Vegetarianismus und Aesthetik.

Vortrag

auf

Der Wolkenburg in Cöln

am 7. Juni 1876

gehalten

von

Herrn Eduard Baltzer.

Auf Grund stenographischer Aufzeichnungen.

Verlag des Cölner Vegetarianer-Vereins.

Nordhausen.

In Commission bei Ferd. Förstemann.

1876.


© 2002, Internet-Version, Norbert Moch, Kleiststraße 9, 30163 Hannover, www.NorbertMoch.de, mail@NorbertMoch.de

Hochgeehrte Versammlung!

Sehr dankbar bin ich Ihnen im Voraus für Ihr Entgegenkommen und bitte Sie, auch mir noch ein wenig Geduld zu schenken. Ich werde bemüht sein, in kurzen, raschen Zügen von einem ändern Standpunkte aus denselben Gegenstand zu beleuchten*).

*} Herr Hermann Reuss aus Erlangen hatte das sehr zahlreiche Auditorium schon 1 1/4 Stunde durch einen Vortrag über „Vegetarianisinus und Socialwissenschaft" in Anspruch genommen.

Mein Vorredner hat den Vegetarianismus zu zeigen gesucht in seiner Beziehung zu unserm socialen Leben, zurückführend auf die ewigen Gesetze, die allem menschlichen Dasein und Streben, also auch dem unsrigen, zu Grunde liegen. Aus diesen entspringt, wie er gelegentlich hervorhob, auch die Ethik, das Gute im Leben. Ich beabsichtige, diese Betrachtung etwas zu ergänzen, indem ich Ihren Blick auf das Schöne lenken möchte. Das Schöne und Gute ist ja immerhin zweierlei, wenn auch seit alter Griechenzeit untrennbar verbunden und wesenseins.

Ich denke, es frommt, jede neue Erscheinung im Streben der Menschheit auf ihr Princip zu untersuchen und dies Princip in seinen verschiedenen Beziehungen zum Gesammtleben auf die Probe stellen. Haben wir Vegetarianer ein Princip, welches in seiner tiefsten Natur wahr ist, so muss es sich auch in allen Beziehungen des Lebens rechtfertigen lassen, und auf diese Probe also wollen Sie jetzt mit mir den Vegetarianismus bezüglich dessen stellen, was wir das Schöne heissen.

Was das Alterthum Pythagorismus nannte, und was wir jetzt Vegetarianismus zu nennen pflegen, es ist nichts Anderes, als der alte Grundsatz der Griechen: , das will sagen, es ist die Wissenschaft und die Kunst das menschliche Leben, seiner eigenen Natur gemäss, folgerichtig zu entfalten. Kunst nenne ich es, wenn wir die praktische Seite in's Auge fassen, die jedem Menschen zugänglich ist. Die Leistungen der Kunst sind ja zum Theil Naturgaben, und lange hatten die Menschen die Kunst geübt, ehe die Wissenschaft das theoretische Wort dafür fand. Wissenschaft aber werden wir den Vegetarianismus nennen müssen, wenn sein Inhalt zum Object eines zusammenhängenden critischen und systematischen Erkennens gemacht wird. Ich wiederhole also: Der Vegetarianismus ist uns die Wissenschaft und die Kunst des aus sich selbst, seiner eigenen Natur gemäss, sich folgerichtig entwickelnden menschlichen Lebens. —

Wenn es sich nun darum handelt, welche Verhältnisse wohl zwischen Vegetarianismus und Aesthetik bestehen, so ist der erstere Begriff der unbekanntere; Sie werden mir daher zunächst ein paar Worte über diesen gestatten. —

Wenn der Grundbegriff, den ich aussprach, der richtige ist, so wird Ihnen von selbst in die Augen springen, dass dieser Gedanke das ganze Leben, ich möchte sagen, die ganze Welt aller Lebensfelder, in die unser Dasein hineinreicht, beherrscht, überall so allmächtig influirt, wie die Notwendigkeit in den Naturgesetzen. Daher kommt es, dass der Grundgedanke des Vegetarianismus eine Central-Stellung in der Betrachtung des menschlichen Lebens einnimmt, und eigentlich sollte man erstaunt sein, dass über» diesen evidenten Begriff noch so viel Unkenntniss verbreitet ist und noch so viele entgegengesetzte Meinungen herrschen, dass dem Einen Spott und Hohn ist, was dem Ändern zur Religion werden kann.

Woher mag dies kommen, da doch das Grund-Princip eben ein solches ist, dass alle bewussten menschlichen, edlen Bestrebungen darin ihre gemeinsame Wurzel haben? Nicht im Princip, sondern in den Folgerungen liegt die Differenz. Ist aber das Princip naturächt, so muss es ohne allen Zweifel in unserm Denken und Handeln durchgeführt werden, selbst dann, wenn uns dualistische und monistische Weltanschauung zur Zeit trennen. Es läuft auf dasselbe hinaus, ob erstere die Bestimmungen der menschlichen Natur und alle nachweislich vorhandenen Naturgesetze als von Göttern vorher bestimmt ansieht, oder ob die andere sie als aus der innersten Natur des Menschen selbst hervorgewachsen erachtet. Die Naturgesetze sind da, und selbst die Orthodoxie trägt kein Bedenken, ihren Altar darauf zu bauen, wie verschieden auch die Motive der einzelnen Bekenner dabei sein mögen.

Wenden wir nun von dieser uns Allen gemeinsamen Central-Wurzel aus den Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens, so möchte ich sagen, es dient Alles in allen Feldern dazu, diesen Grundgedanken aufzuschliessen, und so auch der Vegetarianismus. Wir bauen ihn nicht auf eine überlieferte Offenbarung, nicht auf eine praktische Erfahrung einseitiger Art, denn dann würden wir mit Recht vielleicht das Urtheil hinnehmen müssen, dass er eine eigensinnige Marotte, eine „Schrulle" sei. Nein, wir sind bemüht, seine Natur-Nothwendigkeit in ihrem Zusammenhange zu erkennen und machen mit uns selbst die Probe dazu, wie jeder Theoretiker das Experiment, und wenn wir nun an uns selbst diese Probe bestehen, und das Ja und Amen der Natur deutlich vernehmen, so muss uns dies bestärken, der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht im Irrthum zu verharren, sondern weiter zu streben, ob auch die Welt uns verlache.

