall stets von der einfachen Pflanzenkost zur komplizierteren gemischten Kost vor sich. Das ist ein ganz natürlicher Entwicklungsprozess, der sich nicht nur in der Geschichte des einzelnen Menschen, sondern auch ganzer Völker getreu wiederspiegelt. Kein Beispiel beweist das besser, als dasjenige der Japaner, die mit ihrem Eintritt in die Kulturwelt Fleichesser zu werden beginnen.

Da die Thatsache feststeht, dass die Pflanzenkost nur eine Ernährungsform ist, die aus dem Zwang ungünstiger wirtschaftlicher Verhältnisse hervorgeht, so kann diese Ernährungsform dem Menschen logischerweise nicht als eine zweckmässige oder gar empfehlenswerte hingestellt werden. Bei der staunenswerten Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers an alle Verhältnisse der Aussenwelt kann es nicht wunder nehmen, dass sich einzelne Menschen, Bevölkerungsschichten oder ganze Volksmassen bei solcher Ernährung dauernd zu erhalten vermögen, aber alle Erfahrungen haben bewiesen, dass der Übergang zur gemischten Kost ihnen noch niemals geschadet hat, sondern ihnen fast durchgängig zum Vorteil gereicht hat. Ein Blick auf die Weltgeschichte lehrt unwiderleglich, dass alle Fortschritte der Kultur, der geistigen Entwicklung der Menschheit, der Verbesserungen der Lebensbedingungen von solchen Völkern ausgegangen sind, welche die Fleischnahrung bezw. die gemischte Kost angenommen haben, während die Völker, welche bei Pflanzennahrung haben verharren müssen, über die Anfangsstadien der Kultur, wenigstens nach unseren Begriffen, nicht hinausgelangt sind!


11. Religion.

Die Beziehungen zwischen Religion und Vegetarismus sind so alt wie die Geschichte dieser Bewegung selbst. In der historischen Einleitung dieses Buches ist wiederholt die Rede davon gewesen, in welch intensiver Weise religionsphilosophische Anschauungen in die Motivierung dieser Lebens- und Ernährungsweise hineingespielt haben. Bei der engen Beziehung, die zwischen Ethik und Religion immer besteht — die letztere ist oft nur der Deckmantel für die erstere, sie ist die äussere handlichere Form, um sittliche Anschauungen in die breiten Massen des Volks zu tragen, sie ist gleichsam „angewandte Ethik" —, ist die religiöse Motivierung des Vegetarismus im Grunde genommen nur eine verkappte Form der sittlichen Beweisführung. Religionsvorschriften, welche vegetarische Lebensweise gebieten, sind nicht anders aufzufassen, als Gebote der Sittlichkeit. Die religiösen Sekten, die das Fleischessen verboten haben, haben sich zumeist weniger auf Vorschriften ihres Glaubens, als auf rein ethische Empfindungen dabei gestützt. Es hat in der Geschichte des Vegetarismus mehr als einmal geradezu den Eindruck gemacht, als ob die Vegetarier selbst eine religiöse Gemeinschaft unter sich bildeten. In Manchester gründete sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine Gemeinde unter dem Namen „Bibelchristen", welche auf Grund der Gottesgebote, wie sie in der Bibel zu lesen seien, das Fleisch aus ihrer Nahrung verbannten. Das geschah in England zu einer Zeit, wo auch von anderer Seite her gerade die erste Saat für die Kultur des Vegetarismus gestreut war. So haben sich von Anfang an die Motive die Hand gereicht, welche den Vegetarismus begründen halfen. Das religiöse Moment ist sehr bald etwas in der Hintergrund getreten. Eine Sekte im Sinne einer Religionsgemeinde bilden die Vegetarier heute wohl nirgends mehr, ja es fehlt ihnen überall geradezu ein religiöser Zusammenhang, es sind vielmehr alle Konfessionen unter ihnen vertreten, und man kann ihnen die religiöse Duldsamkeit, die sie im Interesse der Propaganda ihrer Lehre üben, nur zum Ruhme anrechnen! Aber dennoch ist das religiöse Moment noch immer lebendig, und es wird von Zeit zu Zeit noch immer zu Agitationszwecken ausgenützt. Da es aber vor allem aus historischem Grunde auch einer kritischen Würdigung bedarf, so sei mit wenigen Worten darauf eingegangen.

Die Vegetarier haben immer konsequent die Tendenz verfolgt, ihre Lehre jedem mundgerecht zu machen. Es giebt Leute, denen mit wissenschaftlichen Argumenten nicht beizukommen ist, die aber einen starken Glauben besitzen, dessen Überzeugungskraft für sie stärker ist, als jede Logik. Auch für diese haben die Vegetarier Stützen ihrer Lehre gesucht. Es ist daraus eine ganz besondere kleine Gruppe hervorgegangen, die man als „Bibelvegetarier" bezeichnet hat. Mit den Worten der „Heiligen Schrift" suchen sie noch heute zuweilen auf solche gläubigen Seelen einzuwirken. Hat man doch sogar versucht, den Vegetarismus zu einer Sache des Katholizismus zu machen, weil bekannt, dass in dieser Kirche die Werbekraft des reinen Glaubens am meisten Raum für starre dogmatische Anschauungen hat. Das ist indes nicht viel anderes als Gimpelfang; denn wenn es auch noch heute einige Sekten giebt, welche das Fleischessen perhorreszieren, so ist die katholische Kirche im allgemeinen doch von einer derartigen Beschränkung der Lebensweise weit entfernt und hat das Verbot des Fleischessens für einzelne Tage nur als äusseres Zeichen resignierender Askese und Kasteiung eingeführt, ungefähr in demselben Sinne, wie die Juden das vollständige Fasten an ihrem „Versöhnungsfeste". In der Tendenz des katholischen Glaubens ist eine Beschränkung der Lebens- und Ernährungsweise, wie sie der strenge Vegetarismus mit sich bringt, im allgemeinen ganz und gar nicht gelegen; selbst strenggläubige Katholiken sind den Tafelfreuden und den Bacchusgelüsten durchaus nicht abhold, wie man aus den Zechgelagen und Weinkellereien altberühmter Klöster zur Genüge weiss. Aber so wenig wie den Katholizismus können die Bibelvegetarier eine andere Form des Christentums, noch überhaupt irgend eine Religion für sich in Anspruch nehmen. Die Versuche, aus der Bibel eine Berechtigung pflanzlicher Ernährungsweise herauszulesen, sind als missglückt anzusehen. Die Bibel gehört zu jenen erleuchteten Geisteswerken, aus denen man mit wenig Kritik, aber viel Phantasie alles Mögliche herauslesen und hineinlesen kann. Die ungelahrten Kommentatoren unter den Vegetariern haben wahre „Bibelverrenkungen" vorgenommen, um die Worte der „Heiligen Schrift" im Sinne ihres Dogmas deuten zu können. Das, was nicht in ihre Theorie hineinpasst, wird natürlich einfach verschwiegen. In erster Reihe wird immer Christus selbst als Vegetarier seinen Gläubigen zum Vorbild hingestellt. Aber es ist mehr als auffallend, dass dem Bilde und Charakter sowohl des historischen wie des biblischen Christus dieser Zug vollständig verloren gegangen ist! Wäre er ein wesentlicher gewesen, man dürfte sicher sein, dass er unauslöschlich dem Gedächtnis der Nachwelt sich eingeprägt hätte wie alle anderen Eigenheiten im Leben Jesu Christi.

Wie in allem, so hat auch die religiöse Motivierung des Vegetarismus ihre nachhaltigste Begründung durch Eduard Baltzer erhalten. Es entbehrt nicht des Interesses, den Weg zu verfolgen, auf dem Baltzer zur religiösen Verteidigung des Vegetarismus

gekommen ist. Ihn, den Märtyrer der evangelischen Kirche, den religiösen Freidenker, führten nicht religionsphilosophische Betrachtungen zum Vegetarismus, sondern sozialpolitische Reformideen, die von einer freieren Auffassung des ganzen Menschtums eingegeben waren. Erst als er, wie das solchen Männern immer zu gehen pflegt, durch die Orthodoxen in den Verdacht gebracht wurde, dass die freiere Auffassung seines Christentums nur der Ausdruck einer heidnischen Philosophie sei, da hat er mit sittlicher Entrüstung diesen Vorwurf zurückgewiesen und mit der ihm eigenen Gediegenheit des Wissens und Schärfe der Logik dargethan', wie gut sich der Vegetarismus mit einem streng religiösen Glauben vertrage, ja, wie eine gläubige Bibelauffassung geradezu die vegetarische Ernährung vom Menschen fordere. Mit viel Geschick hat er die „Schöpfungsgeschichte" aus dem ersten Buch Moses in ihren beiden Varianten im vegetarischen Sinne zu deuten gewusst. Sowohl aus der Elohim-Urkunde wie aus der Jehova-Urkunde weist er nach, dass für den Menschen der Schöpfung von Gott die Fruchtnahrung befohlen worden ist. Ich halte mich nicht für kompetent, um in eine Kritik dieser Bibelauslegungen einzutreten, zumal sie, wie wir sie sehen werden, für den Endzweck der Deduktion so gut wie nichts beweisen. Nicht versagen kann ich es mir aber, darauf hinzuweisen, dass aus der Bibel im günstigsten Falle nicht mehr zu entnehmen ist. als dass die beiden Menschen des Paradieses allenfalls Fruchtesser gewesen sind. Denn nach dem Sündenfall giebt sich bereits unzweideutig die Zweiteilung der Ernährung zu erkennen in der Verschiedenartigkeit der Opfer, welche die Söhne der Eva ihrem Gotte darbrachten: Kain, der Landwirt, mit Feldfrüchten; Abel, der Schafhirt, aber mit den Erstlingen seiner Herde. Hier ist also auch in der Bibel in allerfrühester Zeit der Entwicklung des Menschengeschlechts der Beginn der Viehzucht bereits verzeichnet. Mit dem Opfer für die Gottheit ist der „Tiermord" gegeben, der später vorbildlich für das Schlachten der Tiere zu Nahrungszwecken geworden ist. Wenn Gott aber diese Opfer als Sühne angenommen hat, dann kann damit nicht der Beweis für eine beginnende Entartung des Menschengeschlechts gegeben sein; denn sonst käme man zu der absurden Zwangsfolgerung, dass der Weltenschöpfer, der nur das Gute wollte, den Mordgedanken in die Seele des Menschen hineingelegt oder ihn wenigstens begünstigt habe! Im Sinne der biblischen Auffassung kann also der Tiermord nicht im Widerspruch zu den Geboten Gottes gestanden haben und stehen!

Übrigens sind sich die Vegetarier zum guten Teil selbst darüber klar geworden, dass das alte Testament keine einwandsfreie Stütze für ihre Auslegungsversuche darbietet, weil sich dort gerade die Entwicklung des Menschen vom Fruchtesser zum Fleischesser in logischer Entwicklung dargestellt findet. Deshalb setzen sie meist mit grösserer Energie beim neuen Testament ein, aus dem sie die Pflanzenkost als das „Evangelium der sittlich und körperlich gebrochenen Menschheit" herauslesen, welche das alte Testament in ihrem Vergehen uns geschildert hat.

Nicht uninteressant ist die geistreiche Methode Gleïzès', aus der Bibelauffassung heraus den Tiermord als einen Übergang zum Atheismus zu stempeln.

„Soll man glauben", sagt Gleizes, „dass Gott den Menschen, das gefühlbegabteste unter allen Wesen, auf die Erde gesetzt hat zur Qual aller übrigen? Das wäre ein Widerspruch mit .der Idee Gottes, der nur glückliche Wesen schaffen wollte und deshalb ist es eine Verleugnung Gottes, diesen Grundsatz zu vergessen."

Gleïzès beruft sich bei dieser Beweisführung aber merkwürdigerweise auf den Ausspruch des heidnischen Sokrates: „Je massiger man isst, desto mehr nähert man sich den Göttern, die nichts nötig haben." Der Vergleich der Menschen mit den Göttern, selbst des heidnischen Griechenlands, ist leider ein recht unglücklicher ; denn die Menschen leben nicht im Himmel und haben nicht die Machtvollkommenheit der Götter, die da nehmen, was sie nicht bekommen, und auch Fleischkost nicht verschmäht haben, wenn sie ihnen in Gestalt von Opfern von den bösen Menschen dargebracht wurde. Wenn die Götter den Tiermord als etwas Sündhaftes, Natur- und Menschenwidriges angesehen hätten, dann hätte ihnen der weise Pythagoras nicht gleich eine ganze Hetakombe Ochsen dargebracht! Fast könnte es danach scheinen, als ob die wohlfeilere Kost der Fleischnahrung nur für die Götter gut genug war, während sich der armselige Erdenbewohner mit der dürftigeren Pflanzenkost begnügen sollte.

Doch kehren wir nach dieser Abschweifung von der Mythologie der Heiden zur „Heiligen Schrift" der Gläubigen zurück, so verdient noch darauf hingewiesen zu werden, dass doch selbst die für die Vegetarier günstigste Auffassung der Bibel im Sinne der historischen Kritik, welche die moderne theologische Wissenschaft einzig und allein gelten lässt, den Menschen der Schöpfung als einen Fruchtesser nur im ersten Beginne seiner Entwicklung uns zeigt. „Naturgemäss" war diese Nahrung eben nur für den Menschen des Paradieses, für den Menschen im Urzustand einer ihn umgebenden unberührten Natur. Die Bibel ist ein patriarchalisches Schriftstück, welches uns nur den Menschen in der ersten Stufe seiner Entwicklung zeigt. Die historische Kritik dieses Schriftwerkes muss jeden unparteiischen Forscher gerade zu den entgegengesetzten Schlussfolgerungen führen, als die Vegetarier daraus entnommen haben. Denn gerade die „Heilige Schrift" lässt erkennen, dass sich der Mensch unter den Augen Gottes aus einem Fruchtesser zu einem Fleischesser gewandelt hat. Nirgends findet sich ein Anhaltspunkt dafür, dass Gott das Fleischessen als eine Sünde betrachtete, auf die er Strafe gesetzt hätte. Die Bibel ist also nur ein schlechter Trost für die Vegetarier, wenn sie sie nicht nach dem Buchstaben, sondern mit dem Geiste lesen.


II. Teil.

Der Wert der vegetarischen Diät für die Krankenernährung.

,,Au point de vue anthropologique et physiologique l'homme est omnivore et peut, selon les climats et selon les nécessités, vivre soit d'un régime carné, soit d'un régime mixte, soit d'un régime végétarien, au point de vue thérapeutique, ce dernier régime appliqué dans nos climats constitue nne médication très importante, qui s'impose dans un grand nombre de cas."

Dnjardin-Beaumetz (1890).

Schon in der ältesten Geschichte des Vegetarismus lässt sich mehrfach mit Bestimmtheit erkennen, dass unter den praktischen Erwägungen, welche in jenen Zeiten zur Empfehlung dieser Ernährungsweise geführt haben, oft die Rücksichten auf die Wiedergewinnung verloren gegangener Gesundheit massgebend gewesen sind. Von den Weltweisen des Altertums hatte insbesondere Pythagoras, wie wir bereits oben an der Hand der kritischen Analyse seiner Schriften durch Cocchi nachgewiesen haben, diesen Gesichtspunkt mit in erster Reihe im Auge. Ihm war die vegetarische Diät nicht nur ein Schutzmittel, sondern auch ein Heilmittel gegen Krankheiten. Diese Anregung des „Alten von Samos" ist auch unter den Priestern des Äskulaps nicht ohne Früchte geblieben. In der Geschichte der Medizin, die so überaus reich an Strömungen, Gegen-und Unterströmungen ist, zieht sich auch der Gedanke an eine therapeutische Verwertung der Pflanzenkost wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte, allerdings ein recht dünner Faden, der oftmals abgerissen ist und nur mit Mühe wieder aufgefunden werden kann. Gleichviel, läge nicht ein brauchbarer guter Kern in der Idee, so würde sie sich nicht durch eine ungezählte Reihe Generationen von Ärzten hindurch erhalten und in den Köpfen so vieler und nicht immer der schlechtesten wieder neu erstanden sein. Der beste Beweis dafür, dass etwas Gutes an dieser Idee sein muss, ist die Thatsache, dass selbst in der Zeit der modernen Heilkunde, welche auf der Basis naturwissenschaftlicher Forschung und strenger analytischer Kritik erwachsen ist, der Gedanke an eine therapeutische Verwertung der Pflanzendiät nicht zur Ruhe gekommen ist, sondern im Gegenteil in der Ära der diätetischen Therapie, welche der neuesten Entwicklung der praktischen Heilkunst den Stempel aufdrückt, im erweiterten Umfange ausgebaut wird. Es ist in allen Kultursprachen in den beiden letzten Jahrzehnten eine Reihe kleinerer und grösserer, teilweise sogar monographischer Schriften aus der Feder ernst zu nehmender wissenschaftlicher Ärzte erschienen, welche den Beweis dafür erbringen, dass die vegetarische Diät nicht aufgehört hat, das Interesse derjenigen Ärzte zu finden, welche mitten im praktischen Leben stehen und wie alle guten Politiker des Lebens unparteiisch und vorurteilsfrei das Gute, wo sie es finden, nehmen. In der Heilkunst entscheidet im letzten Grunde nicht das wissenschaftliche Raisonnement, nicht das Tierexperiment oder die chemische Analyse, sondern einzig und allein die geläuterte Empirie. Die praktische Heilkunde ist reich an Beispielen dafür, dass die Wissenschaft für ihre Erfahrungen keine hinreichende Erklärung zu geben vermag. Kein Praktiker wird darum aber auf die Anwendung irgend einer Heilmethode Verzicht leisten wollen, weil sie nach dem jeweiligen Stande der Wissenschaft nicht genügend plausibel oder exakt begründet erscheint.

Wenn, wie in dem Kapitel „Physiologie" eingehend auseinandergesetzt ist, die vegetarische Ernährungsweise für den gesunden Menschen wohl eine mögliche und zur Not ausreichende Kost ist1), aber als eine unnötige, überflüssige und unzweckmässige Erschwerung der Ernährung erscheint, so können diese Nachteile in den Hintergrund treten und vollständig verschwinden in der Frage der Krankenernährung, wo zumeist ganz andere Interessen entscheidend sind, als die ausschliessliche Nahrungszufuhr zur Aufrechterhaltung der gewohnten Lebensweise.

1) Sie darf deshalb auch nicht als eine „Unterernährung" bezeichnet werden, wie dies neuerdings auch noch Kolisch gethan hat. Eine solche „Unterernährung" wird nur dadurch vorgetäuscht, dass die Vegetarier mit einer geringeren Kalorienzahl als andere Menschen ihren Körper zu unterhalten vermögen und zwar deshalb, weil sie gelernt haben, ihren Organismus auf ein kleineres Nahrungsbedürfnis „einzustellen", wie dies jeder gesunde, namentlich aber ein kranker Mensch unter ungewohnten Verhältnissen wohl imstande ist. Denn der menschliche Körper besitzt ein ausserordentliches Anpassungsvermögen, das ihn auch in Tagen der Not über Wasser hält.

Für den Kranken tritt die Frage einer möglichst reichlichen Ernährung, die in gesunden Tagen sich als ein selbstverständliches Erfordernis ergiebt, vollkommen in den Hintergrund gegenüber der Aufgabe, eine Kost zu finden, bei welcher die Heilung des jeweilig vorliegenden Krankheitszustandes am leichtesten von statten geht. Für den Kranken kommt vor allen Dingen nicht die Forderung nach einer vollkommenen Befriedigung des Kalorienbedürfnisses in Betracht, zumal dasselbe bei Bettruhe schon an und für sich etwa um 1/3 der Norm bei jedem Individuum herabgesetzt ist. Gewisse Krankheiten erfordern zu ihrer Heilung eine mehr oder minder erhebliche Herabsetzung der Nahrungszufuhr, andere wiederum erheischen das Gegenteil. Manche Krankheitszustände fordern gebieterisch den Ausschluss sehr nahrhafter wertvoller Nahrungsmittel, andere wiederum gestatten nur die Zufuhr einer relativ kleinen Menge in möglichst konzentrierter Form und Volumen. Die Grundsätze der Krankenernährung lassen sich deshalb nicht ohne weiteres aus den Gesetzen der Ernährungsphysiologie ableiten, und für den kranken Menschen giebt es bisher noch viel weniger eine streng wissenschaftliche Diätetik, als für den gesunden.1)

1) Die Diätetik ist übrigens viel älter, als die Wissenschaft von der Ernährungsphysiologie !

Während der letztere seine Ernährung zu allen Zeiten und in allen Ländern meist unbewusst gefunden hat, hat die Heilkunde für die Ernährung der Kranken, anfangs vollständig auch im Finstern tappend, erst allmählich aus ihren Erfahrungen heraus eine Summe von Grundsätzen gewonnen, die im grossen und ganzen jetzt allgemeine Giltigkeit gefunden haben, wenngleich nicht zu verkennen ist, dass auf einzelnen Gebieten der Diätetik die Ansichten der Ärzte zuweilen noch weit auseinander gehen. Die wissenschaftliche wie die praktische Krankendiätetik ist reich befruchtet mit Ideen, die aus Laienkreisen (so z. B. auch von Kranken selbst, von Frauen u. dgl.) gekommen sind. "Wer nur das Wahre und das Gute will, wird kein Bedenken tragen, es anzunehmen, selbst wenn es mit der Theorie einstweilen noch nicht in Einklang stehen sollte. Das Interesse des Kranken stellt nur die eine Forderung, dass das als neu Empfohlene sich auch wirklich bewährt hat. Es kann deshalb für wissenschaftliche Ärzte kein ernstes Bedenken sein, die vegetarische Diät in die Reihe ihrer Heilmethoden aufzunehmen, weil sie bisher hauptsächlich von Laienärzten, Naturheilkundigen und anderen Kurpfuschern als ihre eigenste Domäne betrachtet und benutzt worden ist. Die vegetarische Diät wird sich ihren Platz in der wissenschaftlichen Heilkunst genau in derselben Weise bahnen müssen, wie dies neuerdings dem Wasserheilverfahren und anderen physikalischen Behandlungsmethoden erfolgreich gelungen ist. Wenn die Erkenntnis von dem Wert der vegetarischen Kost für die Krankenernährung erst zum Durchbruch in der ärztlichen Welt gelangt sein wird, dann wird auch dieses Heilmittel den Händen der Kurpfuscher entrissen werden und damit den Schein einer Sonderstellung unter den anerkannten Hilfsmitteln der praktischen Heilkunst verlieren. Die vegetarische Diät ist nicht mehr und nicht minder als ein Glied in der Kette der physikalisch-diätetischen Heilmethoden, welche die wissenschaftliche Medizin jetzt mehr denn je zu schätzen weiss. Wenn die Ärzte, von dem Zwange altersgrauer Traditionen und zünftiger Schulmeinung befreit, erst einmal angefangen haben werden, unbefangen in die Prüfung der vegetarischen Diät als Krankenkost einzutreten, dann werden sie auch die günstigen Erfahrungen in mehr oder weniger weitem Umfange bestätigen, welche bisher alle damit gemacht haben, die den Mut zum Anfang gehabt haben. Die kritische Anwendung dieser Diätform durch wissenschaftlich ausgebildete Ärzte schützt sie vor dem Fehler der Kurpfuscher, sie als eine Panacee auszugeben! Alle wissenschaftlichen Autoren auf diesem Gebiete haben sich auch bisher durchaus darauf beschränkt, die Anwendung der vegetarischen Diät bei einer kleinen Reihe von Krankheitszuständen zu empfehlen, bei denen sie sich auch für den sorgfältigsten und objektivsten Beurteiler bewährt hat. Unter den Befürwortern einer vegetarischen Diät bei gewissen Krankheiten befinden sich auch in neuester Zeit wissenschaftliche Autoritäten von erstem Range, wie z. B. Dujardin-Beaumetz-Paris, v. Ziemssen-München, Fr. Hoffmann-Leipzig, Rumpf-Bonn und viele andere, denen der Vorwurf unkritischer oder einseitiger Anwendung gewiss nicht gemacht werden wird.

Unter „vegetarischer Diät" soll in den folgenden Auseinandersetzungen nicht jene Haferschleim- und Milchsuppenernährung u. dgl. verstanden sein, welche für Fieberkranke und überhaupt Schwerkranke, bettlägerige Personen seit den ältesten Zeiten der praktischen Heilkunst und auch in der Volksmedizin immer Verwendung gefunden hat. Dass eine derartige flüssige Kost deshalb bevorzugt wird, weil sie von den geschwächten Verdauungsorganen solcher Kranken am leichtesten vertragen und am besten ausgenutzt wird, ist so sehr zum allgemeinen Bewusstsein nicht nur der Ärzte, sondern, wie eben schon erwähnt, auch des Volkes von alters her gekommen, dass es sich nicht lohnt, überhaupt noch ein Wort darüber zu verlieren.

Als „vegetarische Krankendiät" soll vielmehr nur jene Ernährungsform bezeichnet werden, welche in der ausschliesslichen oder vorwiegenden Verwertung der verschiedenen Körner-, Hülsen-, Obst-und Samenfrüchte und Gemüse in zweckmässiger Form besteht. Die Verwendung dieser Vegetabilien soll nämlich im allgemeinen gar nicht im Stile der Rohkostler geschehen, sondern vielmehr in küchengemässer sorgfältiger Zubereitung. Es bleibt darum doch vegetarische Diät! Vom physiologischen Gesichtspunkte aus erscheint es sogar rationell, die Vegetabilien nur in gekochtem Zustande zu gemessen, weil, wie im Kapitel VI auseinandergesetzt worden ist, ihre Ausnutzbarkeit dadurch sehr wesentlich erhöht wird. Diesen Gesichtspunkt möchte ich als den wichtigsten gerade in den Vordergrund der Erörterung treten lassen; denn durch diese zweckmässige Gestaltung vegetarischer Ernährung vermeidet man den hauptsächlichsten ihr anhaftenden Fehler, zu grosse Nahrungsmengen einführen zu müssen, um den Kalorienbedarf, d. h. das Nahrungsbedürfnis des Körpers zu decken. Durch die gehörige Aufschliessung der Kohlehydrate, wie sie durch das Kochen erfolgt, durch die Verabreichung der Vegetabilien in Suppen-, Brei- bezw. Musform u. dgl. m. wird der in diesen Nahrungsmitteln haftende Wert so vollkommen ausgenutzt1), dass er eben zur Befriedigung der notwendigen Kalorienzufuhr ausreicht.

1) Neuerdings noch wiederum hat der bekannte Würzburger Hygieniker K. B. Lehmann durch experimentelle Untersuchungen bestätigt, dass (sogar im Reagenzglas!) die Verdauungsfähigkeit aller Nahrungsmittel, insbesondere auch der pflanzlichen, durch Zerkleinerung und breiförmige Verteilung wesentlich verbessert wird. Dies muss sich gerade die Krankenernährung zu nutze machen!

Bei einer derartig zweckmässigen Gestaltung der vegetarischen Krankenkost wird deshalb der häufig gemachte Einwand hinfällig, dass diese den Magendarmkanal eines Kranken viel zu sehr belästige. Die von der Celluloseschicht befreiten eiweisshaltigen vegetabilischen Nahrungsmittel stehen, wenn sie in den Zustand feiner Verteilung gebracht worden sind, hinsichtlich ihrer Resorptionsgrösse hinter animalischen Nahrungsmitteln wenig oder gar nicht zurück. Auch das Fett wird in ihnen (z. B. in Nüssen, wenn sie, von der Oberhaut sorgfältig befreit, in gut zerkleinertem und zerstampftem Zustande genossen werden), dadurch ebenso leicht und ebenso vollkommen assimiliert, wie irgend ein tierisches Fett. Es gehört also nur die nötige Kenntnis dieser Einzelheiten der Ernährungsphysiologie und die Beherrschungder Krankenküche dazu, um die vegetarische Kost zu einer relativ recht leicht verdaulichen und gut ausnutzbaren zu machen, die der Fleiseh- und Eiweissnahrung überhaupt gegenüber keinen erheblichen physiologischen und diätetischen Nachteil hat. Selbst wenn dies aber in einzelnen Fällen doch noch der Fall ist, so ist dabei immer zu berücksichtigen, dass es sich um die Ernährung von Kranken handelt welche an und für sich und zumal infolge der Bettruhe ein vermindertes Nahrungsbedürfnis haben und selbst eine etwas verminderte Nahrungszufuhr in Kauf nehmen müssen, wenn sie dafür eine Kost eintauschen, die zur Heilung ihrer Krankheit beiträgt, oder dieselbe wenigstens leichter zustande kommen lässt.

Wenn ich deshalb der vegetarischen Diät im allgemeinen in küchengemässer Verarbeitung das Wort rede, so ist doch zu berücksichtigen, dass für gewisse Krankheitszustände eine derartige technische Fürsorge nicht nötig, ja nicht einmal erwünscht erscheint. Bei gewissen Krankheiten ist nämlich die derbe vegetarische Kost, sogar teilweise in rohem Zustande genossen, gerade besonders indiziert, wie noch später eingehender dargelegt werden wird. In diesen Fällen aber kann ein etwaiger Verlust an Nährwert durch nicht resorbierbares Eiweiss bezw. Fett mit Leichtigkeit durch eine quantitative Zulage ausgeglichen werden.

In dem Wort „vegetarische Krankendiät" ist der Begriff einer nur zeitweisen Anwendung derselben von vornherein eingeschlossen. Sie ist keine allgemein giltige Ernährungsform, wie sie von den Vegetariern für jedermann, Gesunde und Kranke, empfohlen wird, sondern im wissenschaftlichen Sinne ist sie nur eine Diät für einen Menschen während der Dauer seiner Krankheit oder selbst nur bis zum Zeitpunkte des Eintritts einer Besserung — eine Diät, die eine in sich geschlossene Einheit darstellt, wie viele andere Diätformen, von denen die Heilkunde für gewisse therapeutische Zwecke Verwendung macht, wie z. B. die Milchdiät, ferner die Fleisch-Fettdiät bei Zuckerkranken, die fleisch- und alkoholfreie Diät bei der Gicht, die fett- und kohlehydratarme Diät bei der Fettleibigkeit u. dgl. m. Auch von diesen Diätformen macht der Arzt immer nur einen zeitweisen Gebrauch, weil er der Überzeugung ist, dass die dauernde Durchführung einer derartigen beschränkten Ernährung nicht nur unnötig, sondern sogar nachteilig unter gewissen Umständen sein kann oder überhaupt unmöglich ist. Ganz dasselbe gilt von der vegetarischen Diät. In der Mehrzahl der Fälle wird eine 4 bis 6 bis 8 wöchentliche Anwendung dieser „Diätkur"1) ausreichend sein, um die gewünschten Veränderungen im Ernährungszustande resp. der Besserung des in Frage stehenden Krankheitszustandes herbeizuführen.