Wir gehen aus von dem Gegebenen, von der Natur. Und wer erforscht diese? Die Wissenschaft. Die Wissenschaft vom menschlichen Leben, die Antropologie und alle ihre Hilfswissenschaften helfen uns, so viel ich sie verstehen kann, unser Princip zu rechtfertigen. Die Anatomie zeigt, dass der Mensch weder als Carnivor, noch als Herbivor, sondern, wenigstens in der überschaubaren Periode des Erdlebens, als Frugivore seine Natur entwickelt hat und nicht ohne Schaden aus dieser seiner Selbstentwickelungsbahn heraustreten kann.

Und was die Anatomie lehrt, was von der Wissenschaft selbst im Ernste heute gar nicht mehr angefochten wird, bestätigt die Physiologie, die von den Bedingungen unseres gesunden Lebens nach Leib, Seele und Geist handelt. Prüfen Sie es nur nachhaltig an sich selbst, und Sie werden auch da Ihre Zustimmung nicht versagen können. Die Psychologie zeigt, wie sehr die freudigen und die getrübten Stimmungen und Empfindungen auf den Körper und dieser wieder auf den ihn dominirenden Geist nachhaltig einwirken, und so müssen alle Hülfswissenschaften dazu dienen, unsern Grundgedanken, als in der menschlichen Natur wesentlich gegeben, zu offenbaren und darzulegen.

Wenn also unser Princip eine centrale Stellung einnimmt, so muss es uns leicht werden, uns in allen Gesichts-Feldern des menschlichen Lebens zu verständigen. Ich aber wollte heute die Prüfung nur in einer Beziehung, nämlich hinsichtlich der Aesthetik machen.

Was ist Aesthetik? Das zu Grunde liegende griechische Zeitwort bedeutet: empfinden; es wird also Aesthetik, die Wissenschaft vom Empfinden sein, oder, da die Natur nie irrt, die Wissenschaft vom richtigen Empfinden, und zwar bezüglich des Objectes, durch welches das Empfinden in uns erregt wird. Sonach ist also Aesthetik die Wissenschaft darüber, wie der Mensch die Objecte der ihn umgebenden Welt richtig und wahr empfinden kann, oder kürzer: die Wissenschaft vom Schönen und Hässlichen.

Man sagt, über den Geschmack sei nicht zu streiten. Das ist in gewissem Sinne recht; denn wer nicht weiter schaut, als sein momentanes Gefühl reicht, der wird sich leicht mit den Ändern entzweien und sich vielleicht nie mit ihnen verstehen. Aber Sie stimmen mir gewiss alle zu, dass der tiefer Blickende die Gründe der Schönheit und Hässlichkeit muss erforschen können, also die Aesthetik eine eben so scharfe Wissenschaft ist, wie die Mathematik. Ja! Es ist erst recht zu streiten über das, was der Geschmack anerkennen darf oder nicht; und warum? weil es abhängt von Gesetzen, die der Mensch nicht willkürlich schaffen kann, die freilich vom unvollkommen entwickelten Empfinden falsch aufgenommen werden können, die aber bei weiterem Bewusstwerden dessen, wonach unsere Empfindungen sich richten müssen, als apodictische Gesetze kund werden — es würde sonst gar keine Kunst-Kritik geben.

So meine ich also, es wird sich — in flüchtiger Stunde — am Leichtesten an einigen Beispielen erkennen lassen, wie wir zu dem Schönen im Leben stehen, und ob der Vegetarianismus vielleicht das Schöne im Leben verderben oder ob er es fördern hilft. Im ersteren Falle würden wir uns gewiss Alle mit Recht davon abkehren müssen, im anderen Falle glaube ich darauf rechnen zu dürfen, dass Sie Ihr Urtheil über den Vegetarianismus wenigstens zurückhalten, bis Sie der Angelegenheit ein gründliches Studium zugewendet haben.

Also an einigen Beispielen wollen wir prüfen! Weilen wir zunächst einen Augenblick bei dem individuellen Leiben, also jeder bei sich selbst oder bei seinem Nächsten, Wie steht es da?

Gestatten Sie mir, von der tiefsten Sphäre unseres materiellen Daseins anzuheben. Mir ist gesagt worden, dass z. B. wenn man mit Negern in unmittelbare Berührung komme, uns Weisse ein eigenthümlicher Geruch jener Rasse auffällt und uns von ihnen abstösst. Eigene Erfahrungen habe ich darüber nicht, aber es mag wohl so sein. Woher, wenn es der Fall ist, mag das wohl kommen? Jedenfalls ist es eine wichtige Erscheinung und ich gebrauche sie als Ausgangspunkt für eine Betrachtung dessen, was uns Alle angeht, indem ich um Ihre besondere Nachsicht hierfür bitten muss. Ich habe mir die Mühe gegeben, so weit ich's vermochte, und habe beobachtet (nihil humani a me alienum puto), welche Dunstkreise sich um den Menschen durch seine physischen Ausscheidungen bilden, durch alle Ausscheidungen, auch durch die des Blutes, des Schweisses und des Odems. Sie werden gewiss manchmal schon die Erfahrung gemacht haben, dass diese Sie auf sehr unästhetische Weise berührt haben. Woher das? — Werden diese Ausscheidungen nicht mitbedingt werden durch die Stoffe, welche wir in uns aufnehmen ? Es wird freilich immer in der Natur Prozesse und Zustände geben, welche unser Nervensystem nicht angenehm berühren, aber es kommt darauf an, in welchem Grade. Nun, vergegenwärtigen Sie sich einmal, wenn Sie im Freien draussen, im Walde vielleicht, wenn Sie da Holzstoffe, Pflanzenstoffe in beliebigster Form, verwesen sehen und Ihre Geruchsnerven angewidert werden, so haben sie Alle bekannte, bestimmte Eindrücke. Vielleicht trifft es sich aber, dass in der Nähe die verwesende Leiche eines grossen Thieres vorhanden ist. Die Einwirkung dieses Zersetzungsprozesses wird eine noch total andere für Sie sein, als jene erste, und ich brauche nicht des Weiteren zu erörtern, wie viel unangenehmer sie ist. Denken Sie sich nun dieselben beiden Prozesse vor sich gehend in Ihrem eigenen Innern! Wird da nicht ein eben so grosser Unterschied stattfinden, so dass wir sagen müssen, es ist keineswegs gleichgültig, ob der eine oder der andere Prozess in uns vorgeht? Beobachten Sie an sich selbst, dann werden Sie mit Staunen, vielleicht auch bald mit Ekel inne werden, welch' ein gewaltiger Unterschied es ist, ob der Mensch sich von Pflanzenstoffen nährt, oder von thierischen Elementen. Diese Verschiedenheit ist so hochgradig, dass unsere, durch Hypercultur abgestumpften Nerven, dieselbe dennoch sehr bald merken, — und der Vegetarianer, wenigstens der es von Kindheit auf gewesen ist, empfängt eine viel schärfere Empfindlichkeit seiner Nerven, wie man an Caspar Hauser beobachtet hat! Der Unterschied ist so gross, dass ich glaube mit Sicherheit behaupten zu dürfen, wenn ganze Städte, wie Cöln, eine längere Zeit rein vegetarianisch lebten, wie halb desinficirt zu betrachten sein würden*).