1) Als „vegetarische Diätkuren" dürfen aber nicht Obstkuren, Traubenkuren u. dgl. bezeichnet werden, die neben gewöhnlicher Ernährung zur Anwendung kommen.

Aber auch einer länger dauernden Anwendung dieser Kost stehen, wenn sie sich einmal als notwendig erweisen sollte, keine prinzipiellen Bedenken entgegen, wenn sie nur den oben ausführlich auseinandergesetzten Grundsätzen der Ernährungsphysiologie genügt. Auf Grund meiner eigenen Erfahrungen kann ich allerdings nicht leugnen, dass es mir ratsam erschien, bei länger dauernder vegetarischer Ernährung eines Kranken grössere Vorsicht auf die Deckung des Kalorienbedarfs bezw. Erhaltung des Körpergewichts zu verwenden, während man bei kürzeren Diätkuren schon einmal getrost eine leichte Unterernährung in den Kauf nehmen könnte, wenn man dafür eine Gesundung des Gesamtorganismus oder speziell z. B. des Verdauungskanals eintauscht. Die Überernährung bezw. Mästung eines Genesenen pflegt dann selten bei sachverständiger und energischer Leitung einer derartigen Kur Schwierigkeiten zu machen, und daher kann der geringe Gewichtsverlust einer nur kurze Zeit andauernden Unterernährung fast stets in ebenso kurzer oder noch kürzerer Zeit wieder ausgeglichen werden. Doch will ich ausdrücklich bemerken, dass ich Körpergewichtsabnahmen bei vegetarischen Diätkuren unter vielen Hunderten nur in einigen wenigen Fällen entstehen sah, die auf Lässigkeit und falsche Auffassung der Kranken selbst zurückzuführen waren.

Für eine gewisse Reihe von Krankheitszuständen, die später einzeln Erwähnung finden sollen, ist die Anwendung der vegetarischen Kost ohne jede weitere Ergänzung aus einem anderen Bereiche der Nahrungsmittel möglich und empfehlenswert. Dagegen erscheint es zweckmässig, bei gewissen Krankheiten, und namentlich bei gewissen Kranken, die vegetarische Diät nicht in jener ausschliesslich strengen Form zur Anwendung zu bringen, welche, wie früher auseinandergesetzt, vom physiologischen Gesichtspunkt aus einzig und allein als eine wirkliche Pflanzenkost gelten kann, sondern vielmehr in jener milderen Form, in der sie von dem Alltagsvegetarier aufgefasst und benutzt wird: nämlich in der Kombination hauptsächlich mit einem tierischen Nahrungsmittel, der Milch. Diese gemischte Ernährungsform, die in neuerer Zeit den Namen „lakto-vegetabile Diät" erhalten hat - - eine Bezeichnung, die sich übrigens seit meiner lebhaften Befürwortung derselben in der wissenschaftlich-medizinischen Litteratur auffallend schnell einzubürgern beginnt! - - soll nicht im Sinne einer Milch- und Mehlsuppendiät u. dgl. verstanden sein, wie sie in der Kranken- und Kinderernährung seit alters her üblich ist, sondern vielmehr als eine Kost, welche sich bei gleichzeitiger ergänzender Verwendung der Milch in der Hauptsache aus der reichen, bunten Flora der pflanzlichen Nahrungsmittel in mannigfacher Kombination in roher Form oder küchengemässer Zubereitung zusammensetzt. Die Grosse der Milchzulage wird vom Ermessen des Arztes im Einzelfalle abhängen und von einem Viertel- bis zu einem ganzen Liter schwanken können. Statt der Milch wird noch zweckmässiger die Sahne ihres höheren Fettgehaltes wegen zur Ergänzung dienen können, dagegen ginge es schon vollkommen über den Rahmen der laktovegetabilen Diät, wie sie sich in der Krankenernährung bewährt hat, hinaus, wenn man zur Milch bezw. Sahne auch noch Eier und Käse hinzufügen wollte, welche ja in der Kost des Durchschnittsvegetariers auch zu figurieren pflegen. Nur den sogenannten Quark, Topfkäse u. dgl. auch vielfach genannt, empfehle ich in einzelnen Fällen noch hinzunehmen, weil er ein ebenso wertvolles wie angenehmes und leicht verdauliches Nahrungsmittel bildet. Als Ergänzung kann schliesslich auch noch die Butter als ein tierisches Produkt derselben Quelle gelten, weil sie ihres hohen Fettgehaltes wegen besonders geeignet ist, die Deckung des Kalorienbedürfnisses des Körpers zu garantieren.

Die Zuthat aller dieser ebengenannten tierischen Nahrungsmittel zur vegetarischen Kost ist nur da notwendig, wo schon eine Unterernährung vorhanden ist und durch eine Ernährungsform, die zumeist keinen erheblichen Überschuss bietet, wie die vegetarische, noch leicht gesteigert werden könnte. Die Zuthat von Milch oder Sahne und Butter soll also mehr ein Sicherheitsventil sein, als sie unbedingt notwendig erscheint. Ihre Verwendung ist deshalb öfter ratsam, weil vielfach gerade diejenigen Krankheitszustände, bei denen sich die vegetarische Diät als heilsam erweist, mit Unterernährung einhergehen, z. B. die nervösen Verdauungsstörungen, insofern sie nämlich eine Verringerung des Appetits und Verminderung der Nahrungsaufnahme im Gefolge haben. In solchen Fällen wirkt die vegetarische Diät heilsam und die Milchzuthat gleichzeitig mästend, die Ernährung aufbessernd. In zahlreichen Fällen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die laktovegetabile Diät auf diese Weise gleichzeitig zwei Indikationen genügt, während es bei streng vegetarischer Diät nur schwerer möglich ist, einen unmittelbaren Ansatz im Körper und Gewichtsvermehrung zu erzielen. Die Kombination der pflanzlichen Nahrungsmittel mit der Milch darf darum aber noch nicht mit der gemischten Kost kurzweg identifiziert werden, welche der Kulturmensch zu essen gewohnt ist. Denn, wie in dem Kapitel „Physiologie" eingehend auseinandergesetzt worden ist, bestehen doch hinsichtlich der chemischen Zusammensetzung und der physiologischen Wirkung ihrer Bestandteile zwischen der Milch und ihren Produkten einerseits und dem Fleisch andererseits recht erhebliche und grundsätzliche Unterschiede. Die Heilpotenz der laktovege-tabilen Diät besteht denn auch in der That, wie ich auf Grund meiner Erfahrungen behaupten möchte, zum grossen Teil in dem Fehlen der Fleischnahrung, deren Reiz, namentlich wenn sie in grösserer Menge genossen wird, auf Kranke, z. B. bei Nierenentzündungen und bei neurasthenischen Zuständen verschiedenster Art, bei funktionellen Neurosen der inneren Organe, sich viel stärker geltend macht, als auf Gesunde. Die Ausschaltung dieses Reizes übt augenscheinlich einen günstigen Einfluss auf das ganze Nervenleben und die dadurch bedingte Funktion aller Gewebe und Organe des Körpers.

Vielleicht ist damit bereits eine Erklärung für das Zustandekommen der günstigen Wirkung der vegetarischen Diät bei gewissen Krankheitszuständen gegeben. Aber im allgemeinen fehlt es uns bislang doch an wissenschaftlich anzuerkennenden Gründen für das Verständnis einer derartigen Wirkung, wie das uns ja bei vielen anderen therapeutisch bewährten Methoden ebenso ergeht. Deshalb will ich die folgenden Erklärungsversuche nur als Hypothesen betrachtet wissen, für welche die wissenschaftliche Forschung in Zukunft noch ausreichende Stützen zu suchen haben wird.

Es giebt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die Wirksamkeit einer vegetarischen Diät verständlich zu finden:

1. Der schon oben erwähnte Ausfall des Reiz es der Fleischbasen und der ihnen verwandten Xanthinkörper (Harnsäure und ihre Derivate), welcher nicht nur die erregten Nerven zur Ruhe kommen und damit genesen lässt, ihre Funktionen wieder stärkt und in geregelte Bahnen lenkt, sondern auch geschwächte Organe schont und möglicherweise dadurch den Zellchemismus, den Gesamtstoffwechsel des Organismus, direkt beeinflusst. Denn die Abhängigkeit nicht nur der anatomischen Integrität der Zellen, sondern auch ihrer Funktion von der Art der Ernährung ist durch zahllose Erfahrungen der physiologischen und pathologischen Chemie, der Stoffwechselpathologie sichergestellt. Leider kennen wir den Abbau der Nahrungsstoffe und die Zwischenprodukte auch des normalen Stoffwechsels noch viel zu wenig, um den Einfluss einer veränderten Ernährung in den Details des Chemismus der Zellen kontrollieren zu können. Die Annahme ist aber wohl berechtigt, dass durch eine grundsätzliche Änderung der Art der Nahrung auch wesentliche Veränderungen in den chemischen Produkten der Zelle hervorgerufen werden. Gerade zahlreiche Erfahrungen der diätetischen Therapie weisen darauf hin.

2. Die vegetarische Diät wirkt durch die eben erörterte Veränderung des Zellchemismus und der Stoffwechselzwischenprodukte in manchen Fällen gleichsam antitoxisch, d.h. entgiftend, und zwar bei solchen Krankheiten, deren Wesen neuerdings vielfach in einer endogenen Vergiftung des Organismus durch seine eigenen Stoffwechselprodukte erblickt wird. Das sind meist intermediäre Substanzen des Stoffwechsels, die unter normalen Verhältnissen weiter abgebaut, umgewandelt, gebunden oder durch sonst irgend einen chemischen Prozess beseitigt und unschädlich gemacht werden. Aber unter gewissen pathologischen Verhältnissen gelangen sie unzersetzt und unverändert in den Kreislauf, wirken von dort aus gleichsam als Gifte auf das Blut, die Nervenzellen und zahlreiche innere Organe, deren anatomische und funktionelle Integrität dadurch beinträchtigt oder aufgehoben wird. Die Anschauungen über die Wirkungen derartiger autochthoner Giftsubstanzen des Körpers machen die Lehre von den „Autointoxikationen" aus, welche in der modernen Klinik aller Sprachen einen immer breiteren Baum gewonnen hat. In der Therapie solcher Autointoxikationen spielt deshalb allenthalben auch die Empfehlung der vegetarischen Diät eine hervorragende Rolle. Als Beispiel dafür sei nur die von vielen neueren Autoren betonte toxische Natur der Ischias, z. B. als Folge des Diabetesgiftes erwähnt; auch die Neurasthenie wird von ernsthaften, namentlich französischen Autoren, ja als eine sekundäre Nervenerkrankung betrachtet, deren primäre Störung in abnormen Stoffwechselvorgängen, in qualitativ veränderter Blutmischung zu suchen ist. Die Möglichkeit, dass hier grundsätzliche Änderungen der Ernährungsform die gesetzten Anomalien im Zellchemismus, im Gesamtstoffwechsel, in der Blutmischung und in den Nervenfunktionen wieder rückgängig machen können, ist nicht von der Hand zu weisen.

3. Ebensowenig bewiesen, wenn auch in gleichem Masse oder sogar vielleicht noch etwas mehr wahrscheinlich gemacht ist die weitere Annahme, dass die Wirksamkeit der vegetarischen Diät zum guten Teil auf ihren reichen Gehalt an Mineralsalzen beruhe, die man in neuerer Zeit vielfach mit dem leicht missverständlichen Ausdruck „Nährsalze" belegt hat. Dieser von Just v. Liebig stammende Ausdruck ist leider durch seine Verallgemeinerung (insbesondere durch den bekannten Dr. Lahmann) und die industrielle Ausnutzung desselben viel missbraucht worden. Im Sinne der Kalorienlehre kommt den Mineralsalzen nicht der geringste Nährwert zu, und sie lassen sich deshalb mit den wirklichen Nahrungsstoffen überhaupt nicht vergleichen. Die neueren Forschungen auf dem Gebiete der physikalischen Chemie haben indes in ihrer Übertragung auf die Gesetze der Biologie und speziell der Physiologie es sehr wahrscheinlich gemacht, dass die Mineralsalze einen indirekten Einfluss für die Ernährung haben, insofern sie durch den Molekularaustausch in den aufsaugenden Drüsenkanälen des Magens und Darms einen Einfluss auf die Resorption der Nahrung ausüben. Die Mineralsalze ändern den osmotischen Druck der Gewebssäfte in mehr oder minder starkem Maasse und vermögen auf diese Weise die Assimilation der eigentlichen Nahrungsstoffe zu fördern bezw. zu hemmen. Insbesondere haben die Untersuchungen von Koppe, Engelmann, Grube, Dünschmann, Nagelschmidt und anderen eine solche Beeinflussung der Resorptionsvorgänge im Magendarmkanal durch die molekulare Konzentrationen der in den Nahrungsmitteln enthaltenen Salzlösungen im höchsten Grade wahrscheinlich gemacht. Nun sind zwar auch die animalischen Nahrungsmittel durchaus nicht arm an Mineralsalzen aller Art, aber es scheint doch in der Hauptsache auf das quantitative Verhältnis der einzelnen Mineralsalze und ihrer Bestandteile untereinander anzukommen! Wir wissen heute bereits mit Sicherheit, dass die Wirkung mancher chemischer Prozesse im Körper auf dem Vorhandensein bezw. Auftreten von gewissen freien Ionen, z. B. von H, Cl, J u. dgl. beruht. Das Freiwerden solcher lone ist aber zum grössten Teil abhängig von der Art der Bindung, in der die Mineralsalze in den Nahrungsmitteln enthalten sind. Nach Köppe ist diese Bindung in den animalischen Nahrungsmitteln aber vielfach eine andere, als in den vegetabilischen, sodass die Verschiedenheit der Ausnutzung und der Wirkung der Mineralsalze bei diesen verschiedenen Gruppen von Nahrungsmitteln plausibel erscheinen könnte.

„Ein Unterschied zwischen animaler und vegetabiler Kost liegt darin, dass in den Pflanzen, besonders den grünen, jüngeren, die unorganischen Salze meist in organischer Bindung vorkommen, während die animalischen Flüssigkeiten einen hohen Gehalt an freien Ionen haben, wie die Leitfähigkeitsbestimmungen beweisen. Es ist also nicht so sehr der Unterschied an Kali- und Natronsalzen, als an neutralen Molekülen und Ionen, der das Bedürfnis nach unorganischen Salzen bedingt. Fehlen die Natronsalze in unorganischer Form, so wird mit Kaliverbindungen gesalzen, wenn diese nur Ionen bilden, d. h. unorganisch gewonnen wurden, nicht in organischer Bindung."

Auf diesem Gebiete ist indes die Forschung erst in ihrem Beginn und es ist deshalb nicht angängig, eine derartige Hypothese bereits als wissenschaftliche Begründung gelten lassen zu wollen.

Soviel steht aber fest, dass wir gewisse für Heilzwecke sehr vorteilhafte Mineralsalze aus pflanzlichen Nahrungsmitteln viel leichter und reichlicher beschaffen können, als aus tierischen Produkten; so ist z. B. das Eisen aus dem Spinat viel reichlicher auszuwerten, als selbst aus der Milch, geschweige denn anderen animamalischen Nahrungsmitteln. Auch sind die Vegetabilien viel reicher an Salzen organischer Säuren, welche unter Umständen der übermässigen Säurebildung im Körper Einhalt zu thun vermögen. Andererseits ist die Chlorarmut derselben sehr bemerkenswert und erscheint wohl imstande, die chemische Zusammensetzung von Blut und Gewebssäften zu beeinflussen.

Die Verwertung der Mineralsalze der vegetabilischen Nahrungsmittel kommt besonders zur Schätzung bei der Benutzung von frischem grünen Gemüse und frischem Obst, auf welche deshalb mit Recht alle diejenigen einen besonderen Wert zu legen pflegen, die über Erfahrungen auf diesem Gebiete der diätetischen Therapie verfügen. Konserviertes und gedörrtes Obst hat weder für den Gesunden, geschweige denn für den Kranken denselben Nähr- und Heilwert, als das frische. In manchen Fällen ist überhaupt auf Gemüse und Obst ein grösserer Wert zu legen, als auf die übrigen vegetabilischen Nahrungsmittel, z. B. die Körner- und Hülsenfrüchte. Es scheint, als ob es in diesen Fällen weniger auf den reichen Gehalt der Vegetabilien an Kohlehydraten, als an Mineralsalzen ankommt. Einstweilen aber entzieht sich noch vollständig unserer Beurteilung, wie gross im allgemeinen der Anteil der beiden Faktoren zu einander an den günstigen therapeutischen Einflüssen der vegetarischen Kost ist.

4. Auf viel sicherem Boden bewegt sich die Erklärung einer der ältesten Thatsachen der vegetarischen Diät, die bisher auch von keiner Seite jemals ernstlich bestritten worden ist, vielmehr auch in solchem Masse als wissenschaftliches Dogma gilt, dass sie bereits in alle Lehrbücher der Medizin übergegangen ist: das ist nämlich die Heilwirkung der Pflanzenkost bei chronischer Darmschwäche bezw. Stuhlverstopfung. Hier bietet die Art der Wirkung der Pflanzennahrung gar keine Schwierigkeit: es ist die grosse Masse der nicht ausgenutzten, nicht resorbierten cellulosehaltigen Nahrungsreste und die durch die Gärung der Kohlehydrate hervorgerufene starke Entwicklung von Säuren und Gasen, welche die Darmperistaltik anregen und die Kotmassen vorschieben.

5. Nicht unerwähnt bleiben soll noch eine letzte Annahme, gerade, um gewissen Einwänden von vornherein zu begegnen, nämlich die Vermutung, dass die Heilwirkung der vegetarischen Diät bei Neurasthenie und anderen funktionellen Neurosen auf Suggestion beruhen könnte, welche durch diese schroffe Änderung der Ernährung auf die Kranken ausgeübt wird. Unmöglich erscheint diese Annahme gewiss nicht und trifft für manche Fälle auch sicherlich zu, da es bekannt ist, dass die Seelenstimmung nervöser Individuen durch allerlei Faktoren, wenn sie mit dem nötigen Geschick und Nachdruck ihnen vorgetragen werden, beeinflusst werden kann. Gerade bei nervösen Verdauungsstörungen habe ich oft derartige Beobachtungen zu machen Gelegenheit gehabt. Ein Beispiel statt vieler: Unvergesslich wird mir ein Patient bleiben, welcher unter dem Einfluss einer sehr „blanden" Diät, welche ihm mit Rücksicht auf die Diagnose „chronischer Magenkatarrh" vorgeschrieben war, in seinem Ernährungszustand soweit heruntergekommen war, dass man wirklich an ein ernsteres anatomisches Magenleiden zu denken genötigt war. Da indes wiederholte genauere Untersuchung keinen Anhaltspunkt dafür bot, sondern nur eine „nervöse Dyspepsie" erkennen liess, so habe ich ihm einen ziemlich unvermittelten Übergang zu einer reichlichen vegetabilen Diät angeraten. Sein Verdauungskanal erwies sich als durchaus geeignet, auch eine derbere Kost zu vertragen, während ihm zuvor selbst die leichtesten Speisen oft schwere Störungen zu verursachen pflegten. Schon nach wenigen Wochen waren nicht nur sämtliche Verdauungsbeschwerden gewichen, sondern auch der Ernährungszustand bereits wesentlich gehoben. Patient ass wieder gern und mit Genuss. Ich habe mich aber selbst des Eindrucks nicht erwehren können, dass bei diesem geistig überanstrengten, sehr erregten und durch das Krankheitsgefühl geängstigten Manne schon die Diätänderung als solche, namentlich der Übergang zu einer mehr alltäglichen Kost eine beruhigende, heilende Wirkung ausgeübt hat. Vom Standpunkte des ärztlichen Praktikers verliert, da ja die wissenschaftliche Therapie und insbesondere die Diätetik, grösstenteils auf Empirie beruht, die Heilwirkung der vegetarischen Diät nicht an Wert, wenn sie auch auf Suggestion beruht! Die Thatsache an sich ist bemerkenswert genug, um nachgeachtet zu werden.

Bei Abschätzung der wirksamen Faktoren des günstigen Einflusses vegetarischer Diät bedarf noch ein Umstand besonderer Erörterung, dessen Anteil an jenen Heilwirkungen nicht ausser Acht zu lassen, wahrscheinlich sogar nicht einmal gering zu veranschlagen ist. Ganz in Übereinstimmung mit der Gewohnheit der Vegetarier, aus ihrer Nahrung neben dem Fleische auch alle sonstigen ReizStoffe fortzulassen, ist es bei Darreichung der vegetarischen Krankendiät zweckmässig, auch die alkoholhaltigen Getränke, sowie Kaffee und andere Alkaloide fernzuhalten. Diesem Grundsatz bin auch ich selbst in den mehr als 300 Fällen gefolgt, in denen ich bisher „vegetarische Diätkuren" durchzuführen Gelegenheit hatte. Dass der Alkohol in jeglicher Form und auch das Coffein und seine Derivate Reizmittel für das Nervensystem sind, ist so allgemein feststehend, dass es keiner weiteren Begründung dieser Thatsache bedarf. Diese Reizwirkung auf das Nervensystem bleibt bei dem Gesunden zumeist unterhalb des Grenzschwellenwertes, von dem ab pathologische Symptome in die Erscheinung treten; für das kranke Nervensystem aber, so vor allem z. B. für das labile Nervengleichgewicht des Neurasthenikers, sind schon erheblich kleinere Dosen, als der Gesunde mehr oder minder schadlos erträgt, meist von schwerem Nachteil für das Allgemeinbefinden und schädigen die funktionelle Energie der Nerven noch mehr, als sie bei solchen Kranken schon ohnehin gelitten hat, oftmals gerade hauptsächlich durch den Missbrauch im Genüsse geistiger Getränke der ja, wie allgemein zugestanden wird, eine der hauptsächlichsten Quellen der Nervosität der Neuzeitmenschen ist. Mit Ausschaltung dieser Reizgifte wird den Nervenzellen Gelegenheit zur Erholung, zur Stärkung ihrer funktionellen Energie gegeben, sodass sie, wieder mit einem reichlicheren Depot von Innenkraft belebt, ihre Leistungen in gleichmässigerer, ruhigerer und dabei lebhafterer Weise ausführen können. Mit Fortfall des hemmenden Giftreizes erlangt die Nervenzelle, wenn sie ihre anatomische Integrität noch nicht eingebüsst hat, ihre normale Elastizität wieder, welche die Spannkraft eines gesunden Organismus bedingt. Die Entziehung des Alkohols ist für Neurastheniker von um so grösserer Bedeutung, als sie meistenteils in einer beim Laien verzeihlichen Selbsttäuschung ihre Beschwerden gerade durch solche lähmenden Reizmittel zu verscheuchen versuchen, oft vorübergehend auch mit Erfolg Nur hinterlässt die gewaltsame stärkere Erregung und Anspannung der Nervenzellen zumeist eine allmählich immer stärker werdende Erschlaffung, sodass gerade vor dieser homöopathischen Behandlung nicht ernsthaft genug gewarnt werden kann. Gegen diesen gefährlichen Selbstbetrug, den man gerade bei den intelligentesten Patienten am häufigsten findet, giebt es kein radikaleres Mittel, als die vollständige Abstinenz von derartigen Reizmitteln, die nur dann auf Schwierigkeiten zu stossen pflegt, wenn bereits eine allzulange und starke Angewöhnung vorangegangen ist. Der Durchschnittsneurastheniker pflegt das Verbot von Alkohol und Kaffee nicht allzu schmerzhaft zu empfinden; er gewöhnt sich vielmehr auch daran meist nach kurzer Zeit und ist hinterher dafür zuweilen oft ausserordentlich dankbar.

Wenn aus der Ernährung eines Kranken nicht nur Fleisch und Fleischbrühe ausgeschaltet werden, sondern auch alle anderen auf eine Reizwirkung verdächtigen Nahrungs- und Genussmittel wie Alkohol, Kaffee, scharfe Gewürze, starke Säuren, Käse u. dgl. m., dann hält es für den Versuch einer wissenschaftlichen Begründung recht schwer, die Wirkung der beiden Faktoren auseinander zu halten. Ich möchte die Meinung vertreten, dass sie vielfach beide in gleicher Richtung und Stärke wirksam sind, wenigstens bei den funktionellen Neurosen, bei denen es sich um eine reizbare Schwäche des Nervensystems handelt. Wenn sich mehr als ein solcher Wahrscheinlichkeitsbeweis weder für die alkoholfreie Diät noch für die fleischfreie Kost erbringen lässt, so spricht doch auch hier die praktische Erfahrung ein so beredtes und fast unantastbares Zeugnis, dass eben nur ein stets negierender Skeptiker die Wahrscheinlichkeit wird ableugnen wollen. Wohl hat man es leicht, darüber zu lächeln, wenn von einem Erfolg vegetarischer Diät bei gleichzeitiger Alkoholentziehung gesprochen wird; aber die Lacher vergessen dabei, dass eine Alkoholabstinenz ohne vegetarische Diät solche therapeutischen Erfolge nicht aufzuweisen hat. Die vegetarische Diät schliesst eben die gleichzeitige Entziehung von Alkohol, Nahrungsalkaloiden und verwandten Substanzen als einen unerlässlich zugehörigen Bestandteil dieser Ernährungsweise in sich.

Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen bedarf es nunmehr der Feststellung der speziellen Indikationen für die Anwendung der vegetarischen Diät, wobei ich mich auf diejenigen Krankheitszustände beschränken will, bei denen bisher von wissenschaftlichen Ärzten beglaubigte Wirkungen vorliegen. Da beginne ich mit dem grossen Felde der funktionellen Nervenkrankheiten. Das ist gerade das Gebiet, auf dem sich hauptsächlich die zahlreichen Kurpfuscher, die in „Vegetarismus machen", diätetisch tummeln. Dahin gehört in erster Reihe die allgemeine Neurasthenie in ihrer proteusartigen Erscheinungsform, vor allen Dingen auch in ihrem Übergang und in ihrer Kombination mit der Hysterie. Über die Diät bei diesen Erkrankungen findet sich meist in den Lehrbüchern und Sonderabhandlungen sehr wenig, oder es werden nur sehr indifferente Verordnungen gegeben, welche bestimmter Prinzipien vollständig entbehren. Vielfach freilich ist zum Teil gerade eine Diät üblich, welche der vegetarischen schroff gegenüber steht. Man glaubt die Kranken möglichst reich ernähren zu müssen und hält deshalb eine tüchtige Portion Fleisch für besonders geeignet. Manche Ärzte bevorzugen das weisse Fleisch. Wenn wir auch über die Ursachen und das Wesen der Neurasthenie und der Hysterie bisher nur sehr wenig wissen, so kann doch soviel als feststehend erachtet werden, dass sie keine Krankheiten der Ernährung sind, am allerwenigsten Folgen einer Unterernährung; tritt diese dabei ein, so hat sie nur eine sekundäre Bedeutung. Der Fehler in der Ernährung, welcher zur Neurasthenie führt, kann, wenn dieser Faktor überhaupt in Betracht kommt, kein quantitativer, sondern höchstens ein qualitativer sein. Die Art der Ernährung aber, welche wir bei solchen Neurasthenikern in ihrem Vorleben finden, ist fast durchgehends eine einseitige in der Richtung einer übermässigen Bevorzugung der Fleisch- und Eiweissnahrung überhaupt. Schon die Beschränkung dieses Übermaasses pflegt vielfach wohlthuend zu wirken. In vorgeschrittenen Fällen aber leistet das vollständige Fleischverbot weitaus die besten Dienste, wenn dabei in anderer Weise für eine dem Körpergewicht des Patienten entsprechend ausreichende Nahrungsmenge gesorgt ist. Namhafte Nervenärzte älterer und neuerer Zeit machen deshalb von vegetarischen Diätkuren bei Neurasthenie und ihren stammverwandten Krankheiten reichlichen Gebrauch; wie es scheint sind die Freunde einer derartigen „Nervendiätetik" sogar in ständigem Zunehmen begriffen.

Reiche Erfahrungen habe ich selbst hauptsächlich auf dem Gebiete der nervösen Magen- und Darmkrankheiten zu sammeln Gelegenheit gehabt, die ja in der Grosstadt nicht nur unter der reichen und luxuriös lebenden, sondern auch unter der armen Bevölkerung in immer stärkerem Masse hervortreten. Dujardin-Beaumetz war einer der ersten, welche auf diesem Gebiete günstige Erfolge beobachtet und mitgeteilt hat, nach ihm in Deutschland hauptsächlich v. Sohlern. Das Krankheitsbild dieser nervösen Verdauungsstörungen ist ja ein sehr vielgestaltiges. Ich möchte nach meinen Erfahrungen folgende Gruppen unterscheiden: 1. das nervöse Aufstossen von Luft und anderen Gasen, 2. das nervöse Erbrechen, besonders am frühen Morgen, das man einerseits bei Säufern selbst der gebildeten Stände häufig findet, andererseits aber auch auffallend oft bei bleichsüchtigen und in der Entwicklung begriffenen jungen Mädchen und bei Hysterischen; 3. die nervöse Übersäuerung des Magens mit dem lästigen Symptom des sauren Aufstossens (Sodbrennen); 4. der nervöse Magensaftfluss mit intermittierendem sauren Aufstossen und saurem Erbrechen, oft gepaart mit heftigen krampfartigen Schmerzen in der Magengegend; 5. die sog. Neurasthenia gastrica, eine allgemeine Sensibilitätsneurose des Magens mit einem sehr mannigfachen, auch bei ein und demselben Kranken häufig wechselnden Symptomencomplex, dessen einzelne Erscheinungen sehr bizarr sind und sich oft scheinbar unvereinbar gegenüberstehen; 6. die „Dyspepsia nervosa" (Leube), ein scharf umschriebenes Krankheitsbild, dessen Annahme ich im Gegensatz zu einer vielfach üblich gewordenen Complaisance auf diejenigen Fälle beschränkt wissen möchte, bei denen Verdauungsstörungen irgend welcher Art sich nur im Anschluss an die Nahrungsaufnahme (also z. B. nicht bei Nacht oder auf nüchternem Magen) einstellen. Schliesslich gehört 7. auch noch hierher die sog. Atonie oder Magenwandschwäche, als Folge der Erschlaffung der motorischen Magennerven, welche meist nur eine Teilerscheinung allgemeiner nervöser Schwäche und Gewebserschlaffung ist.