*) Wer nur einige Zeit von Pflanzenstoffen leben will und dann ein Paar Tage, ich will gar nicht sagen von Thierleichen, sondern nur von Eiern, der wird bei genauer Beobachtung seiner Ausscheidungen den Unterschied mit Entsetzen spüren. Oder gehen Sie in eine geschlossene Menagerie, oder selbst in ein proper gehaltenes, gut ventilirtes Schlachthaus, — ich hab' es an den leipzigern probirt, — dort begegnen sie demselben Aasgeruch — denn das ist es — und der Villenbesitzer fühlt das sehr wohl, darum legt er wenigstens sein Küchenhaus seitabwärts, um den haut goût nicht immer zu riechen.

Wo ist nun die bessere Aesthetik, bei den Fruchtessern, oder bei den Thierverzehrern, bei den Lothophagen, oder bei den Sarkophagen?

Ein ander Beispiel: Der Vegetarianer raucht nicht, er schnupft nicht, er priemt nicht. Welchen Anspruch auf Aesthetik hat denn nun der Tabaksgenuss in diesen seinen drei beliebten Formen? Mit Angstschweiss und Erbrechen lernt die Jugend die Nicotinvergiftung ertragen um der Einbildung zu huldigen, es sei männlich und schön, Sclave eines Lasters zu werden. Aber wir prüfen nicht und wissen nicht, was wir thun. Bin auch leider bis in meine fünfziger Jahre ein solcher Thor gewesen, bis ich, von der Natur getrieben, zu der besseren Erkenntniss kam, ein solches Laster lieber überwinden zu lernen, und die Freude edlerer Selbstherrschaft noch in alten Tagen geniessen zu können. Beiläufig gesagt: Es gelang mir anfangs nicht, und ich musste, um nur wieder arbeiten zu können, mein eigenes Wort brechend, zur Cigarre greifen. Als ich aber Vegetarianer wurde, und alle unnatürlichen Reizmittel mit einem Schlage quittirte, war es mir in acht Tagen vollständig gleichgültig, und ich habe seitdem — nun 10 Jahre — nie wieder das Bedürfniss gehabt, zur Cigarre zu greifen. Aber, was hat das mit der Aesthetik zu thun? Ei nun! Was ist denn, ohne Vorurtheil betrachtet, ästhetischer: Die Sitte der Männerwelt, die oft zur lästigen Manie wird, oder die Sitte des schönen Geschlechts, dessen glücklicher Takt, dessen reineres und feineres Gefühl es fern gehalten von einem solchen, dem Wilden abgelauschten Laster, das sich vom Opiumrauchen nur graduell unterscheidet? Wenn Jemand noch zweifelhaft sein könnte, der versuche es doch, sich vorzustellen, ob die idealen Gestalten des Alterthums, ob die Grazien und Musen etwa schöner sind, wenn wir sie mit Cigaretten ausstatten, oder ob gar der liebliche Gott Amor dadurch angenehmer wird, dass wir ihn mit einem Priemchen oder einer Tabakspfeife schmücken? ! Sehen sie da! Es richtet sich Alles selbst!

Ein anderes Bild! Ich berührte das Fleischessen, den Tabak, und ich darf Ihnen wohl einen der gefährlichsten Teufel in kurzen Zügen vorführen, der schlimmsten einen, denn man sagt ja, der Teufel sei der Schlauste, welcher in der Gestalt des Schönen und Lieblichen kommt.

Was mag das wohl für einer sein?

Es ist der völkerverwüstende Höllengeist Alkohol, in allen seinen Gestalten. Er schmeichelt sich ein in den lieblichsten Formen, nicht blos in der Rohheit des Schnapstrinkens. Er vermählt sich im Frühling mit dem poetischen Waldmeister, mit dem Gold der Orangen und womit Alles sonst noch! Er schmeichelt unserm Gaumen, unserm Geiste, bis wir in Selbstvergessenheit uns in seine Fesseln ergeben.

Der Vegetarianer begiebt sich nicht in diese Gefahr und kommt also nicht darin um! Aber er sieht, wie dieser Götze die Menschen so oft oekonomisch ruinirt, den häuslichen Frieden zerrüttet, die Leidenschaften alle, wie Aeolos seine Stürme, loslässt, die Kraft aus den Knochen, den Geist aus dem Hirn saugt! Ja prüfen Sie mit critischem Blick alle Schichten der Bevölkerung, ob sie nicht alle durch diese Geissel tief leiden. Doch ich frage heute ja nur, wo die Schönheit des Lebens ist! Ist sie denn in der Knechtschaft unter dem Alcohol, die in Verbrechen und Delirien endet, und unsere besten Freunde in frühe Gräber stürzt, aus welchen keine Wiederkehr, — oder ist sie bei der Herrschaft über ihn, bei der vollen Freiheit von ihm, die das Leben verlängert, steigert, alle Kraft dem Geiste dienstbar macht? Noch besingt Deutschland den Rausch, Frankreich straft ihn, der Vegetarianer verachtet ihn, weil er das Hässliche ist. Hat auch ein Pindar, der alles Schöne feiert, diesem Götzen Hymnen gesungen? Sind Bacchus und Gambrinus nicht unwillkürliche Satyren auf die Dipsomanie?

Doch genug an den Beispielen vom Fleisehessen, vom Tabak, vom Alkohol; ziehen wir einmal eine Summa.

Sie werden uns zustimmen müssen, wenn wir sagen: Der Mensch, welcher dergleichen Dinge unterlässt, mit Bewusstsein und Verstand consequent unterlässt, der wird bei sonst gleichen Verhältnissen vor Allem gesunder sein. Gesunder! Aber der ganze Mensch gesunder, an Leib, Seele und Geist.