Alle die letztgenannten Magenkrankheiten haben das gemeinsam, dass ihnen keine anatomische Läsion als Ursache zu Grunde liegt, — gerade darum darf man bei ihnen einer vielfach herrschenden Scheu zum Trotz meist ohne jeden Schaden sogar die grobe vegetarische Kost verordnen! — sondern es sind lediglich Störungen der verschiedenen nervösen Funktionen, die wir in motorische, sekretorische und sensible einteilen. Die anatomische Integrität der Magenschleimhaut ist die Voraussetzung für die Anwendung einer solch' derben Nahrung, welche leicht Belästigungen, Erosionen, Schwellungszustände u. dgl. hervorzurufen imstande ist. Auf der anderen Seite lässt aber eine so veränderte Diät den gewohnten Nervenreiz, der durch die bisherige Nahrungsaufnahme ausgeübt wurde, zur Ruhe kommen und lenkt ihn in andere Bahnen. Einer genaueren Analyse ist die günstige Wirkung der vegetarischen bezw. laktovegetabilen Diät bei den genannten nervösen Magenaffektionen bislang allerdings im grossen und ganzen noch nicht zugänglich. Man weiss, dass nervöse Verdauungsstörungen bei jeder beliebigen Diät heilen. Da es nur darauf ankommt, die abnorme Erregung der Magennerven zu beseitigen bezw. die bereits durch den Reiz erschöpften und erschlafften Nerven wieder stärker anzuregen, so kommt es vielfach nur auf eine entschiedene Änderung der Ernährungsweise überhaupt an! Dazu erscheint aber die vegetabile Diät aus den verschiedenen oben wiederholt dargelegten Gründen besonders geeignet, und zwar in der Kombination mit der Milch um so mehr, als diese letztere seit alters her als ein vorzügliches Nahrungsmittel bei neurasthenischen Zuständen gilt.

Dennoch ist bei einigen der oben genannten nervösen Magenerkrankungen noch eine specielle Hypothese über die Wirksamkeit gegeben. In erster Reihe haben sich in den letzten Jahren die Stimmen derjenigen überraschend gehäuft, welche der laktovegetabilen Diät das Wort geredet haben bei der nervösen Übersäuerung, die man früher und auch noch jetzt vielfach mit einer ausschliesslichen Fleisch-Eiweissdiät zu behandeln gewohnt ist. In der That leistet die letztere die rationelle Indikation, den Säureüberschuss im Magen zu binden; aber sie regt auch die Salzsäureabsonderung stets stärker an, als es Kohlehydrate thun. Nach sicheren neueren Untersuchungen und Beobachtungen von Fleiner, v. Sohlern, Jürgensen, Bachmann u. a., vermag auch eine pflanzliche Kost im gleichen Maasse die Säure im Magensaft zu binden, wenn sie in zweckmässiger Weise verabreicht wird. Das gilt vor allem von den Cerealien in fein aufgeschlossener Form, gut gekocht und in Breiform gebracht, während die groben Kohlehydrate, Gurken, Salate, Rettich u. dgl. natürlich immer ausgeschlossen bleiben müssen. Ebenso wichtig, als die Säurebindung ist in der Behandlung dieser Krankheit aber auch die Verhütung der Säurebildung und auch in dieser Hinsicht wirken pflanzliche Nahrungsmittel durchaus nicht schädlich, wenn nur in ihrer Verabreichung der einen Bedingung Genüge geleistet ist, dass sie in immer nur kleinen Portionen in gut aufgeschlossener und küchengemäss zubereiteter Form dargeboten werden! So gebührt hier z. B. dem feinen Weissbrot der Vorzug vor den groben Schrotbrotarten, eben weil sie das feinere, besser verteilbare und aufsaugbare Mehl enthalten. Haferschleim, Quäker Oats, Oatmeal, Milchreis, Reisbrei, Griesbrei, Mondaminspeisen, Suppen mit feingekochtem Reis, Sago, Tapioca, Maccaroni, Porridge, leichte Flammri- und Puddingspeisen, Omelette soufflée u. dgl. m. stellen sehr zweckmässige Formen der Darreichung vegetabilischer Nahrung für solche Krankheitsfälle dar. Es kommt bei der diätetischen Therapie dieser Krankheit neben der Art der Nahrung noch sehr wesentlich auf die Methode ihrer Darreichung an: häufige kleine Portionen eines möglichst wenig umfangreichen aber konzentrierten Nährgemisches.

Dieser Grundsatz ist noch viel energischer bei der Magenatonie zur Geltung zu bringen, um vor allem der Aufgabe zu genügen, der geschwächten Magenmuskulatur mit jeder einzigen Portion der Nahrungszufuhr nur eine möglichst geringe Arbeitslast aufzubürden. Um so leichter vermag der geschwächte Magen seinen Inhalt in den Darm weiterzubefördern. Dieser Aufgabe wird er weit eher Herr, konzentrierten Suppen und breiförmigen Gerichten gegenüber, als fester Fleischnahrung mit all ihren zähen Beimischungen. Hier leistet eine laktovegetabile Diät in der Art der Zubereitung und Darreichung, wie ich sie nun schon mehrfach geschildert habe — ich halte es für notwendig, das letztere Moment immer zu wiederholen, um den Missverständnissen vorzubeugen, denen meine früheren Ausführungen über diesen Punkt leider mehrfach begegnet sind — einer in gleicher Weise zubereiteten Fleisch-Eiweissdiät durchaus ebenbürtiges. Ich kann mich hier auf eine sehr grosse Erfahrung berufen. Man kann nach dieser Methode sogar mehrwöchentliche sehr energische Mastkuren durchführen, die ja bei Magenatonie so oft deshalb indiziert sind, weil eben dieser Krankheitszustand meist nur eine Teilerscheinung allgemeiner Gewebserschlaffung und Unterernährung ist. Bei dem Widerwillen, den gerade nervöse Kranke so oft gegen Fleischspeisen haben, ist eine derartige Mastkur oft gewiss recht erwünscht; sie gestattet, dem Kranken namentlich in den späteren Wochen der Kur eine grössere Menge von Gemüsen und Obst in Brei- resp. Musform zuzuführen, welche bei der Anämie dieser Kranken den Gehalt an Eisen und anderen Mineralsalzen im Blut zu erhöhen bezw. zu verbessern geeignet sind.

Was von den nervösen Magenaffektionen gesagt ist, gilt fast ohne Änderung von den nervösen Darmerkrankungen, deren man heute auch bereits verschiedene Gruppen unterscheidet, ohne auch hier eine streng wissenschaftliche Klassifikation geben zu können. Vielfach werden hier noch Worte gebraucht, wo es an exakten Begriffen fehlt. Die nervöse Darmdyspepsie, die nervöse Schleimkolik, der Darmkrampf, die spastische Verstopfung, die nervöse Diarrhöe: das sind einige der Typen nervöser Darmerkrankungen, die man in der Praxis am häufigsten zu beobachten Gelegenheit hat. Auch hier ruft mit einer gründlichen Änderung der gesamten Lebensweise auch eine beliebige Veränderung der Ernährung oft eine Heilwirkung hervor, und auch hier erweist sich unter der Auswahl der verschiedenen möglichen Diätformen die vegetarische als eine der zweckmässigsten. Für die spastische Verstopfung und die Schleimkolik bestehen in Bezug hierauf kaum noch Differenzen unter den massgebenden und erfahrenen Autoren zur Zeit. Am auffälligsten könnte die Empfehlung der vegetarischen Diät bei nervöser Diarrhöe erscheinen. In der That sind hier grosse Vorsicht und strenge Individualisierung bei dem Versuch der Durchführung einer derartigen Kur notwendig. Sie ist mit dicken Suppen von möglichst konzentriertem Nährwert (Zusatz von Roborat, Hygiama oder irgend welchen dextrinierten Mehlen, Butter und Zucker!) und Breigerichten aus den verschiedensten Körnerfrüchten zu beginnen. Milch ist in der Regel gestattet, weil sie bei der Mehrzahl der Menschen zu stopfen pflegt. Späterhin kann man dann auch zu den Gemüsen in feiner Puréeform und gezuckertem Obstmus getrost übergehen.

Allgemein anerkannt ist der Heilwert der vegetarischen Diät beider chronischen Stuhlverstopfung, wobei im allgemeinen die auf Atonie, d. h. Muskelschwäche der Darmwand beruhende Form der Obstipation gemeint ist. Über die Faktoren der Heilwirkung, die hier in Betracht kommen, ist im Kapitel „Physiologie" genug gesagt, sodass ich es nicht für nötig halte, hier noch eine Lanze für diese diätetische Therapie einzulegen. Es sei nur noch einmal erwähnt, dass hier sogar die derbe, teilweise rohe vegetarische Kost am Platze ist.

Im Anschluss an die nervösen Erkrankungen des Verdauungsapparates seien als Indikationen für die vegetarische Diät hier zunächst weiterhin die anatomischen Erkrankungen des Magendarmtraktus, besonders die katarrhalischen Affektionen desselben erwähnt. Die grobe vegetarische Kost verbietet sich hier natürlich von selbst. Aber die laktovegetabile Diät in feinster Breiform findet hier eine zweckmässige Verwertung, welche ich als den bemerkenswertesten diätetischen Fortschritt, welchen die moderne Therapie aufzuweisen hat, bezeichnen möchte. Freilich liegen bisher nur schüchterne Versuche weniger Autoren vor. Sie werden deshalb nicht unternommen, weil sich bei vielen mit dem Begriff der an und für sich schon meist verpönten vegetarischen Diät immer noch die Vorstellung einer derben, groben Kost verknüpft, welche bei katarrhalischen Affektionen des Verdauungskanal (mit Recht) streng verboten erscheint. Die vegetabile Diät, von der hier die Rede ist, der Mehrzahl der Arzte noch wenig vertraut, ist sowohl vom Standpunkt der Physiologie wie der Pathologie der Ernährung aus ganz anders zu beurteilen! Die aus Cerealien, Leguminosen, Gemüsen u. s. w. bereiteten dünnen, fein verteilten Breigerichte reizen die Schleimhäute nicht mehr oder sogar weniger als Fleischspeisen und verwandte Gerichte. Sie regen die Sekretion der Verdauungssäfte nicht sonderlich an und lösen auch keine starken peristaltischen Bewegungen der Muskulatur aus. Ihr Nährwert ist nicht zu unterschätzen, da ihr Nährstoff, auch das Eiweiss, durch die Art der Zubereitung weit besser ausgenutzt wird als bei den gewöhnlichen Nahrungsmitteln dieser Art, ja genau so gut ausgewertet wird als das animalische Eiweiss und Fett. Zudem kann gerade solch küchengemäss sorgfältig bearbeiteten Gerichten ein beliebiger nahrhafter Zusatz, vor allem von feinem Mehl, Butter, Zucker u. dgl. gegeben werden. Eine ausreichende Ernährung, wie sie ein Kranker braucht, ist also durchaus möglich. Demnach sind grundsätzliche Bedenken gegen eine solche Diät auch bei anatomischen Erkrankungen des Verdauungskanals nicht einzuwenden, wenn sie therapeutischen Zwecken gerecht zu werden vermag.

Dafür liegen allerdings bisher nur wenige Belege vor. Es ermangelt einstweilen noch an strikten Indikationen für dieses modifizierte diätetische Regimen auf diesem Gebiete der Pathologie. Aus eigener reicher Erfahrung kann ich die Aussage anderer bestätigen, dass diese Diät auch von Mägen und Därmen ohne Nachteil vertragen werden, welche eine erschlaffte, gedehnte Muskulatur haben oder mehr oder minder katarrhalisch affiziert sind. Dujardin-Beaumetz, ein Meister in der Krankenküche, empfiehlt die brei-förmige vegetarische Diät aufs angelegentlichste bei chronischer Diarrhöe, sowie bei einer Anzahl anatomischer Magenerkrankungen: bei akutem und chronischem Katarrh und sogar bei Magenerweiterung, und selbst bei frischem offenen Magengeschwür wird, namentlich wenn die ersten stürmischen Krankheitserscheinungen vorübergegangen sind, eine solche Diät schadlos ertragen (Rosenheim). Man hat dabei immer noch darauf zu achten, dass die einzelnen Nahrungsportionen möglichst klein gewählt werden, um jede Belästigung der erkrankten Schleimhäute zu verhüten und der Magenmuskulatur die Fortschaffung des Mageninhalts möglichst zu erleichtern. Schon vor längerer Zeit (Deutsche mediz. Wochenschr. 1900, Nr. 11) habe ich darauf hingewiesen, dass man in der diätetischen Behandlung der Magenerweiterung von den Vegetabilien in der Form fein verteilter Breie sehr erfolgreichen Gebrauch machen kann. Bei Atonie und Gastroptose ist deren Verwendung noch viel weniger eingeschränkt. Ich habe daher auch oft bei der Durchführung von Mastkuren bei Kranken mit Gastroptose, Enteroptose u. dgl. von der Anwendung so zubereiteter vegetabilischer Nahrung sehr ausgiebigen und nutzbringenden Gebrauch gemacht — eine sehr willkommene Bereicherung des bei sonst bei Mastkuren leicht eintönig werdenden Diätzettels.

Gehen wir nunmehr zu der Fortsetzung der Besprechung der Indikationen bei Erkrankungen des Nervensystems über, so sind den oben besprochenen funktionellen Neurosen als nahe verwandt die Neuralgien zu betrachten, die demgemäss hier am zweckmässigsten angeschlossen werden. Bei dieser scharf charakterisierten Form von Nervenschmerzen sind von verschiedenen Autoren, unter denen in erster Reihe Haig in London und der Leipziger Kliniker F. A. Hoffmann zu nennen sind, günstige Erfolge berichtet worden, insbesondere bei der Ischias und den Neuralgien der Gichtiker und der Tabiker. Eine Erklärung für die Wirkung der vegetarischen Diät bei diesen Neuralgien zu geben, ist um so schwieriger, als wir über die Ursachen derselben selbst bisher nur mangelhaft unterrichtet sind. Sicher feststehend ist allerdings, dass ein Teil dieser Neuralgien die Folge des Reizes abnormer Stoffwechselprodukte auf jene Nerven ist. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Ischias der Diabetiker. Es ist dementsprechend auch hier nicht die Möglichkeit von der Hand zu weisen, dass eine grundlegende Veränderung der Ernährungsweise einen derartigen Wechsel in der chemischen Zusammensetzung des Blutes und der Säfte hervorruft, dass der bisher vorhandene Reiz gemildert wird und ganz in Fortfall kommt Sicherer aber ist der Erklärungsversuch der Heilung dieser Neuralgien durch diätetische Massnahmen bei jenen Formen, welche mit Magendarmkrankheiten, insbesondere der chronischen Obstipation in ätiologischem Zusammenhang stehen. Hier wirkt die Kost durch Beseitigung der Kotstauung, welche auf reflektorischem oder toxischem Wege jene Nervenkrämpfe auslöst. Bei Herzneurosen hat Rumpf günstige Erfolge von vegetarischer Diät gesehen, auch bei nervösem Asthma hat diese Ernährung zuweilen anscheinend Hülfe gebracht.