O dreifache Schönheit! Wem das Glück zu Theil wird, dieses dreifache Gut von Kind auf zu besitzen, aus den Irrungen des Lebens, die uns alle mehr oder minder bedrohen, wenigstens zurückzukehren zur Mutter-Natur, um von ihr zu lernen, was ihm noch zum wirklichen Heile dient, der wird die körperliche Gesundheit bald begreifen lernen als die Grundlage alles Schönen im Leben. Freilich muss dazu kommen die Gesundheit des Seelenlebens, des Gemüthes, die Harmonie, die in unseren Empfinden herrscht, welches an sich bewusstlos ist: das ist das „reine Herz". Kein livor edax, kein „gefrässiger Neid" zernagt es; keinen Hass kennt es, denn der Hass ist das Hässliche, und wer es besitzt, dem durchfurcht kein böser Dämon seine glatte Stirn! Ueber beiden aber steht die Geistesgesundheit, das Gesundsein im Glauben () wie es die Apostel nannten, der Rausch der Begeisterung

(), den griechische Dichter üben und preisen, die Weisheitsliebe

(), wie es der „Vater der Philosophie", unser Ahnherr Pythagoras zuerst genannt hat, diese milde Herrscherin über Leib und Seele, die mit der Schlüsselfrage „warum?" immer mehr in alle Wahrheit befreiend einführt, — sie, die Minerva, die gewappnet und siegreich durch alle Spötter und Feinde aller Zeiten schreitet und doch ihre Waffen zum Schutz nur, nicht zum Angriff auf die Personen führt! Kurz, diese dreifaltige Gesundheit ist die Schöpferin alles Schönen, ist selbst die Schönheit des individuellen Menschenlebens! In diesem Sinne darf ich gewiss auf Ihre Zustimmung rechnen, wenn ich, unser Ideal bezeichnend, mit den classischen Alten sage:




! was in unser Deutsch übersetzt, etwa sagt: Göttin der Gesundheit, du Himmlische! Mit dir blüht Alles, mit dir leuchtet der Schönheit Frühling auf, — aber ohne dich glücklich ist auch — nicht Einer!

Doch wir müssen eilen! Wir wollen einen kleinen Schritt weiter thun, vom individuellen zum socialen Leben übergehen und hier an ein Paar Beispielen dieselbe Frage prüfen.

Paul von Lilienfeld hat den sehr treffenden Vergleich aufgestellt, das individuelle Leben sei eine Zelle nur im Organismus der Menschheit, und wie die wirkliche Zelle sich zum individuellen Organismus verhalte, so wir alle also zum socialen Körper.

Die erste sociale Gruppe solcher Zellen aber, die überall von selbst entstand, was ist es? Es ist das Haus, der Tempel des Familienthums.

O welch' ein heilig schönes Wort; das Haus, die Häuslichkeit, die Familie! Und wenn die Alten ihre Götter hereinzogen, Laren und Penaten aufstellten, um durch diese Symbole und Ideen geleitet, das Heiligthum der Häuslichkeit zu schützen, hatten sie nicht da von Natur den Instinct dessen, was das Christenthum allen Menschen zuruft mit den Worten: Wisset Ihr nicht, dass Ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes in Euch wohnet ? Und so sollen und können wir uns als Zellen zu einander gruppiren, und die Mutter-Natur sorgt, dass es von Haus aus so geschehe. —

Warum, frage ich, warum ist nicht überall auf der himmlischen Erde diese Schönheit des Familienthums zu finden? Warum ist, was man in den besten Tagen seines Lebens geträumt, nicht überall dauernd zu Hause? Ja, wenn Menschen, die nicht „nach der Natur leben", die selbst vielleicht schon zerrüttete Naturen ererbten, diese Zerrüttung vielleicht durch Hingabe an neue Leidenschaften mehrten, was ist zu hoffen, wenn sie Familien gründen? Kann auch aus kranken Zellen ein gesunder Organismus entstehen? Wem ist unbekannt, wie gute und böse Eigenschaften sich vererben, wie besonders Gemüths- und Geisteskrankheiten, laut Zeugniss der Statistik, in erschreckender Weise sich mehren und fortvererben? Wohinaus soll das, wenn wir fortfahren in der Hast und Jagd des heutigen unnatürlichen Lebens? Geehrte Anwesende! Der Vegetarianismus ist keine „Schrulle", — sondern der tief ernste Versuch der Rettung aus den schwersten individuellen und socialen Gefahren durch Rückkehr zur Einfachheit und Schönheit der Natur, denn wo sie gesunde Stärke mit gesunder Milde paart, wo sie Zelle um Zelle gesunde Familienthümer bauet, ja, da blühet das Haus und drinnen leuchtet auch der Grazien Frühling!

Nehmen wir als Sinnbild dessen den „häuslichen Heerd". Den Alten war der Heerd im Hause auch der Altar! Das würde nach unsern heutigen Begriffen etwa heissen: Das Haus, im Sinne des Familienthums aufgebaut, ist der wirkliche Tempel, die Altar-Stätte, für deren Schutz, wir ja hinaus in den Kampf ziehen. Warum denn aber nicht auch mitten im Frieden ihn schirmen? Warum sollen nicht je 2 oder 3, die unter einem Dache wohnen, sich dieser schönen Eintracht freuen? Warum dort nicht alle Friedensgeister walten? Ist es nöthig, dass wir dazu alle Gelehrte werden, oder die Schätze der Welt erjagen mit unserer heutigen Hast? Ist es nicht dem schlichtesten Menschenherzen gegeben, das ehrlich und rein empfindet und denkt, sich solch einen Tempel zu bauen?! — Sind nicht vielleicht die einfacheren Stätten wo schlichte gute Menschen wohnen, die glücklicheren im Gegensatz zu denjenigen, wo die heut zu Tage so hoch gepriesene Cultur zu Hause ist?

Ich werfe nur die Frage auf: wie steht es mit der Aesthetik, wo ist die beste Aesthetik? Wo solch Hausthum, solch Familienthum in Ruinen liegt, wo auf dem Heerd das Feuer der Zwietracht brennt, oder wo Sie das Gegentheilige sehen??!!