Erfahrene Praktiker wissen auch viel davon zu berichten, dass Kopfschmerzen, hypochondrische Verstimmungen und andere nervöse oder selbst psychische Störungen durch Regelung des Stuhlgangs oft schnell beseitigt werden, für welchen Zweck sich eben die vegetarische Kost als das förderlichste Mittel erweist.

Mehrfach finden sich in der Litteratur, auch in der neueren, Berichte über günstige Beeinflussung der Epilepsie durch vegetarische Diät, nämlich in Bezug auf die Häufigkeit des zeitlichen Auftretens und die Art des Ablaufs der einzelnen Anfälle. Ziegelroth will sogar Heilung dadurch erzielt haben. Wenn letzteres auch nicht glaubhaft ist, so erscheint doch die Möglichkeit, dass die ersteren Beobachtungen richtig sind, nicht ausgeschlossen. Bei der Epilepsie spielen nach dem Urteil vieler neuerer Autoren (Alt, Fleury, Krainsky u.a.) Stoffwechselstörungen (Autointoxikationen) eine mittelbare oder unmittelbare Rolle von nicht geringem Umfange, die durch grundlegende Veränderungen der Ernährung wohl beeinflussbar erscheinen. Ob dieser Faktor nicht auch einen Anteil an der günstigen Wirkung der chlorarmen (laktovegetabilen) Diät hat, welche auf Grund der Empfehlungen von Toulouse und Richet, Balint, Schäfer u. a. neuerdings vielfach in der Behandlung der Epilepsie verwendet wird, muss einstweilen noch dahingestellt bleiben.

Wenn wir von den Erkrankungen des Nervensystems zu den exklusiven Stoffwechselanomalien übergehen, so ist die vegetarische Diät bei den drei Hauptvertretern derselben, der Gicht, der Fettleibigkeit und der Zuckerharnruhr bereits vielfach erprobt und bewährt gefunden worden. Am wenigsten umstritten ist diese Heilwirkung gegenwärtig der Gicht gegenüber, und zwar, weil die modernen wissenschaftlichen Anschauungen über Wesen und Entstehung der Gicht gerade zu solchen diätetischen Vorschlägen geführt haben, welche sich in der Hauptsache mit der vegetarischen Diät decken. Vor allem handelt es sich hier eben auch um die Vermeidung des Fleisches, welches durch seinen Nucleinreichtum die Harnsäurebildung und Anhäufung derselben im Körper zu begünstigen ausserordentlich geeignet ist. Es giebt allerdings auch pflanzliche Nahrungsmittel, welche ihres Nucleingehalts wegen dieselbe Gefahr bedingen, wie z. B. Kaffee, Thee, u. dgl. m. Aber die gewöhnliche Pflanzenkost pflegt davon wenig oder gar nichts zu enthalten. Es ist andererseits durch wiederholte Untersuchung festgestellt, dass rein vegetarische Nahrung die Harnsäureausscheidung im Harn, also auch ihre Bildung im Körper herabdrückt (Horbaczewsky u. a., cfr. auch neuerdings Berding, Berl. klin. Wochenschr. 1902, Nr. 26). Die Bildung der Harnsäure erfährt bei vegetabilischer Kost deshalb eine Einschränkung, weil, wie mehrfach festgestellt worden ist, nach der Aufnahme pflanzlicher Nahrungsmittel die Verdauungsleukocytose und der Zerfall der Leukocyten, aus denen sich Xanthin und die verwandten chemischen Körper bilden, geringer sind als nach animalischer Nahrung. So lässt sich denn nach dem gegenwärtigen Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis die vegetarische Diät bei der Gicht anscheinend sogar exakt begründen! Die Milch kann für solche Kranke als ein ganz unschädliches Getränk gelten, weil sie keine Nucleine, sondern nur die verwandten Paranucleine enthält, aus denen keine Harnsäure gebildet wird.

In ganz anderer Weise erklärt sich die von verschiedenen wissenschaftlichen Autoren, wie F. A. Hoffmann, Kolisch u. a. empfohlene vegetarische Diät als Heilmittel gegen die Fettleibigkeit, Hier wird der physiologische Nachteil dieser Kostform als Vorteil für die Krankenernährung ausgenutzt: nämlich das ausserordentlich grosse Volumen der pflanzlichen Nahrungsmittel, von denen ein grosser Teil unaufgeschlossen, nicht resorbiert den Darmkanal verlässt, namentlich, wenn sie in nicht küchengemässer Zubereitung gereicht werden. Durch diesen Ballast wird das Sättigungsgefühl der Fettleibigen schnell befriedigt, ohne dass ihnen ein erheblicher Teil an Nahrungsstoffen zugeführt wird. Die Kranken essen, aber sie verdauen nur teilweise. „Les herbes alimentaires combattent le sentiment de vacuité et favorisent la régularité des selles", sagt der berühmte französische Kliniker Bouchardat sehr treffend. Da der Fettleibige infolgedessen seinen Kalorienbedarf nicht befriedigt, so zehrt er von seinem eigenen Körper, er schmelzt vor allem das ausserordentlich labile Fettgewebe ein und magert infolgedessen ab. Diese diätetische Behandlung der Fettleibigkeit hat aber keine allgemeine Anerkennung und Einführung gefunden, und zwar aus verschiedenen berechtigten Gründen, welche den Wert einer solchen Diätkur als einen zweifelhaften oder wenigstens nur in einem kleinen Teil der Fälle sicheren erscheinen lassen. Es ist von vornherein immer schon sehr bedenklich, bei einer Entfettungskur der quantitativen Nahrungsaufnahme keine Schranken zu setzen, weil dadurch geradezu die Gefahr der Überernährung bei Fettleibigen unterhalten wird, welche ja erfahrungsgemäss oft gern essen und vielfach dadurch sogar erst zu ihrer Fettsucht gekommen sind. Eine Unterernährung, wie sie jede Entfettungskur zur Voraussetzung hat, ist auch bei vegetarischer Diät nur dann zu erreichen, wenn man damit auch allemal eine quantitative Einschränkung der Nahrungszufuhr verbindet. Das ist um so notwendiger, als manche pflanzlichen Nahrungsmittel, z. B. Hülsenfrüchte in Breiform, relativ so gut ausgenutzt werden, dass von einem erheblichen Verlust an Nahrungsstoffen dabei nicht die Rede sein kann. Solchen Kranken müssen vielmehr Gemüse, Salate und Obst recht reichlich gegeben werden, die viel unverdauliche Schlacken bilden. Öfters stösst die Einseitigkeit der groben vegetarischen Kost gerade bei Fettleibigen mit ihrem lebhaften und oft wechselnden Appetit in der Praxis auf grosse Schwierigkeiten. Bei eigenen Versuchen habe ich in wenigen Fällen wenn auch nur vorübergehende Erfolge mit der vegetarischen Kost bei Fettleibigkeit erzielen können, wie das ja auch bei anderen Entfettungskuren leider oft nicht anders ist. Immerhin verdient in hartnäckigen Fällen auch die vegetarische Diät stets einen Versuch-Die Anwendung vegetarischer Kost beim Diabetes könnte von vornherein als widersinnig erscheinen, weil solchen Kranken ja in erster Reihe gerade die zuckerbildenden Kohlehydrate aus der Nahrung ferngehalten werden müssen. Doch kommen für eine vegetarische Diät dieser Kranken ja nicht die kohlehydratreichen Cerealien und Leguminosen in Betracht, sondern hauptsächlich die amylumarmen Gemüse und Obstarten, die Pilze u. dgl. m. Schon Bouchardat empfahl den Diabetikern den Genuss frischer grüner Pflanzennahrung angelegentlichst und betonte, dass die Schädlichkeit des Kohlehydratgehaltes derselben meist überschätzt werde. Denn ein Teil desselben sei auf Rechnung von Inulin, Inosit und Mannit zu setzen, welche für den Zuckerkranken vollkommen indifferent sind. Andererseits kann der zuckerbildende Stärkegehalt der Pflanzen durch Auskochen in reichlich Wasser sehr vermindert werden. Ja, Bouchardat hat sogar, um seinen Kranken diese Nahrung das ganze Jahr hindurch gewähren zu können, einige Wintergemüse besonders anpflanzen lassen. Bouchardat erkannte auch bereits, dass der an sich geringe Nährwert der Gemüse durch Zuthat von Öl und Fett (beim Kochen) erheblich gesteigert werden kann. Während Bouchardat diese Pflanzennahrung aber nur als sehr wertvolle Beigabe zur animalischen Kost für den Diabetiker betrachtete, haben de Renzi und Reale die reichliche Zufuhr frischer grüner Gemüse als eine unmittelbar heilende Ernährungsweise für Zuckerkranke empfohlen. Auch F. A. Hoffmann und Th. Rumpf haben der Pflanzenkost für manche Fälle von Diabetes das Wort geredet. Ferner hat v. Noorden vorgeschlagen, in die Diät der Diabetiker des öfteren „Gemüsetage" einzuschieben, freilich nur zu dem Zweck, um dadurch den zuckerüberschwemmten Organismus Gelegenheit zur Reinigung zu geben. Am nachdrücklichsten aber ist in neuester Zeit Kolisch für ein vegetarisches Regimen in der Behandlung der Zuckerkranken eingetreten und zwar von dem Gesichtspunkt aus, dem Diabetiker eine Kostzusammensetzung zu geben, welche bei einem Minimum von Kalorien und einem Minimum von Eiweiss ihn noch ausreichend zu ernähren vermag. Kolisch hält nämlich jedes Übermaass in der Nahrung der Diabetiker für schädlich, weil es zur vermehrten Zuckerausscheidung reizt. Die voluminöse vegetarische Kost trägt nun dem gesteigerten Appetit der Zuckerkranken Rechnung, aber wegen ihrer schlechten Ausnutzbarkeit gelangt nur ein so geringer Teil der Nahrungsmittel zur Resorption und Assimilation, dass sie den zuckerbildenden Zellen des diabetischen Organismus gegenüber fast reizlos ist.

Die Befriedigung des Hungergefühls des Diabetikers ist in der That ein wichtiges Motiv, die vegetarische Kost hier rationell erscheinen zu lassen. Dennoch möchte ich von einer allgemeinen Anwendung derselben bei Zuckerkranken abraten, weil hinsichtlich der Deckung des unbedingt nötigen Kalorienbedarfs des Körpers die Ernährung des Diabetikers dann immer auf des Messers Schneide schweben würde. Bei der notwendigen quantitativen Beschränkung gerade der nahrhaftesten Kohlehydrate (Körner- und Hülsenfrüchte) könnte der Diabetiker leicht in einen Zustand der Unterernährung geraten, der gerade für ihn besonders gefährlich ist. Die vegetarische Diät beim Diabetes scheitert daran, dass sie dort nach Lage der Dinge keine vegetarische im vollen Umfang sein kann! Dennoch ist es zweckmässig, dem Gemüse und Obst einen möglichst breiten Raum in der Diät des Zuckerkranken zu geben, um ihn dadurch vor der schädlichen Aufnahme übergrosser eiweisshaltiger Nahrungsmengen, namentlich Fleisch, zu bewahren.

An die Stoffwechselkrankheiten möchte ich die Erwähnung der Basedow'schen Krankheit anschliessen, die ja nach neuerer wissenschaftlicher Anschauung eine thyreogene Autointoxikation darstellt, infolge deren nicht zersetzte intermediäre Stoffwechselprodukte in den Kreislauf gelangen und ihre Giftwirkung auf die verschiedensten Gewebe des Körpers geltend machen. Hier haben insbesondere v. Ziemssen und wiederum Rumpf günstige Erfolge von vegetarischer Diät gesehen, die sich wohl auch hier auf eine Linderung des auf dem Nervensystem lastenden Reizes zurückführen lässt. Strueh in Chicago will auch bei Myxödem dadurch Heilung (?) erzielt haben.

Bei der Bleichsucht (Chlorose) habe ich selbst mehrfach von vegetarischen Diätkuren sehr wesentliche und schnelle Besserung des Allgemeinbefindens beobachtet. Auch Winternitz und Strasser haben sie hier bewährt gefunden. Besonders grünes Gemüse und frisches Obst sind empfehlenswert, zumal sie die meist bestehenden Stuhlbeschwerden der Kranken leicht beseitigen.

Ein sehr beliebter Tummelplatz, auf dem die Kurpfuscher mit vegetarischer Diät Erfolge zu erringen versuchen, sind die Nierenkrankheiten. Wenn hier der Erfolg in sehr vielen Fällen sicherlich auch nur ein scheinbarer ist, der durch den zeit weisen spontanen Stillstand der chronischen Nephritis vorgetäuscht wird, so ist doch ganz gewiss öfters die vorübergehende Besserung auf diesen diätetischen Einfluss zurückzuführen. Denn die reizlose und eiweissarme Pflanzenkost schont die Nieren, d. h. speziell die leicht verletzbaren Epithelien der Harnkanälchen und beschränkt durch die Verminderung des Eiweissverlustes den Parenchymzerfall dieser Organe. Dujardin-Beaumetz, einer der hervorragendsten Kliniker Frankreichs, hat der vegetarischen Diät gerade bei Nierenkrankheiten am lebhaftesten das Wort geredet. Die gegenwärtig herrschenden diätetischen Grundsätze in der Behandlung von Nierenkrankheiten, insbesondere der akuten Nephritis, z. B. der Scharlachnephritis, liegen auch gar nicht so weit ab von den Wegen einer vegetarischen Diät. Die Empfehlung einer reizlosen Milchkost beruht im Grunde genommen auf demselben Grundgedanken, und die von alters her bewährte Bevorzugung des an Fleischbasen ärmeren weissen Fleisches, welche allerdings in neuester Zeit von v. Noorden und seinen Schülern als unberechtigt lebhaft bestritten wird, hat zahlreiche Erfolge in der ärztlichen Praxis der Behandlung der Nierenentzündungen aufzuweisen. Eine umfassendere, sorgfältige Prüfung des Wertes der vegetarischen Diät bei den verschiedenen Formen akuter und chronischer Nierenentzündungen verdient noch das lebhafteste Interesse der Ärzte! Die bisherigen wissenschaftlichen Erfahrungen darüber sind nur vereinzelt, aber sichere.

Schliesslich haben sich in den letzten Jahren noch die Stimmen der Autoren gemehrt, welche eine vorwiegend pflanzliche Kost bei gewissen Hautkrankheiten empfohlen haben. Man hat damit oft überraschende Erfolge bei Hautaffektionen gesehen, die jeder medikamentösen Therapie getrotzt haben. Zum grössten Teil sind das solche Hauterkrankungen, welche mit Blutanomalien, Stoffwechselstörungen und Erkrankungen des Magendarmkanals in Zusammenhang stehen. Hier sind vornehmlich folgende Erkrankungen zu nennen: Pruritus. Psoriasis, Urticaria, Furunculosis, Erythema exsudativum multiforme und nodosurn, verschiedene Formen des chronischen Ekzems u. dgl. m. Ich muss darauf verzichten, an dieser Stelle die einzelnen litterarischen Belege dafür anzuführen (vergl. Ledermann, Strasser u. a.).