Nun, Gott sei Dank! Der Mensch mag so oder so sich nähren, er kann durch die Macht seines Geistes, durch einen gewissen Heroismus das Rechte zu Stande bringen; aber Sie werden mir doch Recht geben müssen, dass gerade die alkoholischen Geister und alle die anderen Dinge, gegen die der Vegetarianismus bewusst kämpft, es sind, welche die Zwietracht und die Leidenschaften entzünden, unser Familienleben zerrütten und selbst die edelsten Menschen allmälig herabreissen in Verderbniss tausendfältiger Art!

Wird also nicht der Vegetarianer mit seinen Principien, unter sonst gleichen Umständen, der Glücklichere in Beziehung auf die Familie werden? Und wenn er der Glücklichere ist, und bessere Erfolge erzielt, wird er es nicht sein, der für das Schöne im Leben am Meisten gesorgt hat?

O helfen Sie die „blutige Küche" mit ihren barbarischen Sitten wieder zum Hausaltare weihen; es würde ja schon jetzt Viele, müssten sie selber täglich die Thiere tödten, deren Leichen sie verzehren helfen, trotz der Macht der Gewohnheit ein geheimes Grauen durchrieseln, ihre Küche ihnen wie eine Mörderhöhle vorkommen, wie Jesu jener Tempel, darin man der Gottheit Opfer schlachtete!! Nicht der Gewinn an Geld, an Zeit, an Gesundheit, nein, schon das unmittelbare Gefühl für das Schönere würde der Ariadnefaden sein, der sie aus dem Labyrinth hundertfältiger Irrgänge leitete: Jubelnde, unverdorbenere Kinder, freier gewordene Hausfrauen, unabhängigere Männer, würden den Weg des „neuen Lebens" einschlagen, reinere Jünglinge „Treu und Glauben" halten, neue Vestalinnen das heilige Feuer des häuslichen Heerdes schüren, der dem blutlosen Dienste der Ceres in moderner Weise geweihet, noch einmal die Bahn bräche zu menschenwürdigerer Weltgesittung. So war es einst, als aus einer übrigens hochgebildeten Welt — die aufgegrabenen Ruinen Babylons bezeugen es — Zoroasters religiöse Reform die blutigen Altäre vom Erdboden wegfegte und die Schönheit milderer Sitten erblühen liess. Gedenken Sie auch der biblischen Propheten, welche im Namen Gottes riefen: „Was soll mir der Kälber und der Böcke Blut? Ich will den Koth Eurer Feiertage Euch in's Angesicht werfen." Nüchtern, und ohne Spur von Fanatismus ziehen wir Vegetarianer den parallelen Schluss und sagen: Was soll dem Menschen die Sarkophagie? Nur die Frugalität ist human und schön.

So viel vom „Hause", von der rechten Hausverwaltung oder Oekonomie! Doch dies Wort führt uns ja in weitere sociale Verhältnisse, in Garten, Feld und Wald — in die Landwirthschaft. Wie steht es da mit unsern vegetarianischen Principien? Wo ist die bessere Aesthetik, bei der herkömmlichen, oder bei der veget. Landwirthschaft? Ein Beispiel mög' es zeigen.

Ein Oekonom, der durchaus nicht Vegetarianer war, sondern der sich durch die Notwendigkeit getrieben fühlte, auf thatsächlich vegetarianische Spuren einzulenken, — ein Oekonom kaufte ein Rittergut in der Lausitz, wirthschaftete wie seine Vorgänger und wirtschaftete rückwärts. Da fängt er an nachzudenken, prüft nach allen Seiten und mit Energie; nimmt Freunde zu Hülfe, Kenner der Naturwissenschaften, und er findet bald, dass in der Oekonomie Vieles anders werden könne und müsse. Er muss manches Lehrgeld zahlen, aber nach Jahren hat er reiche Erfahrungen gemacht, und da entsteht eine ganz andere, eine vegetarianische Wirthschaft, ohne es zu beabsichtigen. — Er schafft die Schlachtviehwirthsehaft ab, ohne die — schon des Düngers wegen — der herkömmliche Oekonom nicht bestehen zu können wähnt, — und nachdem er die Erfahrung auf seinem Gute gemacht, dass die Natur überall Mittel und Wege an die Hand giebt, das Wünschenswerthe herbeizuschaffen, wenn nur das Richtige erst erkannt und benutzt wird, kauft er ein zweites Gut in der Nähe von Berlin, so viel ich weiss, ein grosses Gut des reinsten märkischen Sandes, und nach denselben Principien wirthschaftet er nun da! Wie er dahingezogen ist und die Leute sahen, was er vornahm, die Brauerei oder Brennerei niederreisst, da er mit diesen dämonischen Geistern nichts zu thun haben will, — das Vieh verkauft, die Ställe niederlegt, an Stelle des Misthofes Bosquets anlegt, u. s. w., da sagen die Leute: Er muss wohl den Spleen haben.

So ähnlich gestaltet sich — in kurzen Zügen angedeutet — die Entwickelung dieses Grundbildes.

Stechau in der Lausitz, Lichtenberg bei Berlin, Herr Röder der Grundbesitzer, da haben Sie die Namen!

Die Lichtenberger haben eine Zeit lang gespottet, wie ja auch über uns Vegetarianer vernünftige Menschen eine Zeit lang spotteten, weil sie nicht recht begreifen konnten, was wir wollen. Wenn sie uns aber länger beobachten und besser sehen lernen, was das „nach der Natur leben" eigentlich sagen will, da werden selbst die in Traditionen alter Schulen befangenen Aerzte aufmerksam und lernen noch mancherlei! — So haben die Lichtenberger das Spotten längst vergessen, und mit Staunen sehen sie, dass in den Sandfeldern herrliche Erndten gedeihen. Ein persönlicher Freund von mir ist hingegangen und hat da gelernt, wie man eine Oekonomie vegetarianisch einrichtet. Herr Adler hat sich nun selbst ein Gut gekauft, um es nach ähnlichen Principien zu bewirthschaften. Wollen Sie des Näheren wissen, wie das geschieht? Lesen Sie Herrn Röders Schrift über Stechau und Lichtenberg*)!

*) Dieselbe kann von ihm selbst bezogen werden; Preis 1 Mark 50 Pf.

Sie sehen, wie hier die Natur dem nachdenkenden Menschen von selbst einen Wirkungskreis schafft, welcher, dem Ganzen eingefügt, einen Theil der vegetarianischen Entwickelung des menschlichen Lebens bildet; da hinein passen unsere vegetarianischen Grundsätze vollkommen, wie denn Herr Röder selbst unser Freund und Genösse geworden, dem wir sehr zu Dank verpflichtet sind, denn sein Vorgehen zeigt, dass, wie der Medicin, so auch der Landwirthschaft von innen heraus eine Wiedergeburt bevorsteht, die längst und unwillkürlich sich vorbereitet. — Wo, meine Freunde, ist nun aber die ästhetischere Landwirthschaft? Ist sie da, wo die Qualen der Viehmästung — doch ich will es nicht weiter ausführen — die Lust zur Sache einem edel empfindenden Menschen verleiden kann, — oder da, wo wir all' dieses Widrigen überhoben sind, wo wir die Thiere nur noch aufziehen, um sie als dienende Freunde des Menschen zu betrachten, nicht aber, um sie zu schlachten und zu verzehren? —

Wir könnten solche Bilder aus immer weiteren socialen Kreisen in Menge vorführen. Ich könnte Sie fühlen lassen, wie die Koketten die lieblichen Sänger des Waldes lieber todt auf ihren Häuptern tragen, als in der Natur beobachten, wie der Gourmand die Leipziger Lerchen lieber in seinen Leib begräbt, statt sie in Lüften ihre Lieder singen zu hören, und wie der gierige Italiener sein schönes Land von den Singvögeln fast entvölkert hat. Ich könnte Sie, dem Geschmack der Gartenlaube folgend, triumphirend einführen in das Schlachthaus New-Yorks, — uns Vegetarianern eine Abscheu erregende Mördergrube, den Carnivoren eine Euodie — ein süsser Opferduft — wie einst in Jerusalems Tempel der Bauchdampf des verbrannten Fleisches eine Euodie dem Jehova galt. Doch Sie sehen schon aus dem Bisherigen, dass in socialen Kreisen dieselbe Erscheinung zu Tage tritt, wie in denen des individuellen Lebens, dass nämlich die Principien des Vegetarianismus, folgerichtig entwickelt, des Lebens Schönheit nothwendig erhöhen. —

Die Zeit drängt. So darf ich wohl schliessen mit einem Blick auf die Kunst. Alle ästhetischen Interessen fassen wir ja in ihr zusammen.

Wie steht es in der Kunst? Gilt es etwa eine besondere vegetarianische Kunst, wie diejenigen vermuthen könnten, die uns für eine „Secte" halten? O nein! Ich habe bereits hervorgehoben: das Princip ist Eins, in dem wir Alle stehen, und von diesem Princip aus, haben wir nur die rechten Consequenzen zu ziehen und eventuell die richtigeren Corrective einzuführen! Wie stehts nun um die Kunst?

Der alte Cicero sagt einmal, dass die Werke der Natur schöner sind, als die Werke der Kunst*) und ich glaube, jeder Künstler erkennt das an, denn jeder sieht in der Mutter-Natur die Meisterin aller Meisterschaft.

*) Meliora sunt ea, quae natura dat, quam ea, quae arte perfecta sunt. Cic. de nat. Deor. 2, 84.

Warum aber ? Ich denke mir zunächst wohl darum, weil in der Natur im Grunde Alles wirklich lebt; Alles ist, so subjectiv unsere Auffassung sein mag, ja, so sehr das „Ding an sich" uns unergründet bleiben mag, es ist doch kein blosser Schein, es ist Realität, lebendige Wirklichkeit, Alles ein Theil jener ewigen Wesenheit, deren Selbstoffenbarung das ewige Leben des Universums ist, Idee und Form in Eins. Darum ist ein lebendes Kind schöner als ein gemaltes, darum muss Rafael seine Madonnenideale in der lebenden Menschenwelt suchen und aus gleichem Grunde sagt Winkelmann (Geschichte der Kunst des Alterthums I, 260) „die höchste Schönheit ist in Gott", denn Gott ist ihm, was einem Spinoza die natura naturans ist, das Ewiglebendige in der wandelvollen Form. In der Natur giebts daher auch keine Unmöglichkeiten — nur in den Werken schlechter Meister existiren sie, und da nennen wir sie — Fehler.

Der zweite Grund für Ciceros Behauptung ist aber, glaube ich, der, dass in der Natur immer der rechte Zusammenhang stattfindet, nichts isolirt ist. Aber der Mensch ist theils genöthigt, theils verführt, allerlei Dinge aus der Natur herauszureissen und sie für sich allein als ein in sich verbundenes Ganze hinzustellen, als eine vollkommene Schönheit, wie er meint. In dieser Beziehung finden wir eine ganze Reihe von Fehlern, denen sich der Künstler hingibt, wenn er kein vollkommener Künstler ist, Fehler, die wir Ändern eben auch nicht sehen, wenn wir unsern Geschmack nicht recht gebildet haben. Darum ist eine lebende Buche im Walde schöner, als alle Schirmerschen Buchenbilder und ein Reh, das über die Wiese jagt, schöner als alle, die ein neuer Apelles uns malen könnte.

Weit entfernt, die Kunst damit herabzusetzen, stellen wir vielmehr ihre Aufgabe so ideal, dass sie ewig ideal bleiben wird und ihre wahren Jünger nicht in den Copisten einzelner Naturerscheinungen, sondern in den freien Darstellern der Ideen der Natur in dem schönen Formenschein gesucht und gefunden werden*).

*) Das ist der Sinn von Senecas Wort: Omnès ars imitatio naturae est. ep. 64, 13.

Mithin ist bei jedem Kunstwerk die Idee das Erste, die Form das Zweite; dem Genius verschmilzt Beides in Eins, darin liegt die Meisterschaft auf allen Kunstgebieten. Ideenlosigkeit und Formlosigkeit sind die Scylla und Charybdis, zwischen denen hindurch der Kunstjünger sich in die Freiheit der Meisterschaft zu retten hat und wohin wir Ändern ihm durch Bildung unseres Geschmacks zu folgen haben.

In Bezug nun auf technische Formvollendung kommt der Vegetarianismus mit der heutigen Kunstkritik, seinen Principien zufolge, nicht in Conflict. Ich übergehe diesen Punkt also. Dagegen tritt er bezüglich des ideal Schönen mit dem herrschenden Kunstgeschmack in ebensoviel Conflicte, als im wirklichen Leben. Einige Beispiele mögen es zeigen.

Die Ideenlosigkeit nannte ich Summa möglicher oder wirklicher Fehlgriffe bezüglich des schönen Inhalts eines Kunstwerks.