Anhangsweise will ich hier noch erwähnen, dass vegetarische Diät, insbesondere der Genuss von frischem Gemüse und namentlich Obst seit alters als Heilmittel auch gegen den Skorbut empfohlen wird, sowie neuerdings gegen die ihm verwandte Barlow'sche Krankheit der Säuglinge, die sich bei zu lang andauernder ausschliesslicher Ernährung mit Milch, namentlich sterilisierter, entwickelt. Der Erfolg dieser Therapie beweist, dass sie hilft durch Zufuhr von gewissen Salzen in der Nahrung, deren Mangel die Krankheitsursache ausmacht (vergl. oben S. 140).

Wie bei jeder Therapie hat der Arzt sich auch bei dieser diätetischen Behandlung die Frage nach den Kontraindikationen vorzulegen. Dadurch unterscheidet er sich grundsätzlich von dem Kurpfuscher und Naturheilkundigen, der das Heilverfahren seiner Wahl als Panacee stets ohne Rücksicht auf hindernde Nebenumstände anwendet. Die vegetarische Diät hat aber ihre Kontraindikationen wie jede andere Diätform. Sie sind nicht sehr umfangreich, verdienen aber durchaus Beachtung. Übrigens sind sie keine absoluten, sondern nur relative, und für die Anwendung der streng vegetarischen Kost sind sie anders zu formulieren, als für die laktovegetabile Diät in der Form, wie ich ihr in den vorstehenden Auseinandersetzungen für die Krankenernährung das Wort geredet habe. Für die erstere ergiebt sich als Vorbedingung der Anwendung eine vollkommene anatomische Integrität des Verdauungstraktus. Einerseits alle Läsionen der Schleimhaut des Magens und Darms, andererseits jede stärkere Erschlaffung der Muskelwand des Magens (Atonie, Gastroptose, Gastrektasie) schliessen die Darreichung derber vegetabilischer Nahrungsmittel von vornherein aus.

Die grosse Scheu und die Abneigung vieler Ärzte gegen eine vegetarische Ernährung gründen sich zum guten Teil auf angebliche Schädlickeiten und Nebenwirkungen dieser Diätform. Da liest man in der Litteratur öfters von Verdauungsstörungen nach vegetarischer Kost, ohne dass dieselben zumeist genauer definiert zu werden pflegen. Dass sich bei dieser Ernährung, namentlich im Beginne derselben, zuweilen ein unangenehmes oder lästiges Gefühl von Volle im Magen und Leib einstellt, lässt sich nicht leugnen. Diese Erscheinungen pflegen aber bald zurückzutreten oder sich überhaupt gar nicht einzustellen bei küchengemässer Zubereitung der pflanzlichen Nahrungsmittel. Dass dadurch aber Ausdehnung des Magens, Gasentwicklung in demselben und Dyspepsien hervorgerufen werden, wie Schönstadt behauptet hat, habe ich weder selbst beobachten können, noch bei anderen auf diesem Gebiete erfahrenen Autoren beschrieben gefunden. Das könnte höchstens bei Überladung des Magens durch zu grosse Mahlzeiten zu befürchten sein. Nur eine Folgeerscheinung pflegt häufig von dem Patienten unangenehm befunden zu werden: das ist die überreiche Gasentwicklung im Darm, die sich durch Abgang übelriechender Blähungen kund zu geben pflegt. Auch hier tritt gewöhnlich eine allmähliche Angewöhnung ein, welche die Gasentwicklung immer geringer werden lässt, und zudem besitzen wir in der Anwendung von „Carminativis" ein ziemlich sicheres Gegenmittel. Ein Thee zusammengesetzt aus Kümmel, Pfefferminz, Fenchel, Anis, Muskatnuss u. dgl. pflegt die Blähungen meist schnell und wesentlich einzuschränken. Auch der Eintritt einer regelmässigeren Darmentleerung setzt ihnen oft bald ein Ende. Schliesslich müsste man ein derartiges kleines Übel, wenn es sich nicht abstellen liesse, mit in Kauf nehmen, wenn dadurch ernstere Beschwerden beseitigt würden.

Weder Blutarmut (Rumpf) noch Verkalkung der Arterien (Winkler), die von anderer Seite als schädliche Folgen vegetarischer Kost beschrieben worden sind, habe ich selbst zu beobachten Gelegenheit gehabt. Dennoch erscheint es theoretisch begründet, einem Übermass in der Zufuhr anorganischer Salze unter gewissen Umständen vorzubeugen; besonders kalkreiche Nahrungsmittel, wie z. B. Milch, Spinat, Kohlgemüse und Hülsenfrüchte, erscheinen namentlich bei Neigung zur Gefässverkalkung (bei älteren Leuten1) in grösserer Menge kontraindiziert; ebenso oxalsäurereiche Nahrungsmittel, wie Spinat, Spargel, Sauerkohl, Thee, Kakao u. dgl. bei Leuten mit Disposition zu Steinbildungen in Blase und Niere, und schliesslich ist der Genuss von grünen Vegetabilien und Obst bei starker Phosphaturie einzuschränken bezw. Verboten.

1) Hier befinde ich mich im Gegensatz zu Strasser, welcher vegetarische Diät gerade bei Arteriosklerose empfiehlt. Solche Ernährung halte ich aber bei älteren Leuten auch wegen der Gefahr der Unterernährung, die bei ihnen oft schon vorhanden ist und leicht eintritt, für sehr gewagt und deshalb verwerflich. Wenn auch Rumpf nachgewiesen hat, dass durch Zufuhr von Kali- und Natronsalzen, die ja in den Vegetabilien besonders reichlich enthalten sind, die Ausscheidung der Kalksalze durch den Harn gesteigert wird, so bezieht sich das doch nur auf die Kalksalze der Nahrung, nicht der Gefässe. — Ebensowenig vermag ich auch Strassers Empfehlung der vegetarischen Diät bei plethorösen Zuständen zuzustimmen, wie sie sich im vorgeschrittenen Lebensalter (öfters in Verbindung mit Arteriosklerosis, Fettleibigkeit, Gicht u. dgl. oder Neigung zu solchen Affektionen) entwickeln. Hier wirkt meist sicherer und unschädlicher eine einfache Nahrungsbeschränkung, die sich auch auf den Missbrauch der alkoholischen Getränke zu erstrecken hat

Als die gewichtigste Kontraindikation erscheint mir nach meinen eigenen Erfahrungen die oft geradezu überraschende individuelle Idiosynkrasie mancher Personen gegen jedwede ausschliessliche vegetarische Diät. Es sind das meist Kranke mit geringer Widerstandsfähigkeit, allgemeiner Körperschwäche, insbesondere Herzschwäche, tiefgreifenden psychischen Verstimmungen u. dgl. m., zumeist bei bestehender Unterernährung, zuweilen aber auch gerade im Gegenteil bei Fettleibigkeit. Bei solchen Personen erlebt man zuweilen nach Einleitung einer vegetarischen Diätkur Verschlimmerung der Beschwerden, Schwächezustände, Abmagerung, seelische Depressionen u. dgl. m. Mir ist es bisher nicht möglich gewesen, solche Individuen von vornherein als ungeeignet zu erkennen. Die Zulage von etwas Fleisch pflegt die Abstinenzerscheinungen übrigens meist sehr schnell wieder zu beseitigen. Bei solchen Individuen habe ich in die laktovegetabile Diät öfters zwei Fleischtage in der Woche eingeschaltet und sie dann oft 2—3 Monate lang beschwerdefrei ertragen sehen. Manche Patienten gewöhnen sich übrigens an die veränderte Ernährungsweise zuweilen so sehr, dass sie auch nach ihrer Genesung den Gemüsen und dem Obst einen viel breiteren Raum in ihrer Nahrung gewähren als früher, nur zum Vorteil einer dauernden Gesundheit.

Da in Kreisen der Laien und auch der Ärzte noch vielfach unzureichende und falsche Vorstellungen über die Art der vegetarischen Diät herrschen, so mag im Anschluss an obige Ausführungen hier zunächst eine Reihe von Gerichten namhaft aufgeführt sein, die sich in der Krankenküche verwenden lassen:

1. Suppen: Nudelsuppe, Erbsensuppe, Hafermehl-, Haferflocken-, Reis-, Gries-, Sago-, Tapiokasuppe, Mondaminsuppe, Kartoffelsuppe, Schrotmehlsuppe, Brotsuppe, Aprikosensuppe, denen man event. noch mannigfache Zuthaten, wie z. B. Äpfel und anderes Obst, hinzufügen kann. Auch mit Erbsenpuree und Zuthat anderer Gemüse können sehr schmackhafte Suppen hergestellt werden, die insgesamt nahrhafter sind als die Fleischbouillon. Der Nährwert kann durch Zusatz von Roborat, Hygiama, Nutrose und ähnlicher künstlicher Nährpräparate noch wesentlich erhöht werden. Die Suppen können auch in Milch gekocht und beliebig dick konzentriert werden.

2. Mehl-, Milch-, Kartoffelspeisen u. dgl.: Haferbrei mit Milch, Haferbrei mit gedünstetem Obst oder Honig, Äpfelreis, Reisspeise mit Himbeersaft, Mondaminspeise mit Obst, Porridge, Griesbrei mit Fruchtsaft, Perlreis mit Obst, z.B. Tomaten, Milchhirse und Milchreis event. mit Obst, Apfelsinencreme, Gries-klösse mit Backobst, gebackene Reisschnitte mit Obst, Butternudeln ohne und mit Käse u. dgl. m. Ferner Kartoffelpuffer mit Obst oder Fruchtsaft, Kartoffel-klösse u. s. w., ferner Flammeri und Pudding mit Fruchtsaucen, Chokoladenauf-lauf u. dgl. m.

3. Gemüse und Hülsenfrüchte: Spinat, grüne Bohnen, Mohrrüben mit Spargel, junger Kohlrabi, Erbsen und Mohrrüben mit Bratkartoffeln, weisse Bohnen mit Äpfel, Pilzragoût, gebratene Champignons, rote Rüben, geschmorte Tomaten oder Tomatenkotelette, Brechspargel, Linsenragoût, Schwarzwurzeln mit Schoten, grüne Erbsen-, Maronen- und Artischokenpurée.

4. Früchte, Salat und Kompott. Die bunte Flora derselben ist allgemein so wohlbekannt, dass sie nicht besonders namhaft gemacht zu werden braucht.

5. Gebäck: Königskuchen, Kapuzinertorte, Apfelreiskuchen, Schrotkuchen mit Obst, Stachelbeertorten u. dgl. m.

6. Getränke: Milch, Sahne, Kefir, Kumis, Buttermilch, dicke Milch, Citronen-, Himbeer-, Kirschlimonade, Apfel-, Johannisbeer-, Heidelbeer-, Kirschwein, Kakao, Chokolade, Malzkaffee, Thee im leichten Aufguss.

Aus der grossen Zahl der oben aufgeführten Speisen und Getränke, welche die reiche Mannigfaltigkeit und Abwechslung der vegetarischen Diät zur Genüge beweisen, wird der Arzt je nach den Indikationen des einzelnen Krankheitsfalles die geeignete Kombination zusammenstellen. So wird z. B. die diätetische Behandlung einer chronischen Stuhlverstopfung einen viel umfangreicheren Diätzettel gestatten, als eine sensible Magenneurose. Bei anatomischer Integrität des Verdauungstraktus kann die Auswahl und Zusammenstellung meist viel reichlicher und mannigfaltiger sein, als den Kranken selbst erlaubt scheint. Unter solchen Verhältnissen sehe ich z. B. durchaus keine Veranlassung, Kranken mit Herzneurosen oder Gicht oder Psoriasis u. dgl. anscheinend schwerverdauliche Speisen, wie Kartoffelpuffer, Champignons, Apfelsinencrême, Linsenragoût u. dgl. zu versagen. Hier kommt alles auf die individuelle Beurteilung des Kranken durch den behandelnden Arzt an. Ungezählte Male habe ich mit freudiger Genugthuung erlebt, dass Kranke solche Speisen gut vertrugen und schliesslich gern genossen haben, nachdem ihnen nur einmal der Mut zum Anfang eingegeben worden war. Die Scheu vor pflanzlichen Nahrungsmitteln beruht zum grössten Teil auf der noch weit verbreiteten Vorstellung, als ob bei jeder Krankheit, selbst wenn sie mit dem Verdauungskanal nichts zu thun hat, eine sog. „blande Diät" angezeigt sei — ein unbestimmter verschwommener Begriff, der meist nur Verwirrung und Schaden stiftet, insbesondere dann, wenn, wie es öfters geschieht, die Auswahl der erlaubten und verbotenen Speisen dem Kranken selbst überlassen bleibt. Gute Ärzte wissen es, dass man bei der diätetischen Behandlung einer Krankheit in der Festsetzung der Art und Menge der einzelnen Nahrungsmittel und Speisen gar nicht gründlich genug sein kann!

Zum Beweise dessen, dass sich eine vegetarische Diät auch dem Gaumen des verwöhntesten Gourmets anpassen lässt, will ich hier zum Schluss zwei ausgewählte Speisezettel wiedergeben, welche von der Table d'hôte der altbekannten Kuranstalt „Auf der Waid" bei St. Gallen, die von wissenschaftlich gut ausgebildeten Ärzten geleitet wird, stammen.

1. Sommer-Speisezettel.

1. Gemüsesuppe mit gebackenen Klössen — Blumenkohl oder Spargel mit Rahmsauce (Buttersauce) und Salzkartoffeln. — Omelette mit Salat. — Blitztorte, Aprikosen und Kirschenkompotte.

2. Linsensuppe. — Spinat mit Spiegeleiern, Bratkartoffeln und Grünkernkotelettes. — Salat. — Waffeln, Johannisbeer- und Äpfelkompotte.

3. Sauerampfersuppe. — Grüne Bohnen mit Kartoffelkroquettes und Reis.— Salat. — Blanc manger mit Himbeersauce und Birnenkompotte.

4. Eiergerste à la Julienne. — Gelbe Rüben und grüne Erbsen. — Aufgezogene oder gebackene Maccaroni. — Gefüllte Tomaten. — Kabinettpudding. — Stachelbeer- und Zwetschgenkompotte.

5. Erbsensuppe mit Sago. — Kohlraben, Kartoffeln in der Schale mit frischer Butter, Eierhaber, Salat. — Obstkuchen, Kirschen- und Johannisbeerkompotte.

6. Gerstensuppe (Graupen). — Gefüllter Kohlkopf mit Rahmsauce, Risotto und Kartoffelnudeln. — Salat. — Hefen-kuchen und gebrannte Cremesauce. — Erdbeer- und Birnenkompotte.

7. Grünkernsuppe. — Spinatpudding, Nudeln und rohgebratene Kartoffeln. — Salat. — Grahammehlbrei. — Zwetschgen- und Rhabarberkompotte.


2. Winter-Speisezettel.

1. Gemüsesuppe mit Eierklösschen. — Rosenkohl mit Kastanien und rohgebratenen Kartoffeln. — Salat. — Bisquitpudding mit Hagebuttensauce. — Kirschen- und Johannisbeerkompotte.

2. Nudelsuppe. — Linsen und Kartoffelkotelettes, Spätzeln (Mehlspeise), Salat. — Reisbrei. — Äpfel- und Heidelbeerkompotte.

3. Grünkernsuppe. — Mohrrüben mit kleinen Kartoffeln. Maccaroni mit Tomatensauce. — Apfelpudding. Eingemachte Birnen. Zwetschgenkompotte.

4. Reissuppe. — Schwarzwurzeln mit Salzkartoffeln. — Pfannkuchen und Salat. — Griesauflauf. Aprikosen und Heidelbeerkompotte.

5. Sagosuppe. — Bayerischkraut. Kastanien- und Kartoffelpüree. Ofenküchle (Windbeutel). Äpfel- und Preisselbeerkompotte.

6. Bohnensuppe. — Federkohl mit gebratenen Kartoffeln. — Eierstrauben. — Salat. — Haselnusstorte. Quitten-und Brombeerkompotte.

7. Erbsensuppe mit Reis. — Meerrettichgemüse und Bratkartoffeln. — Maccaroni. — Dampfnudeln. Äpfel- und Pfirsichkompotte.

Ähnlich vornehme Menü's hat auch Dujardin-Beaumetz als verlockende Beispiele zusammengestellt.


Schluss.

„Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen". Dies hübsche Goethe'sehe Wort habe ich einmal als Devise über einer vegetarischen Streitschrift gelesen, die den Gegnern ein Urteil über den Vegetarismus erst dann zugestehen wollte, wenn sie sich selbst einige Jahre darin praktisch probiert hätten. Man muss, so sagte der selbstgefällige Autor, in der Idee des Vegetarismus gelebt haben um sie voll und ganz verstehen zu können; ja man muss die Lust der vegetarischen Lebensweise in sich gefühlt haben, um ihren Wert begreifen zu können. Dieses Zugeständnis ist ebenso wertvoll als charakteristisch für die Beurteilung des Vegetarismus. Also nur das Gefühl kann seinen Wert schätzen lernen, nicht Vernunftsgründe. Alle Deduktionen der Vegetarier kommen immer darauf hinaus, dass der Instinkt den Menschen zur Pflanzenkost führe Mit einem auf solcher Basis aufgebauten Lehrsystem ist die Wissenschaft eigentlich von vornherein schon fertig; denn sie urteilt nicht nach Gefühl und Instinkt, sondern nach Wahrnehmungen und Thatsachen. Gefühl und Instinkt fangen immer erst da an, wo das Wissen aufhört! Je weiter man den Begriff des Vegetarismus im Sinne ihrer Anhänger fasst, umsomehr verflüchtigt sich der Versuch einer exakten Definition dieses Lehrsystems. Beschränkt man sich aber auf die rein materielle Auffassung des Vegetarismus, dann stösst man auf den lebhaftesten Widerstand der Vegetarier selbst. Dann wird der Vegetarismus zu einer reinen Magen- oder Ernährungsfrage. Da auch diese einer physiologischen Kritik, wie wir gesehen haben, nicht Stand hält, so beschränkt sich eben der Wert der Anwendung dieser Kostform meines Erachtens ausschliesslich auf die Krankenernährung! Von welchem Gesichtspunkt aus man also auch das Problem des Vegetarismus anzufassen versucht, immer wieder kommt man zu der Erkenntnis, dass die Bedeutung desselben stets erheblich überschätzt worden ist. Wenn auch kein totgeborenes, so doch ein schiefgeborenes und unentwickelt gebliebenes Kind -so möchte ich die Grundidee des Vegetarismus nach ihrer ganzen Entwicklung bezeichnen! Ein Grundsatz der Ernährungslehre, der nur unter ganz bestimmten Verhältnissen Anwendung zu finden verdient, ist ungebührlich verallgemeinert und mit einer Fülle anderer Ideen verknüpft worden, die damit eigentlich in gar keinem Zusammenhang stehen; denn Ethik, Ästhetik, Religion u. dgl. haben mit der nackten Thatsache pflanzlicher Ernährungsweise an und für sich gar nichts zu thun. Die Ideenassoziation ist eine rein künstliche, von philosophischen Müssiggängern und Weltverbesserern konstruiert. Wenn ich demgemäss — das Ergebnis meiner gesamten Auseinandersetzungen kurz zusammenfassend — die Bewegung des Vegetarismus in der sozial ethischen Bedeutung, die ihr beigelegt wird, als eine verfehlte bezeichnen muss, so darf darüber hinaus doch nicht geleugnet werden, dass dieser Bewegung ein sittlicher Ernst anhaftet und ihr eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die sittliche und hygienische Erziehung der grossen Volksmassen zukommt. Diese Bedeutung liegt viel weniger in der Ernährungsform selbst, als in den damit stets verbundenen ernsten Bestrebungen nach einer vernunftgemässen Gestaltung der gesamten Lebensweise. Zu allen Zeiten sind die Bestrebungen der Vegetarier darauf gerichtet gewesen, eine Vereinfachung der Lebensführung zu erzielen, Glück und Zufriedenheit in möglichst bescheidenen Lebensverhältnissen zu erreichen! Das haben sie zu erstreben versucht durch Fernhaltung aller der Gesundheit schädlichen und unsittlichen Lebensgewohnheiten, welche die Überkultur einer in Entartung begriffenen Menschheit von Zeit zu Zeit immer wieder hervorbringt. Es kann deshalb nicht in Abrede gestellt werden, dass der vegetarischen Bewegung eine gewisse sittliche Bedeutung zukommt, indem sie erzieherisch auf die grossen Volksmassen dadurch einwirkt, dass sie zu einer bescheidenen Lebenshaltung zurückführt. Aus diesem Grunde hat diese Bewegung auch fast niemals in den Kreisen der wohlhabenden und Begüterten erheblich Fuss zu fassen vermocht, sondern in der Hauptsache nur immer in den ärmeren und sog. niederen Kreisen der Bevölkerung, welche schon durch ihre wirtschaftliche Lage derartigen auf Vereinfachung der Lebensführung gerichteten Bestrebungen besonders geneigt gegenüberstehen. Der sittliche Wert solcher Tendenzen kann nicht bestritten werden, wenn sie von den weisesten Männern aller Zeiten und Völker, die gleichsam auf der Höhe der Menschheit stehen, als das letzte Ziel irdischen Wallens angesehen werden. Diese Bestrebungen sind auch allemal nur die Reaktion gegen die sittlichen Entartungen einerseits, die übermassige Verfeinerung der Lebensgewohnheiten andererseits, und darum braucht man derartige Tendenzbewegungen gar nicht feindlich zu bekämpfen. Man könnte die Narretei der Pflanzenkost ruhig mit in den Kauf nehmen, wenn durch das ganze Prinzip der damit verbundenen Lebensführung ein verbessernder sittlicher Einfluss auf die grossen Volksmassen ausgeübt würde, und diese gerade, die ja doch die Kulturarbeit ausführen müssen, dadurch vor der Depravation der Sitten der höheren Kreise bewahrt würden. Nun lassen sich aber derartige Bestrebungen nach Vereinfachung der Lebensbedingungen auch auf vielen anderen Wegen ohne pflanzliche Ernährung erreichen. Der „Thalysianismus", wie die Vegetarier auch zuweilen in verzeihlichem Optimismus ihre Bestrebungen nennen, d. h. die Kunst glücklich zu machen, wird auch von ungezählten Tausenden anderen Menschen angestrebt. Alle Sozialpolitiker und alle Gesetzgeber, alle ihres Amtes sich voll bewussten Fürsten und Staatenlenker haben eben dieses eine Ziel. Lassalle und Marx glaubten ebenso den Stein der Weisen gefunden zu haben, wie die modernen Agrarier mit der Vertretung ihrer Interessen auch der Allgemeinheit am besten zu dienen glauben. Viele Wege führen nach Rom und auch zu einem glücklichen und zufriedenen Leben. Der Weg über den Vegetarismus aber erscheint als einer der beschwerlichsten, unbequemsten und unnötig mühseligen. Der Vegetarier gleicht Jemandem, der täglich einen weiten anstrengenden Weg zu machen hat, aber zu Fuss geht, statt zu fahren. Wenn ihm die Mittel dazu fehlen, wird das Jedermann begreiflich finden. Sonst aber bedingt diese Gewohnheit einen unnützen Verbrauch von Körperkraft und Körperstoff, die in anderer Weise zweckmässiger Verwendung hätten finden können. Der Vegetarier muss ständig eine übermässige Menge von Heizmaterial mit auf den Weg nehmen, um den ungewöhnlich grossen Verbrauch an Stoff zu ersetzen. Für den Durchschnittsmenschen stellt eine so unrationelle und unzweckmässige Ernährungsweise nur einen Ausnahmefall dar, den er einmal in der Not oder im Krankheitszustand auf sich nimmt. Die Massigkeit in der Ernährung ist durchaus nicht an vegetarische Nahrung gebunden; auch bei Fleischnahrung und gemischter Kost kann jedermann Mässigung innehalten, wie auch Einfachheit und Bescheidenheit in seiner ganzen Lebensweise möglich ist, ohne sich an die klösterliche Resignation, die in der vegetarischen Lebensweise gelegen ist, klammern zu müssen. Das erstrebenswerte Ziel des Vegetarismus ist also auch ohne den Hauptgrundsatz desselben, die Pflanzenkost, wohl zu erreichen! Nun aber soll gerne zugestanden werden, dass jede Doktrin oft eines besonderen Reizmittels bedarf, um ihre Anhänger an sich zu fesseln. Jede Kirche hat ihre Sonderheiten, an deren unbedingter Innehaltung die Zugehörigkeit oft geradezu geknüpft ist. Die gleiche Lebensphilosophie, die der Vegetarismus vertritt, würde höchst wahrscheinlich seine Wirkung auf die grossen Volksmassen verfehlen, wenn sie nicht eben mit dem aussergewöhnlichen Grundsatz einer ganz besonderen Ernährungsweise verknüpft wäre. Die Pflanzenkost ist im Sinne einer höheren sittlichen Auffassung der Bedeutung der vegetarischen Bewegung quasi nur das Mittel zum Zweck. Wenn diese ethische Tendenz des Vegetarismus von seinen Führern und ihren Anhängern daher allgemein mit vollem Bewusstsein zur Schau getragen und durchgeführt würde, dann würde diese Bewegung als ein gar nicht unerwünschtes Mittel zur Hebung der Sittlichkeit,: wie es deren manche im öffentlichen Leben giebt, gelten können. Aber in Wirklichkeit ist diese höhere Tendenz des Vegetarismus auch kaum zu verspüren. Sie ist nur eine Phrase, mit der man in schönen Reden und eindrucksvollen Broschüren prunkt. Wenn wir also auch die Bestrebungen der Vegetarier durchaus ernst nehmen, so haben sie noch niemals bewiesen, dass sie sittlich höher stehen und bessere Lebensverhältnisse zu erzielen vermögen, als andere mit gleichen Zielen.

Zu der sittlichen und hygienischen Verbesserung der Lebenshaltung, deren sich die Vegetarier befleissigen, gehört auch die Fernhaltung des Alkoholmissbrauches, in dem die Fleischesser, wie überhaupt alle Kulturmenschen, reichlich sündigen. Die Alkoholabstinenz ist einer der anerkennenswertesten Faktoren in der vernünftigen Regelung der Lebensführung der Vegetarier. Mit dem Vegetarismus an sich aber hat sie absolut nichts zu thun. Deshalb ist es eine logische Inkonsequenz der Vegetarier, welche nur durch das Bewusstsein der Schwäche ihrer Position im öffentlichen Leben erklärlich ist, dass sie immer wieder den Versuch machen gemeinsam mit den Temperenzlern und Abstinenzlern zu marschieren oder gar sich an deren Rockschösse zu hängen. Von diesen aber sind sie fast immer sehr energisch abgeschüttelt worden, und zwar mit vollem Rechte, weil eben die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs an und für sich mit der Fleischnahrung gar nichts zu thun hat. Dass Fleischkost, und besonders ein Übermass in derselben, zum Alkoholismus in Wein- oder Bierform disponirt, kann allerdings nicht geleugnet werden; doch kann der Alkoholismus bekämpft werden, ohne gegen die Fleischnahrung Stellung zu nehmen; ja, die Führer der Bestrebungen zur Bekämpfung des Missbrauchs geistiger Getränke würden sogar einen grossen taktischen und vielleicht verhängnisvollen Fehler begehen, wenn sie die Sache der Vegetarier mit der ihrigen verknüpfen liessen. Sie würden dadurch ihren Kampf zu einem ebenso fruchtlosen machen, wie bisher die Vegetarier ihre Versuche zu einer allgemeinen Einführung der Pflanzenkost. Sofern die Vegetarier in ihren Kreisen die Anti-alkoholbestrebungen unterstützen, werden sie dadurch dieser Sache einen guten Dienst leisten. Die vegetarische Bewegung kommt ohne Zweifel der Antialkoholbewegung zugute.

Der Vegetarismus wird wahrscheinlich mit Genugthuung und Freude konstatieren, dass die Stellungnahme der Wissenschaft ihm gegenüber sich in den letzten Jahren wesentlich günstiger gestaltet hat. Es soll nicht geleugnet werden, dass das die Folge eines tieferen Eindringens der Wissenschaft in das von ihr früher zu wenig beachtete und studierte Problem ist. Die wissenschaftliche Kritik macht jetzt das unumwundene Zugeständnis, dass die vegetarische Ernährungsweise als eine physiologisch mögliche und ausreichende erwiesen ist und dass auch ihre biologische Daseinsberechtigung erhärtet ist durch den Nachweis einer damit erreichbaren gleichen körperlichen Leistungsfähigkeit. Nicht mehr aber ist bewiesen, als dass die pflanzliche Ernährung im besten Falle der gemischten Kost [ebenbürtig ist. Weit entfernt davon ist die immer wiederkehrende Behauptung der Vegetarier, dass sie ihr überlegen sei. Da sie vielmehr in vielen, zum Teil nicht unwichtigen Punkten, Nachteile hat, so erscheint sie so unzweckmässig, dass ihre Verallgemeinerung eine Thorheit wäre. Wenn man auf zwei verschiedenen Wegen das gleiche Ziel erreichen kann, wählt jeder Vernünftige den kürzeren und bequemeren. Die gemischte Kost ist für die Ernährung des gesunden Menschen nicht nur der kürzere, sondern auch der bequemere Weg. Die aus animalischen und vegetabilischen Nahrungsmitteln möglichst gleich-massig gemischte Kost ist die einzige richtige Ernährung des gesunden Menschen. Diese Erkenntnis ist uns gerade durch die Reaktionsbewegung des Vegetarismus wieder lebhaft zum Bewusstsein gebracht worden. Sie hat also auch eine gute Wirkung gehabt. Für den gesunden Menschen machen sich nur die Nachteile der vegetarischen Diät geltend. Ihre Vorteile kommen nur für den Kranken in Betracht!


Litteratur.

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39. Vegetarischer Vorwärts. Wochenschrift für allseitige Reformen auf naturgemässer Grundlage. Berlin. 7 Jahrgänge.

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42. Zahlreiche kleine Broschüren und Flugschriften, zumeist herausgegeben vom Deutschen Verein für naturgemässe Lebensweise bezw. dem Deutschen Vegetarierbund.

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