Eine absolute Ideenlosigkeit giebt es nun in der Kunst eigentlich nicht. Das Einzige, was ihr nahe kommt, ist die Arabeske, sei es in den zeichnenden, musikalischen oder sonstigen Künsten. Sie sehen aber: Arabesken an sich existiren in der Natur nicht, nur der Mensch kann sie als rein formale „Schönheit" versuchen. Die Natur hat Arabesken die Fülle, aber nur als Formen eines realen Inhalts, eines Theils der Weltidee. In den Wolkengebilden des Himmels, in der Morphologie der Pflanzenwelt, in der Phänomonologie des Geistes, welche schmückende Formenfülle! Kommt aber ein Virtuos, der etwa mit himmelstürmenden Capriolen auf seinem Instrument — technische Vollendung immer vorausgesetzt — uns in Erstaunen setzt, so ist das gewiss nicht schön, im correctea Sinne des Wortes. Er zeigt uns sein Instrument, er zeigt seine Talente, er zeigt aber nicht das Schöne, gerade wie ein Geck, der in seinen Bewegungen, Aeusserungen, Kleidern etc., alle Schnörkel der Eitelkeit und der Modesucht und darin eben nur sich, seine Leerheit an Ideen zeigt, aber nicht den schönen Menschen. Ein Berg von Arabesken, ohne ideellen Gehalt, wird niemals schön. Wenn aber Kaulbach die Ideen der Menschheitsgeschichte in seinen grossen Kulturbildern (im Treppenhaus des Berliner Museums) mit seiner Arabeskenfülle umgiebt, in der Humor und Satyre, dem Ganzen trefflich dienend, schalkhaft spielen, da ist Alles in bester ästhetischer Ordnung! So ist ja auch im Leben selbst alle liebliche Sitte, liebliche Rede, freundliches Mienenspiel u. s. w., die schöne Arabeske, die das tägliche Sein schmückend durchranken mag. Aber schon die Ueberladung, welche die Hauptsache mehr verhüllen, als schmücken würde, würde fehlerhaft werden. Die vollendete Schönheit ist einfach, wie der Wahrheit Wort, und unser Altmeister Pythagoras, Meister auch in der musikalischen Kunst, wenn er die Lyra preist und das Tymbanon verbannt, machte nur einen Unterschied, wie er heute, wenn ich nicht irre, etwa zwischen classischer Musik und Zukunftsmusik empfunden wird.

Doch zurück zu einfacheren Dingen! Die Ideenlosigkeit in der Kunst ist meist nur eine relative, indem man sich beim Suchen des Schönen vergreift. Das Beispiel möge es zeigen.

Gehen wir in Gedanken durch eine Bilder-Ausstellung, wie sie dem Volke zu dessen Bildung zuweilen vorgeführt wird. Was sehen wir da nicht Alles? ! Ich erinnere mich, ein Bild gesehen zu haben, technisch vorzüglich ausgeführt; es war ein richtig präparirter Eberkopf, auf der Schüssel gemalt. Was sehen Sie da? Er ist für den Gourmand gemalt, um seine Speicheldrüsen zu reizen, — weiter hat es keinen Zweck; er passt als Aushängeschild an eine Garküche, aber nicht in den Tempel der Kunst, denn als Kunstwerk wird er ewig geschmacklos sein, denn es fehlt ihm die Idee! Eine Idee hat Etwas wenigstens vom Ewigen in sich und wir fühlen uns durch die Schönheit erhoben. Denken Sie sich denselben Eberkopf correct in Stein gehauen, etwa aus dem steinernen Walde Ihres Domdachs schauen, so ist er, künstlerisch genommen, am Platz und Alles in aesthetischer Ordnung.

Ich erinnere mich, auf einer Ausstellung in Nordhausen, ein kleines Bild gesehen zu haben: Ein Paar Krammetsvögel in der Schlinge todt da hängend, — vortrefflich gemalt; es erregte allgemeine Bewunderung. War das Bild schön? Im vollendeten Sinne schön? Gewiss nicht, denn es war keine Idee da, die uns hätte fesseln können, nur die Technik war zu bewundern. Fragt mau nach der Idee? Hinter dem Bilde sehen wir nur den Menschen, der Katzen gleich die armen Vögel beschleicht und sie auf diese grässliche Weise ermordet. Zu welchem Zweck? Nun, zu dem bekannten des Gaumencultus. Denken Sie sich dieselben gemalten Vögel etwa an den Gürtel eines Indianers, mit gleich technischer Vollendung hergestellt; dann werden wir sagen: Das ist schön. Fragen wir nach der Idee, so finden wir etwas ganz Anderes, das sich etwa so aussprechen lässt: Hier sehen wir den Menschen, wie er war und noch ist, auf seiner tieferen Culturstufe; wie er aber auf höherer Culturstufe — nicht mehr ist!

Das sind so kleinere Bilder, und es giebt deren die Hülle und Fülle in viel stärkeren Formen. — Ich habe auf Ausstellungen Bilder gesehen von Fleischerläden, schön gemalt; die geschlachteten Schweine aufgeschnitten und aufgehängt; das Blut rinnt noch, zum Zeichen der Frische. Vortreffliche Technik; aber hatte der Maler dieser Schweinsleichen wohl eine Idee vom Schönen? Mir fiel dabei nur das Bild eines Fleischladens der Anziguen aus Huxley's schönem Buch „die Stellung des Menschen in der Natur" ein, wo die Körpertheile eines Menschen als Schlachtwerk zum Kauf ausliegen. Ich sagte mir: Das ist kein Kunstwerk! Wie Apollonius von Tyana einst, eingeladen in einen entweiheten Herculestempel einzutreten, kopfschüttelnd vorüberging und sagte:
! Das ist kein Heiligthum!

Ich erinnere mich, auf unserer Ausstellung einmal zwei mächtige Bilder gesehen zu haben, das eine stellte Hirsche dar, von Wölfen überfallen und zerrissen; das andere eine Eberjagd, mit einer Meute Hunde, Jäger, kurz: eine richtige Hetzjagd, vortrefflich ausgeführt, lebendigste Dramatik! Die Bilder zogen die Aufmerksamkeit aller Beschauer an.

Ich habe mir damals das Vergnügen gestattet, einige Artikel in unsere Zeitung zu schreiben und habe darin gesagt, dass die Bilder bewunderungswürdig in der Technik, aber doch keine schönen Bilder seien. Ich wies nach, in dem ersten Bilde sei der Kern der Darstellung das Grässliche, der Moment des Zerreissens. Wären die Hirsche auf der Flucht und die Wölfe in der Verfolgung begriffen, wobei der betrachtende Mensch den befriedigenden Gedanken gewinnen könnte, dass es den Hirschen vielleicht noch gelingen werde, sich zu retten, so war wenigstens ein Punkt der Versöhnung da. Man konnte wenigstens nicht sagen: Hier ist das Grässliche um des Grässlichen willen gemalt; man hätte dann noch einen idealen Schein entdecken können. —

Das andere Bild war ein durchaus hässliches, denn es war eben jene simple Hetzjagd, die blosse Lust des Mordens, ohne dass der Mensch sich auch nur der geringsten Gefahr aussetzt, geschweige eine höhere Idee dabei hat. Es war in blendendem Schein dasselbe, was wir in anderer Gestalt öfter sehen, z, B. wenn so ein deutscher Duodezfürst mit schnell dargereichten Büchsen, von sicherem Standpunkt aus, das zugetriebene Wild dutzendweise niederschiesst, — eine wahre Metzelei, eine vollkommene Rohheit.

Ich hatte die Gelegenheit ungekannter Weise zu sehen, wie manche Beschauer der beiden Bilder, durch meine Artikel aufmerksam gemacht, gefunden, dass sie in diesem Punkte einseitig geurtheilt hatten; mir ward so die Genugthuung, das bestätigt zu finden, was ich anzudeuten versuchte: Sie vermochten das Grässliche und Hässliche nicht mehr für schön zu finden.

Gehen wir noch einen Schritt weiter! Gehen wir dahin, wo der Mensch den Menschen tödtet: Gehen wir zu unsern Schlachtenbildern! — Giebt es ein schönes Schlachtenbild? Ist ein solches möglich? Ich behaupte kühn: Nein! Ein reines Schlachtenbild, also ein Bild, wo das Massen-Massacre dargestellt ist, kann an und für sich kein schönes Bild sein, denn auch da ist nur das Grässliche und Hässliche wiedergegeben. Solche Schlachtenbilder, wenn wir sie sehen, interessiren uns desshalb stark, weil sie gewöhnlich auf neuere Ereignisse sich beziehen, oder weil besondere Motive uns dabei beschäftigen. Aber Interesse daran nehmen und für schön erklären, das ist zweierlei. Schön können wir sie höchstens erachten, wenn das Massenmorden im Hintergrunde verschwindet und wenn etwa im Vordergrunde Gruppen sind, Personen, die als Charaktere auftreten, wodurch sie Ideen repräsentiren.

Um kurz zu sein: Wenn Sie etwa das Bild der Schlacht von Torgau nehmen, als blosse Massenschlacht, so ist das Kunstwerk kein schönes Bild. Wenn Sie aber Friedrich den Grossen sehen, wie er in jener verhängnissvollen Nacht auf dem Altar einer Kirche bei einer Lampe sitzt und Befehle schreibt, so ist das auch ein Bild, das die Schlacht von Torgau uns geistig vorführt, aber es ist kein Schlachtenbild mehr, sondern ein grosses historisches Gemälde und vollkommen schön.

Genug an Beispielen! Sie können Ihnen zeigen, wie der Vegetarianer dieselben Ansprüche des Schönen, die er im täglichen Leben macht, folgerichtig auch in der Kunst erhebt: Ist doch das rechte Leben die höchste Kunst!

Und dieser Geist ist nicht von gestern her, noch unsere heutige Entdeckung. Er beherrschte und beflügelte die besten Geister aller Zeiten, mehr oder minder bewusst und klar.

Ich weiss wohl, dass uns eingewendet wird: Ihr preiset doch Alle die alten homerischen Helden, die anerkannt als schöne, poetische Gestalten glänzen und doch Carnivoren waren! Nun ja! Wir preisen sie mit; sie gehören in das ganze, grosse, schöne Zeitgemälde hinein. Wenn aber jemand sie uns vorhält, in dem Sinne uns zu sagen, dass wir umkehren und von unsern Grundsätzen lassen und das Schöne da anerkennen sollten, wo es sei, im Carnivorismus, so werden wir antworten: Ihr habt Euren Homer schlecht verstanden! Habt Ihr nie erkannt, wie der unsterbliche Sänger die Carnivoren-Junker von Ithaka in ihren rohen Freiergelagen an den ewigen Pranger gestellt und andererseits in den köstlichen Bildern der Lothophagen, Nausikaa voran, die reinen humanen Ideale gefeiert hat? ! Mögen Sie darauf hin noch einmal ihren Homer mit ändern Augen lesen, oder die Göthegepriesene Sacuntala in ihr Herz fassen, so werden wir uns besser verstehen können.

Verzeihen Sie, geehrte Freunde, wenn ich zu lange Ihre Geduld in Anspruch genommen habe. Es war mir darum zu thun, Ihnen zu zeigen, dass selbst auf Gebieten, die, wie das der Aesthetik, ganz entfernt zu liegen scheinen, die Principien des Vegetarianismus auch da durchdringen und durchschlagen, weil sie überhaupt eine centrale Stellung im Leben, in Wissenchaft, Kunst und Religion einnehmen, das gerade Gegentheil aller sectenhaften Einseitigkeit. Möchten Sie sich dessen stets erinnern und Alles im Leben darnach immer von Neuem prüfen, damit es schöner werde! Je mehr wir Alle das thun, und mit der bessern Erkenntniss den Willen der Consequenz verbinden, desto mehr werden Sie das klassische , das „nach der Natur leben" mit uns würdigen lernen, die wir, was Göthe von seinem Schiller sagte, auf den Vegetarianismus als unser Ideal anwenden und sprechen: „Weit hinter ihm, im wesenlosen Scheine liegt, was uns Alle bändigt: Das Gemeine." Und dieses Gemeine bändigen zu helfen, zu Gunsten des schönen Menschenlebens, ist individueller, socialer und künstlerischer Gewinn, und das ist es, worauf ich Ihre Blicke zu lenken mir erlaubte, in der Hoffnung, dass Sie dann etwas milder über die scheinbaren „Sonderlinge" dieser Zeit denken, die man Vegetarianer nennt.

Druck van Otto Huuehke's Buchdruckerei.